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Pazifismus

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Friedenszeichen

Als Pazifismus bezeichnet man eine ethische Grundhaltung, die militärische Gewaltanwendung zwischen Staaten ablehnt und durch eine wirksame internationale Rechtsordnung, z.B. durch Verträge, allgemeine Regeln des Völkerrechts und des Friedensverfassungsrechts auszuschließen anstrebt. Pazifisten halten Krieg und Bellizismus für prinzipiell illegitim und opponieren auch gegen vermeintlich legitimierte Militärgewalt (gerechte Kriege). Sie möchten bewaffnete Konflikte verhindern, Abrüstung und Demilitarisierung erreichen, Aufrüstung und Waffenproduktion stoppen, gewaltfreie Konfliktaustragung fördern und letztendlich den Krieg als Institution ganz abschaffen, um so einen dauerhaften Frieden zu erreichen.[1]

Begriff

Der Ausdruck Pazifismus ist abgeleitet vom lateinischen Substantiv pax für „Frieden“ (Genitiv pacis) und dem Verbum facere für „tun, machen, herstellen“. Im klassischen Latein gab es Komposita dieser beiden Worte wie pacificus - „Friedensstifter“ - oder pacificare - „Frieden schließen; befrieden, besänftigen“. Die Wortverbindung erscheint auch in älteren Sprachen und religiösen und weisheitlichen Traditionen des Altertums, z.B. auch in der Bergpredigt. In der deutschen Friedensbewegung der 1980er Jahre hat die von der Bergpredigt beeinflusste sogenannte Politische Theologie großen Einfluss ausgeübt.

Das ans Lateinische angelehnte Wort Pazifismus entstand um 1900 in der aus der Französischen Revolution hervorgegangenen bürgerlich-liberalen Emanzipationsbewegung Westeuropas. Der französische Schriftsteller Émile Arnaud empfahl 1901 in einer belgischen Tageszeitung, alle individuellen und kollektiven Bestrebungen zur gewaltfreien Konfliktlösung zwischen Staaten, die auf eine internationale Friedens- und Rechtsordnung zielen, als pacifisme zu bezeichnen und ihre Vertreter als pacifistes. Diese Ausdrücke sollten die zuvor gängige Selbstbezeichnung amis de la paix („Friedensfreunde“) ersetzen, die Arnaud als zu unbestimmt empfand. Er verwendete „Pazifismus“ sinngleich mit „Friedensbewegung“, um deren Ideen in eine gemeinsame Theorie mit weltanschaulichem Anspruch einzuordnen und im Bildungsbürgertum zu verankern. Er definierte den Begriff nicht als Absage an jede Waffengewalt. Sein Vorschlag war an Friedensgesellschaften gerichtet, die seit etwa 1815 in vielen europäischen Staaten entstanden waren.

Die Vertreter dieser nationalen Friedensgruppen nahmen Arnauds Vorschlag auf dem zehnten Weltfriedenskongress in Glasgow (10.-13. September 1901) auf. Als Pazifismus fassten sie ihre seit der Haager Friedenskonferenz 1899 verfolgten Teilziele zusammen:

  • internationale Schiedsgerichte für zwischenstaatliche Konfliktregelung,
  • internationale vertraglich geregelte Abrüstung,
  • Zusammenschluss der Völker Europas und der Welt zu einem Völkerbund,
  • einen „Völkerkongress“ als dessen parlamentarischen Unterbau.

Diese Gruppen, die sich fortan Pazifisten nannten, wollten im Prinzip den Waffengang verbieten und dafür den Rechtsweg verbindlich vorschreiben, befürworteten jedoch bis zur Herstellung einer rechtsverbindlichen Weltfriedensordnung noch Verteidigungsmaßnahmen, ohne sich über die Definition des Verteidigungskrieges einig zu sein. Sie erkannten das staatliche Gewaltmonopol und die Staatssouveränität bis zur Herstellung einer möglicherweise nach föderativen Prinzipien geordneten Welt als Voraussetzung für internationale Verträge zur Gewaltbegrenzung und Überwindung des Krieges an.[2]

Heute umfasst der Begriff Pazifismus mehrere Aspekte:

  • eine Weltanschauung, die davon ausgeht, dass die Verhinderung von Kriegen von der Haltung jedes Einzelnen, von gesellschaftlichen Gruppen und Staaten abhängt,
  • Versuche, einen drohenden Krieg aktiv zu verhindern, also als Bemühung zum Aufbau einer breiten Antikriegsbewegung,
  • Versuche, einen Krieg vorzeitig zu beenden, also Verhandlungsbereitschaft zu stärken und bei den kriegführenden Parteien zu erreichen,
  • die Absage an jede Beteiligung an kriegerischer Gewalt, etwa aktive Kriegsdienstverweigerung, Rüstungssteuerboykotte und ähnliches,
  • die Versöhnungsarbeit vor und nach einem Krieg, die sich Kriegsopfern zuwendet,
  • ein aktives Weltbürgertum und Weltföderalismus,
  • die Friedenserziehung, die gesellschaftliches Bewusstsein zu verändern sucht, um weitere Kriege nachhaltig zu verhindern.

Wurzeln

Die in Westeuropa und Nordamerika entstandene Bemühung, Krieg als Mittel zwischenstaatlicher Konfliktaustragung politisch, organisatorisch und vertraglich auszuschließen, ist historisch aus verschiedenen Vorläufern entstanden: Minderheiten des Christentums wie den sogenannten Friedenskirchen, dem Humanismus der Reformationszeit sowie der Philosophie der Aufklärung. Die geistigen Wurzeln dieser Strömungen reichen bis in das Altertum zurück. Die Aufklärung insbesondere wurde auch, durch die europäische Rezeption persischer, vedischer, buddhistischer und chinesischer Schriften im 17. und 18. Jahrhundert, aus asiatischen Quellen gespeist.

So findet sich auch in frühen Überlieferungen Süd- und Ostasiens die Idee des Friedens durch Beendigung von Krieg und Abkehr von kriegerischer Gewalt: sei es als Sehnsucht Betroffener, ethisches Ideal, jenseitige Zukunftsverheißung oder konkrete Utopie.

China, Indien und Japan

Ein Volkslied der Kaisergarde aus dem chinesischen Buch der Lieder (Shījīng), entstanden zwischen 1000 und 700 v. Chr., lautet in einer deutschen Nachdichtung von Klabund:[3] [4]

„General!
Wir sind des Kaisers Leitern und Sprossen!
Wir sind wie Wasser im Fluss verflossen -
Nutzlos hast du unser rotes Blut vergossen -
General! […]
Unsre Kinder hungern, unsre Weiber heulen -
Unsere Knochen in fremder Erde verfaulen - […]
Welche Mutter hat noch einen Sohn?“

An diese Kritik anknüpfend versuchten die chinesischen Weisen Laotse und Konfuzius Frieden durch innerseelische wie politische Balance der Kräfte zu erreichen, ohne den Krieg überhaupt in Frage zu stellen.

Im Hinduismus ist Frieden auf Erden nur denkbar als Wirkung der spirituellen Einung der Menschenseele (Atman) mit der Weltseele, dem Brahman. Allein dadurch kann für die Veden der unheilvolle Zusammenhang von Karma und ewiger Reinkarnation, also die Vergeltungskausalität, überwunden werden. Die Bhagavadgita lehrt daher, dass Krieg und Kampf nie aufhören werden. Jedoch berühren sie den, der mit dem Göttlichen eins wird, nicht mehr. Das Kastenwesen blieb daher unangetastet.

Der Jainismus lehrt das asketische Ideal des Nichtverletzens (Ahimsa) und verbietet deshalb das Töten jedes Lebens. Damit versucht der Weise Abstand zu der in schicksalhafte Gewalt verstrickten Welt zu gewinnen, ohne davon ihre Veränderung zu erwarten. Nur die Erlösten erreichen den ewigen Frieden. Dennoch folgerte Gandhi daraus im 20. Jahrhundert politisch wirksame strikte Gewaltlosigkeit.

Der Buddhismus übernahm das Gebot des Nichtverletzens für die Mönche, abgemildert auch für die Laien. Die Verpflichtung zu Mitgefühl und Barmherzigkeit mit allen Lebewesen ist sowohl Weg zur Erleuchtung als auch deren Folge. Daraus ergab sich eine gewaltlose Konfliktbewältigung, die seit dem Großreich Ashokas (3. Jahrhundert v. Chr.) auch auf die Politik ausstrahlte. Dabei blieb die Friedenserwartung an die Figur des „guten Herrschers“ gebunden und setzte dessen unbeschränkte Machtfülle voraus. So kam es auch im buddhistischen Einflussbereich zu Ausbrüchen von intoleranter Gewalt gegen Andersgläubige, zum Beispiel in Japan.[5]

Griechisch-römische Antike

Eines der ersten Zeugnisse von der kritischen Betrachtung des Krieges findet sich bei Pindar (Fragmentum 110):

„Süß ist der Krieg nur dem Unerfahrenen, der Erfahrene aber fürchtet im Herzen sehr sein Nahen.“

Der Peloponnesische Krieg veranlasste Aristophanes um 421 v. Chr. zur Dichtung seiner Komödie Eirene, in der er ein Gebet um panhellenischen Frieden einflocht. 411 v. Chr. verfasste er zudem die Komödie Lysistrata, in der die Frauen ihre kriegführenden Männer durch Liebesentzug zum Frieden zwingen.

Der Hellenismus erweiterte die Friedensidee auf die umgebenden Völker, verstand sie aber parallel zu den Eroberungsfeldzügen Alexanders des Großen als gewaltsame Befriedung der Barbaren, also als Ergebnis militärischer Siege. Er bezeugt auch den Bau eines Eirene-Altars nach dem Friedensschluss zwischen Sparta und Athen (um 375 v. Chr.). Der dortige Opferkult sollte den brüchigen politischen Frieden sichern.

Die klassische griechische Philosophie entfaltet erstmals den Gedanken, dass Krieg nur durch das übergeordnete Ziel des Friedens zu rechtfertigen sei (z.B. Aristoteles, Nikomachische Ethik 1177b). Dies wird eingeschränkt durch die Bestätigung der in Freie und Sklaven getrennten Gesellschaftsordnung, die es zu bewahren gelte. Zwar galt Eintracht (lat. concordia) unter Menschen als hohe Tugend, wirkt aber kaum verändernd auf gewaltverursachende Verhältnisse ein.

Diese Tradition übernahmen die gebildeten Römer zum Teil; so befasste sich eine verlorene Schrift des Varro (Logistoricus Pius de Pace) mit diesem Thema. Von Cicero (106–43 v. Chr.) ist das Zitat überliefert: Der ungerechteste Friede ist immer noch besser als der gerechteste Krieg. Auch in den Dichtungen von Vergil (70–19 v. Chr.) und Horaz lässt sich grundsätzliche Kritik am Krieg finden.

In der römischen Rechtstradition gewann Frieden dann Bedeutung als höchstes politisches Ziel der Staatskunst. Die Idee der Pax Romana war seit der toleranten Religionspolitik Caesars Gemeingut; sie blieb freilich von Expansion und Unterwerfung abhängig. Friedensstiftung war seit der römischen Kaiserzeit gleichbedeutend mit totaler Militärherrschaft. Sie wurde ganz auf die Person des Herrschers konzentriert, der sein Alleinrecht zum Setzen der allgemeinen Rechtsordnung im Kaiserkult absicherte.

Biblische, exilisch-nachexilische Prophetie

Peace-Graffiti in Herzliya / Israel

Der Tanach überliefert eine wahrscheinlich im Babylonischen Exil (586–539 v. Chr.) entstandene Prophetie des Völkerfriedens (Jes 2,2–5 EU; vgl. Mi 4,1-5):

„Am Ende der Tage wird es geschehen: […] von Zion kommt die Weisung des Herrn, aus Jerusalem sein Wort. Er spricht Recht im Streit der Völker, er weist viele Nationen zurecht. Dann schmieden sie Pflugscharen aus ihren Schwertern und Winzermesser aus ihren Lanzen. Man zieht nicht mehr das Schwert, Volk gegen Volk, und übt nicht mehr für den Krieg. Ihr vom Haus Jakob, kommt, wir wollen unsere Wege gehen im Licht des Herrn.“

Frieden durch universale Ab- und Umrüstung erscheint hier als Folge der weltweiten Anerkennung JHWHs beim Endgericht; dieses Ziel der Geschichte soll das Handeln der Gläubigen schon bestimmen. Diese Verheißung wurde in die vorexilische Prophetie Michas integriert, so dass sie die Alternative zur dort kritisierten Ausbeutung der Armen und Korruption der Tempelpriester bildete. Sie wurde auch von nachexilischen Propheten wie Joel und Sacharja aufgegriffen.

Urchristentum

Jesus von Nazaret bekräftigte nach dem Neuen Testament die Friedensverheißungen der biblischen Propheten mit seiner Verkündigung des Reiches Gottes für die Armen (Mt 5,9 EU):

„Selig, die Frieden stiften, sie werden Söhne Gottes genannt werden.“

Gemäß seiner Tora-Auslegung in der Bergpredigt sollten seine Nachfolger Nächstenliebe durch den Verzicht auf Rache, Gegengewalt und Feindesliebe verwirklichen (Mt 5,38–48 EU). Sie sollten keine Waffen tragen, auf bewaffnete Verteidigung ihres Glaubens verzichten und Jesu Gebotsauslegung allen Völkern nahebringen.

Die Urchristen verstanden Jesu Kreuzigung als Vorwegnahme des Endgerichts durch die stellvertretende Schuldübernahme und den Gewaltverzicht des Sohnes Gottes ([[Vorlage:Bibel: Angabe für das Buch ungültig!|Phi]] 2,5–11 EU). So schärfte Paulus von Tarsus im Epheserbrief seiner Gemeinde ein (Eph 2,14ff EU):

„ER ist unser Frieden, der aus beiden [den verfeindeten Juden und Fremdvölkern] eins gemacht hat und den Zaun, der dazwischen war, abgebrochen hat, nämlich die Feindschaft:
indem er […] aus beiden einen neuen Menschen schuf und Frieden machte und beide versöhnte mit Gott in einem Leib durch das Kreuz, an dem er die Feindschaft getötet hat.“

In Person und Lebenshingabe Jesu Christi sehen die Christen das endgültige Versöhnungsgebot Gottes. Darum galt Mitgliedschaft im Christentum der ersten drei Jahrhunderte meist als unvereinbar mit dem Kriegsdienst.

Friedenskirchen

Nach der Konstantinischen Wende (313) wurden zuvor aus dem Heer entlassene getaufte Soldaten wieder aufgenommen und befördert. In wenigen Jahren wurde der ur- und frühchristliche Pazifismus von einer Bejahung und Forderung des Kriegsdienstes abgelöst. Nachdem Kaiser Theodosius I. das Christentum 380 zur Staatsreligion erhoben hatte, durften nur noch Christen in das Heer aufgenommen werden. Daraufhin erlaubte die christliche Theologie Christen im Staatsdienst die Teilnahme an Polizei- und Kriegsdiensten auch offiziell. Augustinus von Hippo entwickelte in seiner Schrift De Civitate Dei (420) die Lehre vom Gerechten Krieg, deren Kriterien für die Großkirchen bis heute gültig blieben.

Christliche Minderheiten, die den Kriegsdenst weiterhin ablehnten, wurden im Hochmittelalter als Ketzer verfolgt, so die Waldenser, Hussiten und Böhmischen Brüder. In und nach der Reformationszeit kamen weitere pazifistische Gruppen hinzu, so die Paulikianer, Mennoniten, Quäker und ein Teil der Baptisten. Diese Gruppen werden heute als Friedenskirchen zusammengefasst. Sie beeinflussten die Entstehung des modernen Pazifismus, besonders die Quäker in den USA, und wirkten seit den Weltkriegen auch stärker auf die Haltung der Großkirchen zum Krieg ein.

Humanismus

Durch die Kommentare des arabischen Gekehrten Ibn Ruschd zum Werk des Aristoteles hatte der griechische Humanismus in Europa erneut Anklang gefunden. In der Folge verfassten und veröffentlichten christliche Humanisten seit dem 16. Jahrhundert Friedensappelle und Friedensentwürfe. Deren gesellschaftliche und gesamtpolitische Wirkungen blieben im kriegerischen Europa begrenzt.

Erasmus von Rotterdam schrieb 1515 den Traktat Dulce Bellum Inexpertis. Darin äußerte er, wer es süß und ehrenvoll finde, für das Vaterland zu sterben (dulce et decorum est pro patria mori), der wisse nicht, was Krieg sei. 1517 folgte seine Schrift Querela pacis, „Die Klage des Friedens“. 1623 schrieb Pierre Dubois Emeric Cruce Der Neue Lineas, 1638 schrieb Maximilien de Sully Grand Dessein. Von William Penn erschien 1693 der Essay über den Frieden Europas, von Abbe de Saint-Pierre 1712 die Schrift Projet pour rendre la paix perpetuelle en Europe.

Philosophie der Aufklärung

Erst seit der Verbreitung der allgemeinen Menschenrechte erschien Frieden als vernünftig begründete Idee mit Anspruch auf politische Realisierung. Immanuel Kant verfasste 1795 dazu die wohl einflussreichste Schrift Zum ewigen Frieden, nachdem Jean Jacques Rousseau bereits 1761 eine Abhandlung mit dem gleichen Titel veröffentlicht hatte. Kant schlug in seinem Buch die Entwicklung eines vertraglich abgesicherten universellen Völkerrechts vor, das den Frieden und umfassende Abrüstung der Armeen gewährleisten sollte. Der Begriff des ewigen Friedens (Franz. paix perpetuelle, Engl. perpetual peace) beinhaltet einen Idealtypus, d.h. einen Zustand, der immer wieder neu hergestellt und gesichert werden muss, um von Dauer zu sein.

Es folgte in Deutschland 1800 die Schrift Über den ewigen Frieden von Friedrich von Gentz. Er war gegenüber der idealistischen Vorstellung, Frieden durch vernünftige Einsicht zu erreichen, skeptisch und versuchte daher stärker als Kant, die politischen Bedingungen für Frieden zu beschreiben. Er sah sie in einer internationalen Rechtsordnung, die auch das Menschenrecht der jeweils Andersdenkenden und Andersgläubigen schützen müsse. Damit rückte er die Durchsetzung von Rechtsstaatlichkeit in den Mittelpunkt friedenspolitischer Überlegungen, wobei er die kommende Steigerung der bewaffneten Konflikte zum totalen Krieg im Zeitalter des Nationalismus und Imperialismus schon vorausahnte.

Geschichte

Friedensgesellschaften

Weder christliche Friedensappelle noch aufgeklärte Friedensentwürfe hatten, von den Haager Friedenskonferenzen abgesehen, direkte politische Wirkungen. Der moderne Pazifismus entwickelte sich erst als Reaktion auf die immer blutigeren Nationalkriege auf dem europäischen Festland und im Zuge der Internationalisierung der Arbeiterbewegung, innerhalb derer sich sonst nur der Anarchismus für Kriegsdienstverweigerung und Streik gegen den Krieg aussprach.[6] Der sogenannte bürgerliche Pazifismus entstand zu Beginn des 19. Jahrhunderts durch Gründung von Friedensgesellschaften in zahlreichen europäischen Ländern und den USA (New York Peace Society 1815, London Peace Society, 1816).

Seine Vertreter im deutschsprachigen Raum waren Bertha von Suttner, Alfred Hermann Fried und Ludwig Quidde. Alle drei erhielten den Friedensnobelpreis (1905/1911/1927). 1892 gründete Suttner die Deutsche Friedensgesellschaft, die älteste noch bestehende pazifistische Vereinigung in Deutschland, die sich gegen den preußisch-wilhelminischen Militarismus wandte.

Bei den Haager Friedenskonferenzen von 1899 und 1907 wurden erste Ansätze eines verbindlichen Völkerrechts vereinbart und damit pazifistische Forderungen aufgegriffen.

Erster Weltkrieg

In der Julikrise 1914 erlitt der bis dahin aufstrebende Pazifismus einen schweren Rückschlag und geriet im Ersten Weltkrieg in allen beteiligten Staaten in die Defensive. Pazifisten mussten vielfach untertauchen oder ihr Land verlassen, um nicht wegen Landesverrats inhaftiert zu werden. Jean Jaurès wurde 1914 in Paris von einem Nationalisten ermordet. Manche Friedensgesellschaften, darunter die deutsche, schwenkten im Krieg auf einen nationalistischen Kurs ein und vermieden Aufrufe zur Kriegsdienstverweigerung und Machtkontrolle der Militärführungen, um nicht vollständig verboten zu werden.

Die Sozialdemokratie vertrat bis 1914 theoretisch ebenfalls die langfristige Abschaffung von Kriegen als politisches Ziel, ohne Waffengewalt auf dem Weg auszuschließen. Pazifistische Positionen blieben in ihr in der Minderheit. Der SPD-Vorsitzende Hugo Haase setzte sich allerdings schon ab 1911 für internationale Abrüstungsverhandlungen und einen Völkerbund ein. Im Juli 1914 organisierte er zahlreiche Kundgebungen gegen den drohenden Krieg und sprach sich in der SPD-Reichstagsfraktion entschieden gegen die Annahme der Kriegskredite aus. Doch mit dieser Position blieb er in der Minderheit. Nachdem die SPD am 4. August 1914 den Kriegskrediten des Kaiserreichs zugestimmt und damit internationale Vereinbarungen zur Verhütung eines europäischen Krieges gebrochen hatte, wurde diese Minderheit nochmals erheblich geschwächt.

Erst nach dem zweiten Kriegswinter fanden Antimilitaristen wie Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg, Haase und seine engen Freunde Eduard Bernstein, Wilhelm Dittmann und Karl Kautsky, aber auch von ihrer anfänglichen Kriegszustimmung abgerückte Fraktionsmitglieder der SPD wie Kurt Eisner wieder zunehmend Gehör. Die im Spartakusbund illegal organisierten Spartakisten wandten sich gegen die Vorstellung, Frieden ohne Sturz der kriegführenden Eliten auf dem Verhandlungsweg erreichen zu können. Diesen Weg favorisierten SPD-Vertreter wie Haase, Kautsky und Bernstein in der 1917 neu gegründeten USPD, der der Spartakusbund gleichwohl beitrat.

Weimarer Zeit

Demonstration von Pazifisten 1921 im Berliner Lustgarten

Nach der Novemberrevolution und Gründung der Weimarer Republik erhielten die Pazifisten größeren Zulauf und eine Massenbasis, die sich etwa bei Demonstrationen zum jährlichen Antikriegstag am 1. August zeigte. Sie wurde aber wegen der Zerstrittenheit der Demokraten und Linksparteien kaum politisch wirksam. Trotz der militärischen Niederlage 1918 galten Pazifisten in den meisten Medien und Parteien als „Vaterlandsverräter“. Mit der staatlich organisierten Propaganda zur Kriegsschuldfrage, dem Vertragsrevisionismus und der Wahl Paul von Hindenburgs zum Reichspräsidenten zeigte sich ein nationalistischer Konsens, der den Aufstieg der NSDAP begünstigte. Dem widersprachen auf verschiedene Weise vor allem Künstler, Dichter, u.a. Kulturschaffende, darunter Erich Kästner, Kurt Tucholsky, Käthe Kollwitz, Erich Maria Remarque, die Soziologin Hanna Meuter und weitere.

Der 1928 abgeschlossene Briand-Kellogg-Pakt, in dem die unterzeichnenden Staaten darauf verzichteten, den Krieg zum Werkzeug ihrer Politik zu machen, war der Versuch, Kriege allgemein zu ächten und auch eine Grundlage für nachfolgende juristische Verfahren und Urteile zur Völkerrechtswidrigkeit von Angriffskriegen wie etwa bei den Nürnberger Prozessen.

Seit den 1930er Jahren waren Pazifisten erneut öfter unmittelbaren Repressalien ausgesetzt. So wurde Carl von Ossietzky 1931 im sogenannten Weltbühne-Prozess wegen angeblicher Spionage verurteilt. Der unabhängige sozialistische Pazifist Emil Gumbel wurde nach anfänglichem Widerstand der badischen Regierung 1932 als Professor an der Universität Heidelberg entlassen. Der evangelische Theologe Günther Dehn durfte 1932 auf Druck des NSDStB seine Professur in Halle/Saale nicht antreten. In Großbritannien musste Bertrand Russell 1918 wegen seines pazifistischen Engagements eine Gefängnisstrafe verbüßen.

Nach 1945

Die bedeutendsten Vertreter des gewaltlosen Widerstands im 20. Jahrhundert waren Mahatma Gandhi in Indien, Martin Luther King in den USA sowie Nelson Mandela in Südafrika.

Alternativen zu bewaffneter Konfliktaustragung

Als Alternativen zu militärischen Maßnahmen haben Pazifisten im 19. und 20. Jahrhundert eine Reihe von theoretischen Gegenmodellen und alternativen Handlungsansätzen entworfen und mit praktischen Schritten teilweise auch durchgesetzt:

  • Weltorganisationen wie den Haager Staatenverband, den Völkerbund und die UNO, die bewaffnete Konflikte regulieren und vermeiden helfen sollen,
  • die Rüstungskonversion als Abbau von Kriegsindustrie und Umstellung auf zivile Produktion, auch um den Sorgen der dort Beschäftigten vor Verlust ihrer Arbeitsplätze zu begegnen und nachhaltige Absatzchancen zu schaffen.
  • die Kriegsdienstverweigerung schon in Friedenszeiten. Diese wurde seit 1945 als Grundrecht in den meisten europäischen Verfassungen verankert, ist aber in sehr vielen Staaten, z.B. in der Türkei, legal nicht möglich. Häufig werden in Diktaturen Pazifisten, die den Kriegsdienst ablehnen, streng bestraft. In Deutschland wird eine Totalverweigerung, die den gesetzlich vorgeschriebenen Ersatzdienst ablehnt, gerichtlich verfolgt.
  • Desertion im Kriegsfall. In jedem Krieg versuchen einige Wehrpflichtige oder Berufssoldaten, den Kriegsdienst als Soldaten zu verweigern oder die kämpfenden Truppen zu verlassen. Während dies in der militärischen Wertorientierung als „Fahnenflucht“ und/oder „Landesverrat“ bewertet wird, sehen Pazifisten darin eine notwendige Reaktion und Wahrnehmung eines grundlegenden Menschenrechts.
  • gewaltfreie Protestformen wie den zivilen Ungehorsam, den gewaltfreien Widerstand, den Generalstreik oder eine soziale Verteidigung. Diese aktiven Gegenmaßnahmen wären nach Meinung von Friedens- und Konfliktforschern auch im Falle einer militärischen Besetzung Erfolg versprechend und würden das Risiko der Selbstvernichtung im Zeitalter der Massenvernichtungsmittel verringern.

Dafür gibt es historische Beispiele: In der Situation der Besetzung der Tschechoslowakei durch die Armeen des Warschauer Pakts am 21. August 1968 verzichteten die damaligen Protagonisten des Prager Frühlings unter Alexander Dubček bewusst auf bewaffnete Gegengewalt. Der außerordentliche Parteitag der KPC beschloss am 23. August stattdessen, die Bevölkerung zur gewaltfreien Verweigerung jeder Kollaboration mit den Besatzern aufzurufen. Dies trugen die Tschechoslowaken in den Folgemonaten geschlossen mit, vermieden so einen militärischen Zusammenprall mit zu erwartenden vielen Toten, verhinderten zunächst die Einsetzung einer moskautreuen Regierung und stellten die „Befreier“ als Besatzer bloß. Hier wurde gewaltfreie „soziale Verteidigung“ als spontanes, aktives und massengestütztes Konzept in seinen Chancen, aber auch Grenzen sichtbar.

Einzelbelege

  1. Karl Holl: Pazifismus, in: Helmut Donat, Karl Holl (Hrsg.): Die Friedensbewegung, Hermes Handlexikon, Econ Taschenbuch Verlag, 1. Auflage, Düsseldorf 1983, ISBN 3-612-10024-6, S. 300
  2. Karl Holl: Pazifismus, in: Hermes Handlexikon: Die Friedensbewegung, 1983, S. 299 und 301
  3. Kurt Fassmann (Hrsg.): Gedichte gegen den Krieg, Kindler Verlag, 1961, S. 11
  4. Klabund, Michael Scherf, Henning Niemeyer-Lemke: Sämtliche Werke, Band 1, Teil 2, Rodopi, 2001, Seite 551
  5. Hans-Werner Gensichen: Artikel Frieden I. Religionsgeschichtlich, Theologische Realenzyklopädie Band 11, Walter de Gruyter, Berlin/New York 1983, S. 599-605
  6. Was ist eigentlich Pazifismus? - Zur Klärung eines politischen Begriffs von Wolfram Beyer im Lexikon der Anarchie, überarbeiteter Text Online verfügbar

Literatur

Historische Quellen
  • Botho Laserstein (Hrsg.): Jean-Jacques Rousseaus Schriften zum Ewigen Frieden. Mit einem Vorwort von Professor Dr. Georg Friedrich Nicolai, Verlag Hans Robert Engelmann, Berlin 1920
  • Walther Schücking: Die Organisation der Welt. Alfred Kröner Verlag, Leipzig 1909
  • Ders.: Der Staatenverband der Haager Konferenzen. Verlag Duncker & Humblot, München und Leipzig 1912
  • Hans Wehberg: Die Aechtung des Krieges. Verlag Franz von Vahlen, Berlin 1930
  • Ders.: Ludwig Quidde. Bollwerk-Verlag Karl Drott, Offenbach a.M. 1948
Historische Wurzeln
  • Barbara Bleisch, Jean-Daniel Strub (Hrsg.): Pazifismus. Ideengeschichte, Theorie und Praxis.Haupt, Bern 2006, ISBN 3-258-06947-6
  • Theodor Körner: Iuramentum und frühe Friedensbewegung (10.- 12. Jahrhundert). J. Schweitzer Verlag, Berlin 1977, ISBN 3-8059-0670-6
  • Kurt von Raumer: Ewiger Friede. Friedensrufe und Friedenspläne seit der Renaissance. Freiburg/München 1953
  • Wolfgang Benz (Hrsg.): Pazifismus in Deutschland. Dokumente zur Friedensbewegung 1890-1939. Frankurt am Main 1988, ISBN 3-596-24362-9
  • Max Scheler: Die Idee des Friedens und der Pazifismus, Bern 1974
  • Richard Coudenhove-Kalergi: Vom Ewigen Krieg zum großen Frieden. Musterschmidt-Verlag, Göttingen, Berlin, Frankfurt 1956,
Geschichte
  • Karl Holl: Pazifismus in Deutschland. Suhrkamp, Frankfurt am Main 1988.
  • Karlheinz Lipp (Hg): Pazifismus im Ersten Weltkrieg. Ein Lesebuch. Centauraus, Pfaffenweiler 2004, ISBN 3-8255-0492-1
  • Karl Holl, Wolfram Wette (Hrsg.): Pazifismus in der Weimarer Republik. Ferdinand Schöningh, Paderborn 1981, ISBN 3-506-77457-3.
  • D. Hart, D. Schubert, R. M. Schmidt: Pazifismus zwischen den Weltkriegen. Heidelberg 1985
  • Wolfgang Benz: Pazifismus in Deutschland: Dokumente zur Friedensbewegung 1890-1939. Frankfurt am Main 1988
Christlicher Pazifismus während und nach dem zweiten Weltkrieg
  • Johannes Ude: Du sollst nicht töten!, verfasst 1941-1944, Hugo Mayer Verlag Dornbirn 1948
  • Jean Lasserre: Der Krieg und das Evangelium (Original: La guerre et l'évangile, 1953), Chr. Kaiser Verlag München 1956. Enthalten in CD-ROM Handbibliothek Christlicher Friedenstheologie, Directmedia Publishing GmbH Berlin 2004, ISBN 3-89853-013-2
Einzelthemen
  • Kurt Hiller: Pazifismus der Tat – Revolutionärer Pazifismus, Berlin 1981
  • Helmut Kramer, Wolfram Wette (Hrsg.): Recht ist, was den Waffen nützt - Justiz und Pazifismus im 20. Jahrhundert. Aufbau-Verlag 2004, ISBN 3-351-02578-5
Wiktionary: Pazifismus – Bedeutungserklärungen, Wortherkunft, Synonyme, Übersetzungen