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Forschend-entwickelnder Unterricht

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Der Forschend-entwickelnde Unterricht (in geisteswissenschaftlichen Fächern oft auch als fragend-entwickelnder Unterricht oder problemorientierter Unterricht bezeichnet) ist die didaktisch bedeutsamste Form des Frontalunterrichts im naturwissenschaftlichen Schulunterricht.

Naturwissenschaftlicher Unterricht, der nach dem forschend-entwickelnden Unterrichtsverfahren durchgeführt wird, beinhaltet charakteristische Unterrichtsschritte, welche starke Parallelen zum wissenschaftlichen Erkenntnisgewinn aufweisen.

1. Einstieg (umfasst die Phänomenpräsentation u. Erschließung der zentralen Fragestellung)

2. Hypothesenbildung

3. Lösungsplanung

4. Erarbeitung

5. Ergebnissicherung

6. Vertiefung und/oder Transfer


Funktionen und Ziele:

Der forschend-entwickelnde Unterricht vermittelt den Schülern neben dem Fachwissen auch naturwissenschaftliche Denk- und Arbeitsweisen in einem sinnstiftenden Kontext und ermöglicht es die Bedeutung und Grenzen naturwissenschaftlichen Arbeitens zu reflektieren. Der forschend-entwickelnde Unterricht ermöglicht die praktische Umsetzung einer Vielzahl von didaktisch bedeutsamen Prinzipien, wie z.B. dem genetischen Lernen, der Handlungsorientierung oder dem sokratischen Dialog - Mäeutik. Durch die breite Anknüpfung an die vorunterrichtlichen Schülervorstellungen und den wiederholten Rückbezug auf Teilaspekte im Gesamtprozesse des Erkenntnisgewinns, wird das vernetzte Denken der Schüler geschult und naturwissenschaftliche Problemlösungskompetenz erworben. Da die Schüler ihre eigenen Vorstellungen in den Unterricht unmittelbar mit einbringen können und im Verlauf des Unterrichts ein hohes Maß an eigener Aktivität entwickeln, wirkt der forschend entwickelnde Unterricht stark intrinsisch motivierend. Obwohl der forschend-entwickelnde Unterricht zum Frontalunterricht gerechnet wird, kann er in einem variablen Ausmaß Gruppenarbeiten enthalten. So lassen sich häufig die Erarbeitungsphasen, aber auch die Lösungsplanung in Gruppenarbeitsformen durchführen. Bei Projektarbeiten können einzelne Gruppen entweder verschiedene Teilfragen zu einer übergeordneten Frage bearbeiten oder es werden die verschiedenen Hypothesen zu einer Frage durch einzelne Gruppen überprüft.

Varianten:

- Forschend-entwickelnder Unterricht als Projektarbeit zu einem übergeordneten Aspekt

- Konzeptwechsel


Im Folgenden wird die Bedeutung der einzelnen Unterrichtsphasen am Beispiel des Biologieunterrichts aufgezeigt, gilt aber sinngemäß für alle Naturwissenschaften. SuS = Schülerinnen und Schüler


Einstiegsphase Funktionen und Ziele:

- Konfrontation der SuS mit einem biologischen Phänomen

- Provokation einer Fragehaltung in den SuS

Methoden:

- Folien- oder Tafelpräsentation des Phänomens (Photos, schematische Darstellungen, Graphen etc.) (zeitsparend)

- Freihandexperiment

- Demonstrationsexperiment

- Schülerexperiment (zeitintensiv)

- Blackboxmethode (Eingangszustand – Blackbox – Ausgangszustand)


Hypothesenbildung Funktion und Ziele:

- Versuch der SuS durch eigene Lösungsvorschläge das Problem auf gedanklicher Ebene zu lösen

- Dabei Anknüpfung der SuS an ihre bisherigen vorunterrichtlichen Vorstellungen.

Es werden in jedem Fall alle Lösungsvorschläge mit in den Unterrichtsprozess aufgenommen, unabhängig von ihrer Richtigkeit, sofern sie nicht von den Schülern selbst plausibel begründet zurückgenommen werden. Zu diesem Zeitpunkt sind alle Lösungsvorschläge noch zu überprüfende Hypothesen = Vermutungen, so dass es keine falschen Vermutungen geben kann! („SuS dort abholen wo sie tatsächlich stehen“)

- Entwicklung von Gedankenmodellen / Theoriebildung

- Sprachliches präzisieren eigener Ideen und Konzepte

(Die SuS dazu anhalten ihre Vorschläge plausibel zu begründen und nicht in Schlagworten oder Halbsätzen zu sprechen. Der Lehrer und die Mitschüler nehmen durch ein aktives Zuhören an den vorgetragenen Ideen u. Konzepten Anteil, wodurch sich konstruktive Diskussionen u. neue Hypothesen ergeben können. siehe auch Vernetztes Denken !)


Lösungsplanung: Funktionen und Ziele:

- Die SuS entwickeln u. planen die nachfolgende Erarbeitungsphase, indem sie Vorschläge zur Überprüfung ihrer Hypothesen machen.

- Die SuS erhalten aufgrund ihrer eigenen Überlegungen einen unmittelbaren Zugang zu den naturwissenschaftlichen Arbeitsweisen (beobachten, vergleichen, experimentieren etc.) und ihrer Funktion/Bedeutung im Prozess des nat. wiss. Erkenntnisgewinns.

- Die SuS besitzen nur ein begrenztes methodisches Repertoire und können oft keine konkrete Arbeitstechnik (z. B. Chromatographie, Titration etc.) benennen, jedoch die grundlegenden Prinzipien erläutern, die in Ihrer nachfolgenden Untersuchung notwendig sind, um die von ihnen aufgestellten Hypothesen zu verifizieren/falsifizieren.

- Sprachliches präzisieren eigener Ideen und Konzepte


Erarbeitung: Funktionen und Ziele:

- Die SuS erhalten die Gelegenheit nat. wiss. Arbeitsweisen zur Überprüfung ihrer Hypothesen anzuwenden und auszuprobieren.

- Die SuS sammeln instrumentelle Erfahrungen im Umgang mit naturwiss. Arbeitsmethoden.

- Die praktische Untersuchungsarbeit ist in einen sinnstiftenden Kontext eingebunden und besitzt eine klare Zielvorgabe, die von den Schülern in den vorhergehenden Unterrichtsschritten erarbeitet wurde. Es findet kein untersuchen oder experimentieren aufs "gerate Wohl" oder "weil es der Lehrer angeordnet hat" statt. (vgl. Anweisungsunterricht)

Methoden:

- Betrachten

- Beobachten

- Vergleichen

- Experimentieren

- Auswerten von Untersuchungsrohdaten (insbesondere bei Untersuchungen oder Experimenten, die nicht unmittelbar im schulischen Unterricht durchgeführt werden können.)


Ergebnissicherung: Funktionen und Ziele:

- Sicherung der Beobachtungs- oder Untersuchungsergebnisse

- Deutung, Reflexion u. ggf. Diskussion der Beobachtungs- oder Untersuchungsergebnisse

- Verifikation/Falsifikation der Hypothesen

- Beantwortung der Ausgangsfrage


Vertiefung / Transfer: Funktionen und Ziele:

- Vergleich mit anderen Spezies

- Betrachtung der gewonnen Erkenntnisse aus einem übergeordneten Kontext

- Einordnung in Basiskonzepte (z. B. Kl. 5+6 in Niedersachsen)

- Herstellung eines Bezugs zu anderen Phänomenen

- Klärung von Detailaspekten


Die größten Schwierigkeiten beim forschend-entwickelnden Unterricht liegen in der Planungskompetenz und Gesprächsführung seitens des Lehrers.

So wählen Anfänger im Unterricht beispielsweise häufig ungeeignete Einstiege, in dem sie Phänomene auswählen in denen die SuS entweder gar kein Problem oder eine zu große Vielzahl von Problemen entdecken.

In der Gesprächsführung verfallen Anfänger immer wieder gerne in eine zu starke Lenkung, aus Sorge den vorgegebenen Unterrichtsstoff nicht in einer angemessenen Zeit zu bewältigen. Somit werden die Schüler stark darauf konditioniert danach zu suchen "...was will der Lehrer jetzt von mir hören?" (extrinsische Motivation) und nicht die Probleme, Hypothesen u. Lösungsvorschläge rein auf der Sachebene zu betrachten.(Vorraussetzung für die Entstehung echter, intrinsischer Motivation) Ebenso häufig verfallen viele Anfänger im Unterricht in das gegenteilige Extrem und öffnen die Gesprächsphasen so weit, dass die Schüler in ihren Überlegungen "vom Hundertsten ins Tausendste geraten" und schließlich keinen roten Faden mehr im Unterrichtsgeschehen erkennen. Die "Kunst der Gesprächsführung" liegt daher unter Anderem in einem aktiven Zuhören des Lehrers, wobei er die vorgetragenen Aspekte und Konzepte der Schüler aufgreift und als lenkende Impulse verwendet, so dass die oben beschriebenen Schwierigkeiten vermieden werden können.

Seitens der Schulbuchverlage werden für das forschend-entwickelnde Unterrichtsverfahren bisher keine oder nur sehr eingeschränkt nutzbare Unterrichtsmaterialien zur verfügung gestellt, die meist einer sehr starken Nachbearbeitung durch den Lehrer bedürfen. So eigenen sich beispielsweise die weit verbreiteten, rezeptartigen Experimentalsammlungen meißt nur für die prakitsche Umsetzung der Erarbeitungsphase, beinhalten jedoch bisher ausnahmslos keine sinnstiftenden Kontextinformationen vom Phänomen über die zu erwartenden Hypothesen der SuS, bishin zu einer sinnvollen Vertiefung/Transfer.

Augrund dieser und weiterere Schwierigkeiten, die jedoch prinzipiell vermeidbar sind, wird das forschend-entwickelnde Unterrichtsverfahren bisher nur relativ wenig in der alltäglichen Unterrichtspraxis angewendet, obwohl es standartmäßig in der Lehrerausbildung vermittelt wird.

Aufgrund seiner hohen wissenschaftspropädeutischen Relevanz, der Integration von vielen didaktisch bedeutsamen Prinzipien (Handlungsorientierung, genetisches Lernen, sokratischer Dialog - Mäeutik etc.), der Möglichkeit einer großen Methodenvielfalt und Vielfalt an Sozialformen, bei einer gleichzeitig guten wissenschaftlichen Absicherung des Lernerfolgs der SuS (siehe Literaturangabe), ist für die Zukunft eine Etablierung als "Standartmethode" im alltäglichen Unterricht über eine Definition von Qualitätsstandarts seitens der Kultusministerkonferenz warscheinlich.

Literatur:

Schmidkunz, H.: Das Forschend-Entwickelnde Unterrichtsverfahren, Problemlösen im Naturwissenschaftlichen Unterricht; Westarp Wissenschaften-Verlagsgesellschaft, Hohenwarsleben, 2003

Herbers, R.: Konzeption eines Spiralmodells zur Behandlung der chemischen Schadstoffe im Chemieunterricht verschiedener Jahrgangsstufen, basierend auf den Ergebnissen einer empirischen Untersuchung. Dissertation im Fachbereich Chemie, Lehrbereich Chemiedidaktik der Universität Münster, 1991