Argument der menschlichen Grenzfälle
Das Argument der menschlichen Grenzfälle (AMG) ist ein Argument in der Tierethik zum moralischen Status von Tieren. Die Vertreter des AMG behaupten, sobald Mitglieder der Gesellschaft wie Kleinkinder, Senile, Komatöse und Geisteskranke einen moralischen Status aufwiesen, Tieren dieser ebenfalls zukämen. Zur Begründung wird angeführt, daß diese menschlichen "Grenzfälle" keine Eigenschaften von moralischem Belang aufwiesen, die nicht auch bei Tieren vorkämen. Der moralische Status betrifft sowohl Rechte der Einzelnen selbst als auch Verpflichtungen, in einer bestimmten Art und Weise behandelt zu werden anderer. Eine weniger extreme Version des AMG (etwa bei Daniel Dombrowski) fordert dazu auf, Tiere aufgrund ihrer Ähnlichkeit zu Kleinkindern und geistig Schwerbehinderten ähnlich wie letztere wertzuschätzen und zu behandeln.
Demgegenüber steht der grundsätzlich der Begriff der Menschenwürde, wie sie unter anderem in zahlreichen Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts definiert ist: Die Würde des Menschen meint einen Wert- und Achtungsanspruch, der Menschen bereits allein kraft ihres Menschseins zukommt, unabhängig von seinen Eigenschaften, seinem körperlichen oder geistigen Zustand, seinen Leistungen oder sozialem Status. Die Würde des Menschen als solche geht auch über den Tod des Menschen hinaus. Ulrich H. J. Körtner argumentiert zudem mit der alleinigen Fähigkeit des Menschen zur moralischen Einsicht an sich. Damit sei eine Argumentation, die aus einem extremen Utilitarismus Eigenschaften und Fähigkeiten eines Lebewesens als Grundlage dessen Status als Person anführt, nicht vereinbar. Inwieweit nichtmenschlichen Lebewesen oder gar wie beim Unitarismus und imPantheismus der gesamten Natur ein moralischer Status zukommt und wie dieser in Abgrenzung von den menschlichen Ansprüchen abzugrenzen und zu berwerten ist, bleibt offen.
Formen des AMG
Evelyn Pluhar unterscheidet zwei Versionen des AMG:[1]
- Das bikonditionale AMG: Es sagt, der moralische Status von nichtmenschlichen Tieren und „Grenzfällen“, die sich in den relevanten Eigenschaften ähneln, sei äquivalent. Solche Tiere haben dann und nur dann Rechte, wenn die entsprechenden Menschen sie haben. Ob das der Fall ist, verbleibt offen.
- Das kategorische AMG: Es zeichnet sich dadurch aus, das Argument zur Begründung von moralischen Normen zu nutzen. Falls etwa wie in dem Beispiel nichtmenschliche Tiere wegen des Fehlens der Eigenschaft(en), im Eingangsbeispiel wegen des Fehlens von Rationalität, keine Rechte hätten, so hätten die „Grenzfälle“, also Menschen ohne Rationalität, ebenfalls keine. Diesen Sachverhalt stellen dann sie meisten VertreterInnen des Arguments in einen Widerspruch zu den Menschenrechten und begründen so die Existenz von Tierrechten, oder anderen ethischen Normen. Das Argument wird für gewöhnlich in der logischen Struktur einer Kontraposition vorgebracht und ist auch hier so dargestellt. („Tierrechte existieren nicht Menschenrechte existieren nicht“)
Kritiken
- R. G. Frey und Allan Holland bemerken, dass das Argument als solches, in Pluhars Terminologie wäre die bikonditionale Version gemeint, allein lediglich einen Widerspruch aufzeigt und sich über dessen Auflösung ausschweigt. Nicht zuletzt lasse sich die ihrer Ansicht nach inakzeptable Position der Ablehnung von Menschenrechten für „Grenzfälle“ folgern. Eine solche Auflösung wird von einigen auch verteidigt.[2] VerfechterInnen des Begriffs des Antispeziesismus sehen ihre These, dass eine Diskriminierung aufgrund von Spezieszugehörigkeit existiere und analog zur Diskriminierung aufgrund von beispielsweise Geschlecht, Religion oder Hautfarbe verlaufe dadurch bestätigt und in der Offenheit des Arguments eine Stärke.[1]
- Arthur Caplan weist darauf hin, dass ein menschlicher Grenzfall sich durch eine emotionale Beziehung zu einem nicht-Grenzfall unterscheiden kann und daraus eine ethische Erheblichkeit erwachsen kann.[3] James Lindemann Nelson weist diesen Punkt zurück. Derlei Beziehungen existieren einerseits auch für zwischen nicht-Grenzfällen und Nichtmenschen. Andererseits gäbe es auch hier wieder einen Meta-Grenzfall von Menschen, die nicht in einer solchen Beziehung zu nicht-Grenzfällen stehen stehen.[4]
- Steven F. Sapontzis beobachtet: Das AMG stellt Nichtmenschen in eine vergleichende Beziehung zu Menschen mit Behinderung und ihre Rolle in der Ethik. Das sei deshalb irreführend, weil der moralische Wert von Nichtmenschen (oder Menschen) keineswegs aus einer Ähnlichkeit erwachse, sondern aus einem Respekt für den Eigenschaften übergeordneten Tugenden, die sich beobachten ließen.[5]
- Das AMG sei unfair gegenüber Menschen mit Behinderung: Menschen die grundlegende kognitive Fähigkeiten aus irgend einem Grund verlieren seien in ihrer Persönlichkeit entstellt. Menschen die von Geburt an solche Fähigkeiten nicht haben, seien auch benachteiligt, weil sie keine „normalen Mitglieder ihrer Spezies“ werden können. Das stehe im Unterschied zu nichtmenschlichen Tieren, die diese Zugehörigkeit durchaus besitzen können. Daraus lasse sich auf eine Situation der moralischen Überlegenheit von Menschen mit Behinderung schließen. Die Antwort der TierrechtlerInnen darauf ist, dass das Argument Zirkulär sei: ( petitio principii) In dem Begriff der „Benachteiligung“ oder der „unfairness“ sei der moralische übergeordnete Wert der Menschen mit Behinderung gegenüber den Tieren bereits enthalten während gleichzeitig für diesen argumentiert wird.[1]
Quellen
- Dombrowski, Daniel. Babies and Beasts: The argument from marginal cases University of Illinois Press, 1997, ISBN 978-0252066382.
- Animal Liberation: A New Ethics for our Treatment of Animals, Peter Singer, New York Review/Random House, New York, 1975; Cape, London, 1976; Avon, New York, 1977; Paladin, London, 1977; Thorsons, London, 1983. Harper Perennial Modern Classics, New York, 2009.
- E. Anderson: Animal rights and the values of nonhuman life. In: Animal rights: Current debates and new directions. 2004, S. 277–98.
- Als Antwort darauf: DANIEL A. DOMBROWSKI: Is the Argument from Marginal Cases Obtuse? In: Journal of Applied Philosophy. 23. Jahrgang, Nr. 2, 2006, S. 223–232, doi:10.1111/j.1468-5930.2006.00334.x (doi.org [abgerufen am 15. Juli 2010]).
- Marc Bekoff: Encyclopedia of Animal Rights and Animal Welfare. 1. Auflage. Greenwood Press, 1998, ISBN 0-313-29977-3 (gov.ar [PDF]).
- Darin Artikel von James Lindemann Nelson und Evelyn Pluhar Seite 262 ff. in der verlinkten Datei und Seite 236 ff. im Druck
- Pluhar, Evelyn, Beyond Prejudice: The Moral Significance of Human and Nonhuman Animals (Durham, NC: Duke University Press, 1995)
Einzelnachweise
- ↑ a b c Nach Pluhar in Bekoff S. 264 ff. der Datei
- ↑ Frey, R. G., Vivisection, Morals, and Medicine, Journal of Medical Ethics 9 (1983) 95–104;
Als jemanden der die von Frey (et al.) inkriminierte Auflösung verteidigt, siehe Townsend, Peter, Radical Vegetarians, Austral-asian Journal of Philosophy 57(1) (1979): 85–93 und Carruthers, Peter, The Animals Issues: Moral Theory in Practice (Cambridge: Cambridge University Press, 1992); - ↑ Caplan, Arthur, Is Xenografting Morally Wrong? Transplantation Proceedings 24 (1992): 722–727
- ↑ In Beckoff S. 263 der Datei
- ↑ Sapontzis, Steven F., Are Animals Moral Beings? American Philosophical Quarterly 17 (1980): 45–52; Sapontzis, Steven F., Speciesism, Between the Species 4 (1988): 97–99.