Weströmisches Reich




Das eigentliche Weströmische Reich, auch Westrom oder Westreich (Hesperium Imperium) genannt, entstand im Jahre 395 aus einer letzten Teilung des Römischen Reiches unter den beiden Söhnen Kaisers Theodosius I.; während der ältere Arcadius in Konstantinopel über „Ostrom“ herrschte, regierte Honorius zunächst von Mailand, dann von Ravenna aus über „Westrom“ (nur ausnahmsweise residierten die weströmischen Kaiser noch in der Stadt Rom). Doch bereits seit dem Tod Konstantins I. 337 waren die beiden Hälften des Römischen Reichs zumeist von mindestens zwei Kaisern regiert worden; den Westen beherrschten (zum Teil als Usurpatoren): Konstantin II. (337–340), Constans (340–350), Magnentius (350–353), Julian (als Caesar, 355–360), Valentinian I. (364–375), Gratian (375–383), Magnus Maximus (383–388), Valentinian II. (383–392) und Eugenius (392–394).
Für die Zeitgenossen unterschied sich die Teilung von 395 nicht von den früheren – dass sie die letzte sein würde, war nicht absehbar. Die Bezeichnung „Weströmisches Reich“ ist in der Spätantike selten und erst ab dem frühen 6. Jahrhundert bei Marcellinus Comes (Hesperium Romanae gentis imperium, Marc. Com. ad ann. 476) greifbar; nach vorherrschender zeitgenössischer Auffassung gab es stets nach wie vor nur ein Römisches Reich unter zwei Herrschern. Eine Spaltung des Reiches in zwei unabhängige Hälften war 395 offensichtlich nicht beabsichtigt. Der spätantike Geschichtsschreiber Eunapios von Sardes äußerte dazu: „Die Kaiser regieren in zwei Körpern ein einziges Reich“.[1]
Das Weströmische Reich endete – je nach Sichtweise – im August 475 mit der Vertreibung des letzten vom oströmischen Kaiser Zenon anerkannten weströmischen Kaisers Julius Nepos durch den weströmischen Feldherrn Orestes, im August 476 mit der Absetzung des jugendlichen Usurpators und Gegenkaisers Romulus Augustus (spöttisch „Romulus Augustulus“ genannt) durch den weströmischen Offizier Odoaker oder im Jahre 480 mit der Ermordung des in die Provinz Dalmatia geflohenen Julius Nepos, der sich trotz Vertreibung weiterhin als „Augustus“ (Kaiser) Westroms betrachtet hatte.
Allerdings vertreten manche Althistoriker die Auffassung, dass es sich bei den Ereignissen der Jahre 475–480 um einen auf Italien und den Alpenraum begrenzten Militärputsch handelte und damit lediglich das „weströmische Kaisertum“, nicht jedoch der im Kern intakte, wenn auch zuletzt auf Italien beschränkte „Staat Westrom“ untergegangen ist: Sie betrachten auch die folgenden neun Jahrzehnte bis zum Einfall der Langobarden im Jahre 568 als Bestandteil der weströmischen Geschichte.
Auch nach 480 sahen sich die oströmischen Kaiser nominell weiterhin als Herrscher des Gesamtreiches, ihre Ansprüche wurden im 6. Jahrhundert im Westen in der Regel noch anerkannt.
Geschichte
→ Siehe auch: Spätantike
Die Zeit des Honorius
Obwohl das Weströmische Reich nur 81 Jahre Bestand hatte, hatte es insgesamt zwölf allgemein anerkannte Herrscher und zudem noch drei (nach anderer Auffassung vier) Usurpatoren.
Honorius war der jüngste Sohn von Kaiser Theodosius I., dem letzten Kaiser, der beide Reichshälften einige Monate lang faktisch gemeinsam regiert hat. Flavius Honorius war bei seinem Regierungsantritt 395 noch ein Kind, deshalb hatte Theodosius den Heermeister Stilicho, Sohn eines Vandalen und einer Römerin, zu seinem Vormund eingesetzt.
Die Herrschaft des Honorius war instabil. Bereits 397 erhob sich der Befehlshaber Gildo in der Provinz Africa, die eine der reichsten römischen Provinzen war und die Kornkammer Westroms darstellte. Wenngleich die Rebellion recht schnell niedergeschlagen werden konnte, sollte dies nur der Anfang einer ganzen Reihe von Erhebungen darstellen, mit denen Westrom konfrontiert wurde. Nach der Invasion der Westgoten 402 auf der italischen Halbinsel zog Honorius mit seinem Hof von Mediolanum (Mailand) zurück nach Ravenna, welches als uneinnehmbar galt. Auf der britischen Insel rebellierten die Soldaten unter Marcus und Gratian (406/407) sowie Konstantin III. (407–411); die Truppen setzen nach Gallien über und überließen die Bevölkerung – die sich weiterhin als Römer ansah – sich selbst bzw. den bald darauf einsetzenden angelsächsischen Angriffen, wobei die Angelsachsen jedoch in kleinen Gruppen vor allem als Söldner nach Britannien kamen.
Daneben kam es zum Zusammenbruch der Rheingrenze: Am 31. Dezember 406 fielen beim Rheinübergang Vandalen, Sueben und die (ursprünglich) iranischen Alanen, wohl auf der Flucht vor den Hunnen, in Nordgallien ein; fränkische „Foederati“ und römische Grenztruppen („Limitanei“), die sich ihnen entgegenstellten, wurden geschlagen. Zudem fiel 405/06 ein gotisches Heer unter Radagaisus in Italien ein, welches jedoch von Stilicho vernichtet werden konnte. 408 ließ Honorius seinen Berater und Heermeister Stilicho, den eigentlich starken Mann im Westen, aus Furcht vor dessen Macht ermorden, während es zu Raubzügen der Westgoten unter Alarich I. kam, denen die von der Regierung in Ravenna versprochenen Landzuweisungen versagt wurden und die daraufhin schließlich 410 Rom eroberten, was nachhaltige Folgen für das Selbstverständnis der Römer hatte. Es kam zudem zu den oben angesprochenen Usurpationen, die zusätzliche Kräfte banden: Konstantin III., Jovinus in Gallien sowie der römische Senator Priscus Attalus 409/410 und 414/415. 409 fielen die Sueben, Alanen und Vandalen in Hispanien ein. Die Westgoten, nun wieder Verbündete Roms, vernichteten jedoch in der Folgezeit Teile der in Hispanien eingedrungenen Vandalen. Unter dem Heermeister und späteren kurzzeitigen Kaiser Constantius III. konnten die Römer die Lage zunächst stabilisieren, Usurpationen beenden und viele der eingedrungenen germanischen Gruppen zunächst unter Kontrolle bringen. So wurden die Westgoten 418 als Foederaten in Aquitanien angesiedelt, womit man sich in Ravenna ein inneres Bollwerk gegen Aufstände und zugleich einen kampfstarken Verband gegen die äußeren Feinde sowie die Vandalen und Sueben erhoffte; die Westgoten verhielten sich denn auch – insgesamt betrachtet – loyal, was sie freilich nicht von Vorstößen auf weströmisches Gebiet abhielt, um ihren Einflussbereich zu vergrößern; zu einem regelrechten Bruch des Vertrags von 418 kam es jedoch erst in den späten 60er Jahren des 5. Jahrhundert. Zum Unglück für Westrom starb Constantius III. nach nur wenigen Monaten Herrschaft, bevor er seine Erfolge ausbauen und konsolidieren konnte.
Hunnensturm und interne Machtkämpfe
Nach dem Tod des Honorius im Jahre 423 regierte der Usurpator Johannes von 423 bis 425. 425 wurde er besiegt und Valentinian III., ein Neffe des Honorius, wurde Kaiser; er sollte der letzte Kaiser der theodosianischen Dynastie sein. Zunächst lagen die Regierungsgeschäfte in den Händen seiner Mutter Galla Placidia, doch kam es bald zu Kämpfen zwischen verschiedenen Militärs: Der Heermeister Felix und der comes Africae Bonifatius unterstützten bis zu ihrem Tod (mal mehr, mal weniger) die Politik der Galla Placidia. Nach dem Tod des Bonifatius jedoch regierte der Patricius und Heermeister Flavius Aëtius das Reich. Das Leben Valentinians bewegte sich zwischen Ravenna und Rom. In seine Regierungszeit fällt der Verlust der Provinz Africa, das nordwestliche Hispanien fiel an die Sueben, in Gallien jedoch konnte sich Aëtius trotz des Drucks durch die Westgoten und Burgunden weitgehend behaupten; das Burgundenreich am Rhein wurde durch seine hunnischen Hilfstruppen 436 vernichtet. 451 konnte er zudem den Hunnenkönig Attila, der mit einem großen Heer in Gallien eingefallen war, in der Schlacht auf den Katalaunischen Feldern zum Stillstand bringen. 454 ließ Valentinian seinen erfolgreichen, aber auch übermächtigen General Aëtius jedoch ermorden, nur um dann im darauffolgenden Jahr selbst Opfer eines Meuchelmordes zu werden. In Dalmatien schuf sich derweil der General Marcellinus ein faktisch eigenständiges Reich.
Dem Verlust der Provinz Africa an die Vandalen (endgültig mit der Eroberung Karthagos und der dort liegenden Flotte 439) kommt dabei eine große Bedeutung zu, da die Vandalen anders als die übrigen Germanen, eine formelle Oberherrschaft des Kaisers ablehnten und damit den ersten unabhängigen Staat auf Reichsgebiet gründeten. Dadurch war auch Westrom von seiner afrikanischen Kornkammer abgeschnitten, von wo aus es in Form von Abgaben mit Getreide versorgt worden war. Dies führte zu einer erheblichen wirtschaftlichen Belastung Westroms.[2]
Westgoten, Sueben, Burgunder und Franken waren dagegen formell Föderaten und regierten die provinzialrömische Bevölkerung im Namen des Kaisers, was den Schein der Herrschaft wahrte und auch die Möglichkeit für politische und militärische Interventionen Ravennas deutlich erhöhte. Allerdings entglitten diese Gebiete faktisch ebenfalls der weströmischen Kontrolle, zumal die Westgoten unter Eurich den Vertrag mit Rom auch formell aufkündigten.
Die letzten Jahre Westroms – die Zeit der Schattenkaiser
Nur kurz währte die Herrschaft des Petronius Maximus im Jahr 455, des ersten der sogenannten „Schattenkaiser“, die jeweils nur kurze Zeit regierten und kaum noch aktiv werden konnten, um den zusammenbrechenden weströmischen Staat zu retten. Westrom verlor in der Folgezeit immer größere Gebiete an die Germanen, die Staaten im Staat bildeten und damit Westrom wichtige Steuereinnahmen vorenthielten, die zur Aufrechterhaltung der Armee notwendig waren. Als hochrangiger Senator wurde Maximus nach dem Tode Valentinians III. (16. April 455) Kaiser. Er verlor jedoch schnell die Unterstützung des Heeres. Auf der Flucht vor einem erneuten vandalischen Plünderzug in Rom wurde Petronius am 22. Mai erschlagen. Ihm folgte am 9. oder 10. Juli 455 der Gallo-Römer Eparchius Avitus auf dem kaiserlichen Thron. Er war zuvor als Botschafter zwischen Rom und den Westgoten tätig, musste jedoch auch Probleme mit Markian, dem tatkräftigen oströmischen Herrscher, regeln sowie den mächtigen Heermeister Ricimer, einen Goten, ruhig halten, der sich bald zum wahren Herrscher Westroms entwickelte. Nachdem Avitus sein Vermögen aufgebraucht hatte und die Truppen nicht mehr finanzieren konnte, wurde er 456 von Ricimer gestürzt. In den Jahren nach ihrem Romzug 455 eroberten die Vandalen den Rest Nordafrikas, Sizilien, Korsika und die Balearen, was die römische Seehoheit im Mittelmeer beendete. Ein Sieg über Geiserichs Vandalen wurde zur Überlebensfrage für Westrom.
Der tatkräftige Militär Majorian bestieg den Thron am 1. April 457, wurde von Ostrom anerkannt und blieb knapp vier Jahre lang Kaiser. Nach den Jahren des Niederganges gelang es ihm endlich, die Kontrolle über Italien und große Teile Galliens zeitweilig wiederzuerlangen; die Westgoten und Burgunden wurden wenigstens vorübergehend ruhiggestellt. Auch Teile Hispaniens konnte Majorian - seit langem der erste und zugleich der letzte Westkaiser, der selbst ein Heer befehligte - befrieden. Innenpolitisch gelang es, den Senat durch mehr Zugeständnisse und durch eine verbesserte Wirtschaftspolitik das Volk auf seine Seite zu bringen. Von Papst Leo wurde er jedoch nicht als Kaiser anerkannt, da er aus Sicht der Kirche zu tolerant gegenüber Häretikern (insbesondere jenen Christen, die das Konzil von Chalkedon nicht anerkannten) agierte. Majorian wurde, nachdem eine Strafexpedition gegen die Vandalen bereits im Ansatz gescheitert war, Anfang August 461 von Ricimer gestürzt und kurz darauf hingerichtet; Ricimer konnte jedoch als Arianer (einer nicht-orthodoxen christlichen Glaubensgruppe) und Nicht-Römer wohl selbst nicht die Herrschaft erlangen.
An seiner Stelle wurde 461 Libius Severus Kaiser von Westrom. Dieser wurde von Ostrom nicht anerkannt und blieb daher formal ein Usurpator. Mit seiner Regierung begannen die Plünderungen der Vandalen an der italienischen Westküste erneut. Währenddessen hatte sich der Heermeister Galliens, Aegidius, ein Freund Majorians, gegen Ricimer und die Regierung in Ravenna erhoben und in Nordgallien ein gallo-römisches Restreich errichtet, das bis 486 Bestand haben sollte. Nach vier Jahren starb Libius Severus 465 (angeblich von Ricimer vergiftet). An seine Stelle trat nach einer zweijährigen Thronvakanz, während der Kaiser in Konstantinopel formal auch über den Westen herrschte, der Oströmer Anthemius. Dieser wurde vom oströmischen Kaiser Leo I. mit Geld und Truppen ausgestattet; er gilt als der letzte wirklich handlungsfähige und tatkräftige Herrscher Westroms. Ricimer und Anthemius verfolgten als vordringliches Ziel die Wiederherstellung der kaiserlichen Herrschaft gegenüber den Vandalen. Die Flotte des römischen Generals Basiliscus verbuchte einige erste Erfolge. 468 kam es dann zu einer großen Flottenexpedition, bei der oströmische und weströmische Truppen gemeinsam gegen die Vandalen kämpften. Doch überraschend besiegten die Vandalen Basiliscus vor der afrikanischen Küste. Nun versuchte Anthemius sein Glück in Hispanien. Doch der Feldzug gegen die Westgoten, die unter ihrem König Eurich den Vertrag von 418 gebrochen hatten und seit 469 weitere Gebiete eroberten, blieb erfolglos und führte letztlich zum Bruch zwischen dem Kaiser und Ricimer. Diese letzten kriegerischen Anstrengungen hatten die finanziellen und militärischen Möglichkeiten Westroms stark strapaziert. Zumindest das nördliche Gallien ging nun verloren. Auch Ostrom hatte einen großen Teil seines Staatsschatzes in die Flottenexpedition gegen Geiserichs Vandalen gesteckt und konnte dem Westen nun nicht mehr helfen. Schließlich brach wegen der Konflikte zwischen Ricimer und dem Kaiser, der nicht nur eine Marionette seines Heermeisters sein wollte, ein Bürgerkrieg aus. Dabei stand die Kirche auf der Seite des Heermeisters, denn Anthemius war aufgrund einer toleranten Religionspolitik beim römischen Bischof in Ungnade gefallen.
Ricimer siegte, und Anthemius wurde 472 hingerichtet; doch der mächtige Heermeister starb nur wenig später. Als Gewinner ging der bis dato relativ unbekannte, aus alter Familie stammende Senator Anicius Olybrius hervor. Auch er brachte kein volles Jahr Regierungszeit hinter sich: Nach seiner Thronbesteigung im Frühjahr 472 starb er bereits sieben Monate später an einer Krankheit. Ricimers Nachfolge trat unterdessen sein Neffe Gundobad an, der bald aber König der Burgunden wurde. Als Kaiser folgte auf Olybrius Glycerius, der nur von 473 bis 474 regierte. Unter ihm schlossen Ost- und Westrom einen Frieden mit den Vandalen, während die Westgoten den größten Teil der heutigen Provence eroberten und sich endgültig von der kaiserlichen Oberhoheit befreiten.
Julius Nepos

Im Jahre 474 wurde Glycerius von dem oströmischen Heerführer Julius Nepos abgesetzt und abgelöst. Julius Nepos wollte den Konflikt mit den Westgoten zunächst diplomatisch lösen. Der Erfolg war mäßig. Inzwischen hatten die Vandalen das ganze westliche Mittelmeer unter ihre Kontrolle gebracht. Schließlich wendete sich auch das Blatt in Rom gegen ihm: Sein Patron Flavius Orestes, der für sich in Anspruch nehmen konnte, Sekretär des Hunnenkönigs Attila gewesen zu sein, übernahm die Heeresführung, jagte Nepos im August 475 aus dem Amt und setzte seinen Sohn Romulus Augustus auf den Kaiserthron. Nepos konnte sich in der Provinz Dalmatia allerdings noch bis 480 halten, bis er dort - vermutlich auf Veranlassung Odoakers, vielleicht aber auch auf Anstiftung des Glycerius, der nach seinem Sturz Bischof geworden war - ermordet wurde.
Julius Nepos war der letzte weströmische Kaiser, dessen Herrschaft von Ostrom anerkannt wurde.
Romulus Augustus („Romulus Augustulus“) und Odoaker


Romulus Augustus, der bei Regierungsantritt erst etwa 10 Jahre (nach anderen Quellen: 17 Jahre) alt war und deswegen mit dem Spottnamen „Romulus Augustulus“ („kleiner Augustus“, „Kaiserlein“) bedacht wurde, gilt als der letzte weströmische Kaiser, wenn auch Julius Nepos bis zu seinem Tode im Jahre 480 letzter von Ostrom anerkannter Herrscher blieb. Romulus wurde 476 von dem Germanenfürsten Odoaker, dem Kommandeur der letzten kaiserlichen Armee in Italien, abgesetzt.
Anders als seine Vorgänger setzte Odoaker keinen „Schattenkaiser“ ein, sondern er sandte eine senatorische Gesandtschaft zu Kaiser Zenon nach Konstantinopel und unterstellte sich formal dessen Oberherrschaft; so konnte er faktisch unabhängig als „Rex Italiae“ („König von Italien“) regieren.
Begleitet und überlagert waren die letzten Jahre Westroms auch von religiösen Auseinandersetzungen. So standen Leo der Große und sein Nachfolger Hilarus im Konflikt mit den Arianern, die mit Ricimer den mächtigsten Mann Westroms auf ihrer Seite hatten. Simplicius führte vor allem Auseinandersetzungen mit dem Monophysitismus in der oströmischen Kirche, weshalb die Päpste Kaisern wie Anthemius und Julius Nepos, die aus dem Osten kamen, skeptisch bis feindselig gegenüberstanden, was deren Position weiter schwächte. Diese Entwicklung, die zu einer immer weiteren Entfremdung von Ost und West führte, setzte sich auch nach 476 fort: Mit dem Kirchenbann gegen die Anhänger des Henotikons, das der oströmische Kaiser erlassen hatte, löste Felix II. 484 das akakianische Schisma aus, wodurch auch der politische Zusammenhalt zwischen West und Ost weiter geschwächt wurde. Zudem stritt er mit dem oströmischen Kaiser grundsätzlich um den Einfluss in Kirche. Sein Nachfolger Gelasius I. formulierte schließlich 496 in diesem Zusammenhang die Zweischwerterlehre, die die Theorie von der Trennung von Staat und Kirche begründete und im Mittelalter große Wirkung entfalten sollte.
Nachwirken
Odoaker sah seine Herrschaft ganz in der Tradition des Römischen Reiches; er bekam vom Ostkaiser schließlich wohl auch den Titel eines „Patricius“ und damit (vielleicht) auch eines kaiserlichen "Statthalters" verliehen. Gegen Ende seiner Herrschaft ließ er jedoch seinen Sohn Thela zum „Caesar“ ausrufen, was den Bruch mit Konstantinopel bedeutete. Dennoch war das Weströmische Kaisertum faktisch erloschen, wie um 520 als erster der oströmische Chronist Marcellinus Comes niederschrieb. Insgesamt fanden die Ereignisse des Jahres 476 zunächst kaum Beachtung: Es gab schließlich in Konstantinopel noch einen Kaiser, dem sich Odoaker ja auch untergeordnet hatte. Thronvakanzen hatte es im Westen bereits vorher gegeben. Auch ließ Odoaker bis 480 weiterhin Münzen im Namen des Kaisers Julius Nepos prägen, der zumindest noch die römische Provinz Dalmatia regierte, da Ostrom 476 darauf hingewiesen hatte, Nepos sei der für Italien "zuständige" Kaiser. Und noch bis weit ins 6. Jahrhundert hinein achteten die germanischen Herrscher des Westens in der Regel das kaiserlicher Privileg, Goldmünzen zu prägen, und setzten daher auch auf ihre solidi das Porträt des jeweiligen oströmischen „Augustus“.

Im Raum um Paris konnte sich – eingekeilt zwischen Westgoten und Franken und abgeschnitten vom Restreich – der römische Statthalter Syagrius, Sohn des Heermeisters Aegidius, mit einem größeren Herrschaftsgebiet noch bis 486 als „Rex Romanorum“ behaupten; nach der Eroberung seines Territoriums durch die Franken wurde er von den Westgoten an den fränkischen König Chlodwig I. ausgeliefert und von diesem um das Jahr 486/87 hingerichtet.
Weite Teile des vormaligen Weströmischen Reiches wurden Ende des 5. Jahrhunderts von den Vandalen und Westgoten beherrscht. Die italische Halbinsel verblieb unter der Herrschaft Odoakers, bis 489 Theoderich der Große (formal im Auftrag des Kaisers) in Italien einfiel und dort 493 eine ostgotische Herrschaft etablierte. De iure unterstanden die westlichen Gebiete der Oberhoheit Konstantinopels. Der weströmische Senat bestand fort, und die Senatoren dienten zwar faktisch den germanischen Königen, bezeichneten aber zugleich den Kaiser nach wie vor als dominus noster („unser Herr“). Unter dem oströmischen Herrscher Justinian I. wurden dann zwischen 533 und 553 große Teile des vormals weströmischen Reiches (Nordafrika, Italien, Südspanien) noch einmal militärisch dem Kaiser unterworfen, doch blieb dies letztlich Episode. Der Plan, den Heermeister Belisar 540 zum neuen weströmischen Augustus zu erheben, scheiterte an Justinians Veto. Wenige Jahre nach der Rückeroberung Italiens durch die kaiserlichen Truppen fiel der größte Teil der Halbinsel 568 an die Langobarden. Spätestens im 7. Jahrhundert erlosch dann die formelle Oberhoheit des oströmischen Kaisers im Bereich des früheren Westreichs endgültig, nachdem noch Kaiser Maurikios im Jahr 597 eine Erneuerung des weströmischen Kaisertums vorgesehen hatte, da er seinen zweitältesten Sohn Tiberius testamentarisch als in Rom residierenden Augustus einsetzen wollte - die Regelung trat aber nie in Kraft. Der Versuch des Kaisers Konstans II., den Schwerpunkt des Römischen Reiches wieder nach Westen zu verlagern, scheiterte in den 660er Jahren nach kurzer Zeit.
Auswirkungen auf die Stadt Rom
Der Niedergang des Weströmischen Reiches machte sich auch in der Stadt Rom bemerkbar: Die Stadt, in der um 250 nach Christus über 1 Million Menschen gelebt hatten, verkleinerte sich nach dem faktischen Wegfall der Funktion als Kaiserresidenz auf etwa 600.000 Einwohner um das Jahr 400. Während sich Rom von der Plünderung durch die Westgoten 410 noch recht schnell erholt zu haben scheint, hatte der Verlust Nordafrikas an die Vandalen nach 429 zur Folge, dass die Getreideversorgung der Stadt ins Stocken geriet. Die zweiwöchige Plünderung durch die Vandalen 455 verringerte den Wohlstand, 472 dezimierte eine Seuche die Einwohnerzahl weiter. Gleichwohl galt Rom auch im 5. Jahrhundert zeitgenössischen Berichten zufolge als eine kulturell und politisch bedeutende Metropole. Mitglieder der Kaiserfamilie hielten sich trotz der Residenzverlegung nach Ravenna häufig in Rom auf, einige Kaiser (wie Anthemius) residierten kurzzeitig in der Stadt. Zu Beginn des 5. Jahrhunderts und nach 439 vergrößerte sich die Stadt noch einmal durch den Zustrom von Neusiedlern aus Gallien und Africa. Noch um 470 wird Rom als bedeutende Stadt mit großen Bauten und einer lebhaften Theaterszene beschrieben. Das Kolosseum wurde mindestens bis 523, große Thermen bis 535 genutzt. Wagenrennen im Circus Maximus sind zuletzt 550 bezeugt. Archäologisch lässt sich zeigen, dass man um diese Zeit noch versuchte, den Verfall der öffentlichen Bauten aufzuhalten und Renovierungen durchführte.
Um 534 dürfte die Stadt noch immer um die 100.000 Einwohner gezählt haben. Dann markierte der Krieg des oströmischen Kaisers Justinian I. gegen die Ostgoten die eigentliche Zäsur in der Stadtgeschichte: Zwischen 535 und 549 wurde Rom mehrfach belagert, die lebenswichtigen Aquädukte zerstört sowie ein Großteil der Senatoren deportiert oder getötet. Den letzten Schlag für die antiken Strukturen Italiens stellte dann der Einfall der Langobarden 568 dar, wenngleich Rom selbst nicht erobert wurde. Der weströmische Senat verschwand bald darauf (um 590). Im Mittelalter lebten nur noch höchstens 20.000 Menschen in der Stadt. Auf dem Forum Romanum, dessen letztes antikes Monument, die Phokas-Säule, 608 errichtet worden war, wurde schließlich Ackerbau betrieben. Antike Bauten dienten als Steinbruch oder wurden durch Umbauten auf niedrigem Niveau zweckentfremdet.
Liste der weströmischen Kaiser
Kaiser | Vollständiger Name | Regierungszeit | Anmerkungen |
---|---|---|---|
Honorius | Flavius Honorius | 395–423 | Mitkaiser von Theodosius I. und Arcadius seit 393 (gegen Eugenius); Regent: Stilicho (bis 408) |
Gildo | unbekannt | 397–398 | Usurpator (?) in Africa |
Marcus | unbekannt | 406 | Usurpator in Britannien |
Gratian | unbekannt | 407 | Usurpator in Britannien |
Konstantin (III.) | Flavius Claudius Constantinus | 407–411 | Gegenkaiser in Gallien, Spanien und Britannien (409 nominell Mitkaiser des Honorius), ab 409/10 mit Constans (II., Caesar seit 408); Caesar: Julian (ab 409/10) |
Priscus Attalus | unbekannt | 409–410 414–415 |
Gegenkaiser in Italien (durch Alarich) bzw. Südgallien (durch Athaulf) |
Maximus | unbekannt | 409/10–411 418/19–420/21 |
Gegenkaiser in Spanien (durch Gerontius bzw. Gunderich) |
Jovinus | unbekannt | 411–413 | Gegenkaiser in Gallien (durch Gundahar und Goar), ab 412 mit Sebastianus |
Heraclianus | unbekannt | 413 | Usurpator (?) in Africa |
Constantius III. | Flavius Constantius | 421 | Mitkaiser des Honorius (Regent seit 415), von Theodosius II. nicht anerkannt |
Johannes | unbekannt | 423–425 | durch Castinus (?), von Theodosius II. nicht anerkannt |
Valentinian III. | Flavius Placidus Valentinianus | 425–455 | Caesar unter Theodosius II. seit 424 (gegen Johannes); Regenten: Galla Placidia (bis 437), Aëtius (435–454); erkannte Geiserich als Regenten in Africa an |
Vortigern | unbekannt | 426–441? | Usurpator (?) in Britannien; Nachfolger: Ambrosius Aurelianus (?) |
Pirrus | unbekannt | 428 | Usurpator (?) in Italien |
Petronius Maximus | Flavius Petronius Maximus | 455 | von Markian nicht anerkannt; Caesar: Palladius |
Avitus | Flavius Eparchius Avitus | 455–456 | durch Theoderich II., von Markian nicht anerkannt |
Majorian | Flavius Iulius Valerius Maiorianus | 457–461 | durch Ricimer, 457 nominell Caesar unter Leo I. |
Marcellus | unbekannt | 457 | Usurpator (?) in Gallien |
Libius Severus | Flavius Libius Severus | 461–465 | durch Ricimer, von Leo I. nicht anerkannt |
Aegidius | unbekannt | 461–464/65 | Usurpator (?) in Gallien; Nachfolger: Paulus (?), Syagrius (bis 486/87) |
Anthemius | Flavius Procopius Anthemius | 467–472 | 467 Caesar unter Leo I. |
Arvandus | unbekannt | 468 | Usurpator (?) in Gallien (durch Eurich) |
Romanus | unbekannt | 470 | Usurpator (?) in Italien (durch Ricimer) |
Olybrius | Flavius Anicius Olybrius | 472 | durch Ricimer und Geiserich, gegen Anthemius, von Leo I. nicht anerkannt |
Glycerius | unbekannt | 473–474 | durch Gundobad, von Leo I. nicht anerkannt |
Julius Nepos | Flavius Iulius Nepos | 474–480 | 474 Caesar unter Leo II. und Zenon (gegen Glycerius), Exil ab 475 in Dalmatien; erkannte Eurich als Regenten in Südgallien und Spanien an |
Romulus Augustulus | Romulus Augustus | 475–476 | Gegenkaiser in Italien (durch Orestes), von Odoaker abgesetzt |
Legende:
Farbe | Bedeutung |
---|---|
Unterkaiser oder Mitregent | |
Gegenkaiser oder Usurpator |
Siehe auch
- Römisches Reich
- Spätantike
- Völkerwanderung
- Untergang des Römischen Reiches
- Liste der römischen Kaiser der Antike
Literatur
Vergleiche auch die entsprechenden Abschnitte zur späten römischen Kaiserzeit.
- Henning Börm: Das weströmische Kaisertum nach 476. In: Josef Wiesehöfer u.a. (Hrsg.): Monumentum et instrumentum inscriptum. Stuttgart 2008, S. 47-69.
- Averil Cameron u.a. (Hrsg.): The Cambridge Ancient History. Bd. 13 und 14, 2. neugestaltete Aufl., Cambridge 1998–2000. (Hervorragende Gesamtdarstellung; dort findet sich auch weiterführende Literatur, größtenteils jüngeren Datums.)
- Alexander Demandt: Die Spätantike. 2. erweiterte Auflage. München 2008. (Solide und gut lesbare Darstellung, die aber nicht immer den aktuellen Forschungsstand wiedergibt.)
- Adrian Goldsworthy: The Fall of the West. London 2009. (Populärwissenschaftliche Darstellung.)
- Andreas Goltz: Marcellinus Comes und das "Ende" des Weströmischen Reiches im Jahr 476. In: Dariusz Brodka u.a. (Hrsg.): Continuity and Change. Studies in Late Antique Historiography (Electrum 13). Krakau 2007, S. 39-59.
- Guy Halsall: Barbarian Migrations and the Roman West, 376–568. Cambridge 2007.
- Peter J. Heather: The Fall of the Roman Empire. London 2005. (Detaillierte Darstellung des Untergangs Westroms; vor allem hinsichtlich militärgeschichtlicher Fragen sehr nützlich.)
- Dirk Henning: Periclitans res Publica: Kaisertum und Eliten in der Krise des weströmischen Reiches, 454/55–493. Stuttgart 1999.
- John F. Matthews: Western Aristocracies and Imperial Court, A. D. 364–425. Oxford 1975.
- Marinus Antony Wes: Das Ende des Kaisertums im Westen des Römischen Reichs. Den Haag 1967.
Einzelnachweise
- ↑ Eunapios, Historien, Fragment 85.
- ↑ Chris Wickham: The inheritance of Rome. A History of Europe form 400 to 1000. Penguin Books, London 2009, ISBN 978-0-7139-9429-2, S. 78.