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Kettenbetrug

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Der Kettenbetrug ermöglicht es kriminellen Arbeitgebern Schwarzarbeit und Steuerhinterziehung zu verschleiern. Er ist im Baugewerbe weit verbreitet und wesensverwandt mit dem Karussellgeschäft. Beim Kettenbetrug werden gezielt mehrere Subunternehmer hintereinander geschaltet. Die Täter verfolgen mit diesen Subunternehmerketten vornehmlich das Ziel, ihre sozialversicherungsrechtliche und steuerliche Verantwortung für das eingesetzte Personal zu verbergen. Sie täuschen nämlich vor, ihre Arbeitnehmer seien Beschäftigte eines Subunternehmers.

Servicefirmen

Eine zentrale Rolle spielen sogenannte Servicefirmen. Diese Unternehmen werden von gut durchorganisierten Betreiber- oder Initiatorengruppen gegründet, die die Beihilfe zur organisierten Schwarzarbeit und Steuerhinterziehung als Gewerbe betreiben. Servicefirmen werden meist neu gegründet und regulär bei Behörden (Gewerbeamt, Krankenkassen, Handwerkskammer etc.) angemeldet. Als formelle Betriebsinhaber fungieren Strohleute. Die Servicefirmen bleiben wirtschaftlich weitgehend inaktiv. Ihre Rechnungen werden jedoch wie eine Ware gehandelt. Die Käufer dieser Rechnungen täuschen mit den Papieren vor, dass nicht ihre Beschäftigten, sondern unbekannte Arbeitnehmer der Servicefirma die Arbeiten ausgeführt hätten.

Rechnungskäufer

Modell Rechnungskäufer

Servicefirmen haben zwei Arten von Kunden. Bei der ersten Variante führen die Rechnungskäufer eigene Bauunternehmen. Ihr Personal melden diese Unternehmer jedoch mit zu niedrigen Entgelten an, um Sozialversicherungsbeiträge und Steuern zu sparen. Sie zahlen den größten Teil der Löhne „schwarz“ aus. Da die gezahlten Schwarzlöhne wegen ihrer kriminellen Natur in der Buchhaltung der Unternehmer nicht auftauchen dürfen, würden die Steuerbehörden ohne weiteres Zutun dieses Geld als vermeintlichen Gewinn versteuern. Um dies zu verhindern, tarnen die Rechnungskäufer die an die eigenen Beschäftigten „schwarz“ gezahlten Löhne als Fremdleistungen von Subunternehmern. Hierzu dienen die Rechnungen der Servicefirmen. Die Bezahlung dieser Rechnungen wird nur vorgetäuscht. Auf die Konten der Servicefirma überwiesene Gelder werden von deren Betreibern umgehend abgehoben und als Bargeld an die Rechnungskäufer zurückgegeben. Einen Teil davon behalten die Betreiber als „Gebühr“.

Kolonnenschieber

Modell Kolonnenschieber

Wenn die Rechnungskäufer keine eigene Firma besitzen und trotzdem Bauleistungen erbringen oder, wie es oft der Fall ist, anderen im Rahmen einer unerlaubten Arbeitnehmerüberlassung lediglich ihre Baukolonnen ausleihen, dann handelt es sich um sogenannte Kolonnenschieber. Kolonnenschieber sind wirtschaftlich aktiv, haben aber keine eigene Firma. Servicefirmen sind hingegen eingetragene Firmen, aber wirtschaftlich nicht aktiv. So kommt es, dass sich die Kolonnenschieber für ihre Aufträge die Identitäten dieser oder jener Servicefirma „überstreifen“. Auch die Arbeitnehmer der Kolonnenschieber arbeiten schwarz, denn sie werden entweder überhaupt nicht angemeldet oder zu geringsten Entgelten bei den Servicefirmen. Die Kolonnenschieber erhalten den Schwarzlohn für sich und die eingesetzten Arbeitnehmer oft über die Bankkonten der Servicefirmen. Vom Auftraggeber überwiesenes Geld wird unmittelbar nach Zahlungseingang von den Betreibern der Servicefirma abgehoben und als Bargeld an die Kolonnenschieber weitergeleitet. Auch bei der Variante Kolonnenschieber ist allen Beteiligten klar, dass Schwarzarbeit und Steuerhinterziehung im Spiel ist, denn die tatsächlichen Akteure bleiben stets gleich, während die Namen der Servicefirmen ständig wechseln. Außerdem bleiben die formellen Betriebsinhaber als reine Strohleute bei den geschäftlichen Verhandlungen außen vor.

Unbedenklichkeitspakete

Zum Schutz der Rechnungskäufer und Auftraggeberfirmen vor behördlichen Haftungsansprüchen nach § 28e Abs. 3a SGB IV dienen sogenannte Unbedenklichkeitspakete. Es handelt sich dabei um Unbedenklichkeitsbescheinigungen diverser Behörden, die die Servicefirma problemlos erhält, weil sie im Regelfall neu gegründet worden ist und nichts Negatives gegen sie vorliegt. Aber auch bereits bestehende, reguläre Baufirmen werden von Betreibergruppen aufgekauft und zu Servicefirmen umgewandelt. Diese sind dann bereits „qualifiziert“.

Allgemeines

Während die Schwarzarbeit im Baugewerbe medial viel Beachtung findet, sind die genauen Abläufe beim Kettenbetrug weitgehend unbekannt. Im September 2003 unterbreitete der Bundesrechnungshof in einem Sonderbericht „Steuerausfälle bei der Umsatzsteuer durch Steuerbetrug und Steuervermeidung“[1] Vorschläge in dieser Sache an den Gesetzgeber. Diese Vorschläge waren von der steuerlichen Sicht der Dinge geprägt und führten zu Änderungen in einigen Steuergesetzen. Die Beitragsausfälle in der Sozialversicherung und die Steuerausfälle bei der Lohnsteuer wurden dadurch jedoch nicht verhindert. Immerhin konnte der Schaden bei der Umsatzsteuer durch die Schaffung des § 13b UStG weitgehend eingedämmt werden.

Freilich sind die Begriffe „Kolonnenschieber“ und „Servicefirmen“ in Gerichtssälen und Ermittlerkreisen bekannt. Beleg hierfür sind unter anderem diverse Entscheidungen des Bundesgerichtshofes sowie der Straf- und Finanzgerichte.

Im Oktober 2009 verurteilte die 6. Große Strafkammer des Landgerichts Köln unter dem Aktenzeichen 106 Kls 6/09 eine von Sizilianern dominierte Betreibergruppe zu Haftstrafen. Wie die Kölnische Rundschau am 14. Oktober 2009 unter dem Titel Baumafia scheffelte Millionen[2] berichtete, bemängelte der vorsitzende Richter das Fehlen effektiver Kontrollmechanismen: „Seit 30 Jahren müssen sich die Gerichte mit illegalen Machenschaften der Bauwirtschaft befassen“. Auch der Kölner Stadtanzeiger berichtete am gleichen Tag, dass die Masche „sattsam bekannt“ sei[3].

In die deutsche Gesetzgebung ist der Begriff Kettenbetrug bislang noch nicht eingeflossen. Lediglich in einem Referentenentwurf[4] (Bearbeitungsstand: 10. Februar 2010) zum „4. Gesetz zur Änderung des Vierten Buches Sozialgesetzbuch, zur Stärkung der Zusammenarbeit von Behörden des Bundes und zur Änderung anderer Gesetze“ taucht der Begriff erstmals auf. Dabei geht es in der Neufassung des § 150 SGB VI (Absatz 6) um die Übermittlung von Sozialdaten an die Steuerfahndung bei Verdacht auf Kettenbetrug im Baugewerbe.

Einzelnachweise

  1. Bundesrechnungshof: Sonderbericht vom 3. September 2003: Steuerausfälle bei der Umsatzsteuer durch Steuerbetrug und Steuervermeidung
  2. Veröffentlichung der Kölnischen Rundschau vom 14. Oktober 2009: „Baumafia scheffelte Millionen“
  3. Veröffentlichung der Kölner Stadtanzeigers vom 14. Oktober 2009: Haftstrafen für Baumafia
  4. Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände: Referentenentwurf zum 4. Gesetz zur Änderung des Vierten Buches Sozialgesetzbuch, zur Stärkung der Zusammenarbeit von Behörden des Bundes und zur Änderung anderer Gesetze. Hier: Ergänzung zu § 150 SGB VI (Übermittlung von Sozialdaten bei Verdacht auf Kettenbetrug im Baugewerbe).