Wahlforschung
Die Wahlforschung setzt sich mit der wissenschaftlichen Untersuchung von politischen Wahlen und dem Entstehen der Wahlentscheidungen auseinander. Der akademische Teil der Disziplin übernimmt hauptsächlich die Grundlagenforschung, stellt Theorien auf und entwickelt Methoden weiter. Die angewandte Forschung wird von kommerziellen Instituten durchgeführt, die sich dabei Methoden der Umfrageforschung bedienen. Zwischen der akademischen und kommerziellen Wahlforschung gibt es enge Verbindungen.[1] In regelmäßigen Abständen erheben die Institute die aktuelle politische Stimmung der Bevölkerung, unter anderem mit der Sonntagsfrage, und die Stimmung zu bestimmten Themen oder Personen. An den Wahltagen werden mit Exit Polls Daten für Hochrechnungen und Prognosen erhoben. Auch Nachwahlanalysen gehören in den Bereich der Wahlforschung.
Methoden
Folgende Methoden werden für Wahlforschung eingesetzt:
- Quantitative Methoden wie Befragungen von Wahlberechtigten (telefonisch, mündlich, online oder schriftlich)
- Qualitative Methoden wie Fokusgruppen, Interviews
- Netzwerkanalysen
- Hochrechnungen
- Aggregatdatenanalysen
- Schätzungen auf Basis von Modellen
Am häufigsten werden quantitative, standardisierte Befragungen verwendet, da sie Aussagen über die gesamte Wählerschaft ermöglichen. Befragt wird eine repräsentative Auswahl (sample) der Gesamtwählerschaft. Die Auswertung der Daten erfolgt mit statistischen Methoden.
- Qualitative Methoden sind für das Testen von Argumentationslinien und Kommunikationsstrategien vor einer Wahl geeignet. In Fokusgruppen kann z. B. die Akzeptanz einer Plakatlinie bzw. eines Fernsehspots überprüft werden. Fokusgruppen ermöglichen es die Kommunikationsstrategie auf Zielgruppen abzustimmen.
- Netzwerkanalysen beleuchten die Kommunikationsnetzwerke bestimmter Zielgruppen. Sie können für die Steuerung der Kommunikation bei Wahlen eingesetzt werden.
- Hochrechnungen werden an Wahlabenden erstellt und häufig von TV-Stationen in Auftrag gegeben. Sie errechnen auf der Basis bereits ausgezählter Stimmkreise das voraussichtliche Endergebnis.
- Aggregatdatenanalysen verwenden tatsächliche Wahlergebnisse, anhand derer statistische Zusammenhänge analysiert werden. Ein Beispiel für die Anwendung von Aggregatdatenanalysen ist die Wählerstromanalyse.
Wahlforschungsinstitute
Viele kommerzielle Meinungsforschungsinstitute betreiben neben der Marktforschung auch Wahlforschung. Die Auftraggeber dafür sind häufig Medien, Parteien, öffentliche Körperschaften oder Interessenvertretungen. Die ersten Institute in Deutschland waren das Institut für Demoskopie Allensbach, gegründet 1947, und das Deutsche Institut für Volksumfragen, das aus einer 1945 eingerichteten Abteilung der amerikanischen Militärverwaltung hervor ging.
Große Wahlforschungsinstitute in Deutschland (mit wichtigen Auftraggebern aus der Medienbranche):
- Institut für Demoskopie Allensbach (FAZ)
- Forschungsgruppe Wahlen (ZDF)
- Forsa (RTL, n-tv)
- Infas (WDR)
- Infratest dimap (ARD)
- TNS-Emnid (Sat.1, ProSieben, N24)
Die wissenschaftlichen Wahlforschungsinstitute liefern in der Regel eher Hintergründe über Wahltrends.
- Institut für Wahl-, Sozial- und Methodenforschung, Ulm
- ZUMA - Mannheimer Zentrum für Umfragen, Methoden und Analysen
- WZB - Wissenschaftszentrum Berlin
- Zentralarchiv für empirische Sozialforschung (ZA)
In Österreich sind vor allem folgende Forschungsinstitute mit Wahlforschung befasst:
- Department Politische Kommunikation der Donau-Universität Krems
- IFES – Institut für empirische Sozialforschung
- SORA – Institute for Social Research and Analysis (ORF)
In der Schweiz befassen sich folgende Institute mit der Wahlforschung:
International tätig sind unter anderem:
Beeinflussung durch Wahlumfragen
Wahlentscheidung und -beteiligung
In der Politikwissenschaft wird der Einfluss von Wahlumfragen sowohl auf die Wahlentscheidung, also die Entscheidung welche Partei gewählt wird, als auch auf die Wahlbeteiligung diskutiert. Von unterschiedlichen Wissenschaftlern wurden seit den 1950er Jahren Theorien formuliert, wie sich Wahlumfragen auf die Wahlentscheidung auswirken. Diese Theorien sind zum Teil widersprüchlich und konnten sich empirisch nur selten beweisen.[2]
Theorien zur Wahlbeteiligung sind die Mobilisierungshypothese (Ein Kopf-an-Kopf-Rennen in Umfragen führe zu einer höheren Wahlbeteiligung) oder die Bequemlichkeitshypothese (Wenn der Wahlausgang als eindeutig angesehen wird, sinke die Wahlbeteiligung). Vermutete Einflüsse auf die Wahlentscheidung sind zum Beispiel der Bandwagon-Effekt (Anschluss an die Mehrheitsmeinung) und der Underdog-Effekt (Anschluss an die Minderheitsmeinung). Hinzukommen Theorien zum taktischen Wählen wie der „Fallbeil“-Effekt, das „Leihstimmen“-Wählen und das Verhindern absoluter Mehrheiten.[3]
Wegen ihres vermuteten Einflusses auf den Wahlausgang ist in verschiedenen europäischen Ländern (Frankreich, Portugal, Spanien, Ungarn) die Veröffentlichung von Umfrageergebnissen ein bis zwei Wochen vor der Wahl untersagt.
In Deutschland existiert kein solches Verbot, da es mit der im Grundgesetz garantierten Informations- und Pressefreiheit nicht vereinbar wäre. Allerdings verzichten ARD und ZDF in einer freiwilligen Selbstbeschränkung eine Woche vor einer Wahl auf derartige Umfragen. [4] Die Veröffentlichung von Ergebnissen von Wählerbefragungen nach der Stimmabgabe über den Inhalt der Wahlentscheidung (Exit Polls, Wählernachfragen) ist aber auch in Deutschland vor Schließung der Wahllokale unzulässig (§ 32 Abs. 2 Bundeswahlgesetz). Ebenso wenig gibt es in Österreich kein Umfrageverbot, es dürfen vor dem Schließen der Wahllokale jedoch weder Exit Polls noch Hochrechnungen veröffentlicht werden.
Politische Entscheidungen
In der Politikwissenschaft und den Medien wird eine Einfluss der Wahl- und Politikforschung auf die politischen Endscheidungen diskutiert. Vermutet wird, dass sich die Entscheidungsträger bei einzelnen Entscheidungen weniger nach sachlichen Argumenten orientieren als nach der Mehrheitsmeinung, die sie von den Umfrageinstituten präsentiert bekommen. Die Entscheidungsträger sollen so versuchen ihre Popularität und die Wahlchancen zu steigern. Ein empirischer Nachweis für diese These liegt nicht vor.
Probleme der Wahlforschung
Im Vorfeld der Bundestagswahl 2005 bezeichnete der Philosoph Peter Sloterdijk die Demoskopie wegen ihrer Stellung in den Medien und dem Umfang der Berichterstattung als „außerparlamentarische Herrschaftsinstanz“, die eine „unlegitimierte[n] Meinungsdiktatur“ betreibe. Er forderte eine gesetzliche Beschränkung von Meinungsumfragen zu politischen Tehmen.[5]
Uneinheitliche Qualitätsanforderungen
Die kommerzielle Wahlforschung arbeitet hauptsächlich im Auftrag von Medien und Parteien. Diese Auftraggeber verfügen meist über geringere Methodenkompetenzen und Qualitätsansprüche als akademische Wahlforscher. Auch sind ihre Aufträge meist in kürzeren Fristen zu erledigen. Aufträge der akademischen Wahlforschung an die kommerziellen Institute sind seltener und meist weniger lukrativ, da sie eine intensivere Vorbereitung, höhere methodische Ansprüche und höhere Qualitätsanforderungen haben. Die Ansprüche der Wissenschaft liegen hier über denen des Tagesgeschäfts der Institute. Die in der akademischen Forschung üblichen Angaben über Erhebungszeitraum, Befragtenanzahl, Fragewortlaut etc. sind in medialen Veröffentlichungen seltener Enthalten.[6]
Fehlprognosen
Nach Ansicht von Wahlforschern kommt es vor allem dann zu deutlichen Fehlprognosen, wenn ein großer Anteil der Wähler bis kurz vor der Wahl unentschlossen ist. Ein hoher Anteil an Wechselwählern kann Prognosen zusätzlich erschweren. Weitere Fehlerquellen: strategische Überlegungen der Wähler in letzter Minute, methodische Fehler und bewusste Falschangaben der Befragten (z. B. bei Wahlentscheidung für sozial nicht erwünschte Parteien).
Der Politikwissenschaftler Hans Rattinger betonte, dass Veränderungen von Parteien um zwei Prozentpunkte aufgrund der erwarteten Stichprobenfehler „statistisch nicht relevant“ sind. Zudem zeigten die Erfahrungen der Bundestagswahl 2005, dass gerade die Unentschlossenen häufig bei Umfragen nur zulasten einer Partei gingen. Ebenso sei bei der Analyse von Umfrageergebnissen zu berücksichtigen, dass die Wahlbeteiligung bei Wahlen tatsächlich viel geringer sei, „aber bei Umfragen sagen einem dann 90 bis 95 Prozent, wie sie wählen“ ohne tatsächlich zu wählen, dieses Phänomen sei statistisch nicht herauszurechnen. Tests zeigten, dass bei Abfragen der Beliebtheit von Politikern häufig Sympathien gewichtet werden, ohne dass Befragte diese überhaupt kennen. „Wir haben Experimente gemacht mit Umfragen, in die wir Namen von Politikern eingebaut haben, die es gar nicht gibt – trotzdem finden oft 30 bis 40 Prozent der Befragten denjenigen zum Beispiel sympathisch“.[7]
Naturgemäß spielt auch die Präferenz des Auftraggebers einer Wahlumfrage (Landesregierungen, Medien) in gewissen Maßen eine Rolle bei der "Interpretation" der Wahlantworten der Befragten bzw. werden Umfragen, die nicht dem Wunsch des Auftraggebers entsprechen, nicht veröffentlicht.
Literatur
- Kai Arzheimer, Jürgen W. Falter: „Wahlen“, in: Eckhard Jesse, Roland Sturm (Hrsg.): Demokratien des 21. Jahrhunderts im Vergleich. Opladen: Leske und Budrich 2003, S. 289-312
- Jürgen W. Falter, Harald Schoen (Hrsg.): Handbuch Wahlforschung. Wiesbaden, VS Verlag für Sozialwissenschaften 2005
- Nikolaus Jackob (Hrsg.): Wahlkämpfe in Deutschland. Fallstudien zur Wahlkampfkommunikation 1912-2005.Wiesbaden: VS Verlag 2007.
Weblinks
Einzelnachweise
- ↑ Henry Kreikenbom, Maxi Stapelfeld 2008: Politikforschung, Steigende Nachfrage in Zeiten gesellschaftlichen Wandels. In: Eva Balzer (Hrsg.): Qualitative Marktforschung in Theorie und Praxis, ISBN 978-3-8349-0244-3, S. 469–481
- ↑ Jochen Groß 2010: Die Prognose von Wahlergebnissen. ISBN 978-3-531-17273-6. S. 39ff.
- ↑ Jürgen Maier, Frank Brettschneider 2009: Wirkungen von Umfrageberichterstattung auf Wählerverhalten. In: Nikolaus Jackob et al. Sozialforschung im Internet, ISBN 978-3-531-16071-9, S. 321-337
- ↑ Kampf um die Trefferquote Der Tagesspiegel vom 13. September 2009
- ↑ Demokratie dank Demoskopie: Mehrheit als Meinung. F.A.Z., 26. September 2005, Nr. 224 / S. 37.
- ↑ Jürgen W. Falter, Harald Schoen (Hrsg.): Handbuch Wahlforschung. Wiesbaden, VS Verlag für Sozialwissenschaften, 2005, S. 613ff.
- ↑ «Prognose-Verbot wäre kein Schaden» Netzeitung vom 2. September 2009