Amok
Amok (malaiisch: meng-âmok, in blinder Wut angreifen und töten) ist eine psychische Extremsituation, die durch Unzurechnungsfähigkeit und absolute Gewaltbereitschaft gekennzeichnet werden kann.
Heute bezeichnet der Begriff meist eine plötzliche, willkürliche, nicht provozierte Gewaltattacke mit erheblich fremdzerstörerischen Verhalten mit darauffolgender Erinnerungslosigkeit und Erschöpfung und teilweisen Umschlag in selbstzerstörerische Reaktionen. Täter, die in einer solchen Ausnahmesituation Straftaten begehen können, nennt man Amokläufer oder auch Amokschützen, falls sie Schusswaffen gebrauchen, oder Amokfahrer, falls sie Fahrzeuge einsetzen.
Definitionen
Im DSM-IV wird Amok in den Rubriken Dissoziative Störungen und Störungen der Impulskontrolle aufgeführt, im Glossar kulturabhängiger Syndrome wird Amok als „eine dissoziative Episode, die durch eine Periode des Grübelns charakterisiert ist, auf die ein Ausbruch gewalttätigen, aggressiven oder menschengefährdenden Verhaltens folgt, das sich auf Personen und Objekte richtet“ definiert.[1]
Ähnlich, wie der DSM-IV, sieht die Weltgesundheitsorganisation (WHO) Amok als kulturspezifische psychische Störung. Im Gegensatz zum DSM-IV empfiehlt das ICD-10 die Einordnung des Amok in das bestehende System unter Persönlichkeits- und Verhaltensstörungen im Kapitel 6 (F68.8). Amok wird im Anhang II zum ICD-10 (Forschung und Praxis) für Indonesien und Malaysia aufgeführt und wie folgt beschrieben: „Eine willkürliche, anscheinend nicht provozierte Episode mörderischen oder erheblich destruktiven Verhaltens, gefolgt von Amnesie oder Erschöpfung. Viele Episoden gipfeln im Suizid“ (S.207).[2]
Begriffsgeschichte
Ursprünglich war Amok keine private Einzeltat, sondern im Gegenteil eine im indonesischen Kulturkreis kriegerische Aktion, bei der einige wenige Krieger eine Schlacht dadurch zu wenden versuchten, indem sie ohne jegliche Rücksicht auf Gefahr den Feind blindwütig attackierten. Dieses Muster findet sich auch beim Berserker.
Im 17. bis zum 19. Jahrhundert erreichte der Begriff den westlichen Kulturkreis. Dies geschah insbesondere durch europäische Berichterstatter, beispielsweise durch Captain Cook, wurde aber weiterhin mit der malaiisch-indonesischen Kultur in Verbindung gebracht. Im westlichen Sprachgebrauch erfuhr die Bezeichnung bis heute eine erweiterte Bedeutung und ist inzwischen bedeutungsgleich für jegliche Art blindwütiger Aggression mit oder ohne Todesopfer.[3]
Noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts glaubte man, dass Amokläufer nur im Vollrausch ihre Tat begingen. In Meyers Konversations-Lexikon aus dem Jahr 1888 heißt es dazu:
- Amucklaufen (Amoklaufen, vom javan. Wort amoak, töten), eine barbarische Sitte unter mehreren malaiischen Volksstämmen, zum Beispiel auf Java, besteht darin, dass durch Genuss von Opium bis zur Raserei Berauschte, mit einem Kris (Dolch) bewaffnet, sich auf die Straßen stürzen und jeden, dem sie begegnen, verwunden oder töten, bis sie selbst getötet oder doch überwältigt werden.
Der Begriff Amoklauf erfuhr eine Bedeutungsveränderung, da er für Taten benutzt wird, die keinesfalls spontan erfolgen, sondern geplant und gelegentlich auch durch sogenannte Leakings angekündigt werden können. Unterschieden werden zudem zwei Formen von Gewalttaten, die als Amokläufe bezeichnet werden: die rein fremdgerichtete Aggression und der erweiterte Suizid.[4]
In der US-amerikanischen Kriminologie gibt es weitere sprachliche Unterscheidungen, wie den so genannten spree killer (abgeleitet von killing spree – ins Deutsche übersetzt etwa Töten im Rausch). Während der als spree killer bezeichnete Täter sein Wirkungsgebiet sehr weit ausdehnen kann, beschränkt sich der klassische Amokläufer auf ein relativ kleines Gebiet. Im Gegensatz zu einem Serienmörder sind die Taten von Amokläufern auf einen eher kurzen Zeitraum beschränkt und unterliegen selten sexualpathologischen Motiven.
Die im angloamerikanischen Raum heute gebräuchliche Bezeichnung School Shooting wird im deutschen Sprachraum oft als Schulamoklauf bezeichnet.
School Shooting
In vielen wissenschaftlichen Veröffentlichungen hat sich für schulbezogene Amoktaten der Begriff School Shooting durchgesetzt, wenngleich nicht alle Taten mit Schusswaffen oder jede Schießerei auf Amoktaten zurückzuführen sind. Mit diesem Begriff werden Tötungen und Tötungsversuche von Jugendlichen bezeichnet, die in einem direkten Bezug zu einer schulischen Einrichtung begangen werden. Dieser Bezug kann sich in der Wahl der Opfer insbesondere auch nach ihrer Funktion in der entsprechenden Bildungseinrichtung äußern. Amokläufe bzw. Massenmorde an Schulen und schwere zielgerichtete Gewalttaten an Schulen werden häufig synonym verwendet, müssen jedoch qualitativ unterschieden werden.[5]
In Medien ist häufig auch von Schulmassakern die Rede.[6]
Forschung
Die empirische Forschung hat bis heute sehr heterogene Befunde zu Amoktaten gefunden. 50% und mehr Täter haben mit psychische Störungen.[7] Ein geringer Prozentsatz hat eine psychiatrische Vergangenheit.[8] Es besteht ein Konflikt in der Forschung, verbindliche Definitionen und Abgrenzungen für das Phänomen Amoktat zu finden. Die meisten empirischen Befunde stützen sich nicht auf die Klassifikation des Amok im Sinne des ICD-10, sondern eigenen Einschlusskriterien.
Die Empirik zu Amoktaten wird zur Zeit zumeist als ungenügend bewertet, da es zum einen eine niedrige Prävalenz gibt sowie erhebliche Unterschiede bei den Fallkonstellationen auftauchen. Zudem fehlt es an einer einheitlichen Definition sowie der zweifelhaften interkulturellen Übertragbarkeit von empirischen Befunden und dem häufigen Tod des Täters. Die meisten Fälle zeigen einen unmittelbar nach der Tat anschließenden Suizid(-versuch) auf. Daher wird auch von Homizid-Suizid gesprochen. Angenommen wird, dass der Suizid keine spontane Reaktion ist, sondern ein geplantes Tatelement darstellt. Darüber hinaus wird vermutet, dass Täter sich suizidieren, um eine Rückkehr in die Hauptrealität nach der Tat zu vermeiden.[9]
Monokausale Erklärungsansätze, die Amoktaten auf eine einzige Ursache zurückführen, scheiterten bei der Erklärung des Phänomens. Vielmehr wirken Voraussetzungen des sozialen Umfelds mit Voraussetzungen in der Persönlichkeit des Amokläufers zusammen. Während früher ein Amoklauf als direkte Folge einer individuellen psychischen Störung angesehen wurde, gilt diese Erklärung heute als widerlegt. Als Auslöser eines Amoklaufs gelten eine fortgeschrittene psychosoziale Entwurzelung des Täters, der Verlust beruflicher Integration durch Arbeitslosigkeit, Rückstufung oder Versetzung, zunehmend erfahrene Kränkungen sowie Partnerschaftskonflikte. Meist spielen vor einem Amoklauf mehrere Faktoren eine Rolle. Dabei sind diese nicht unmittelbar direkt vor dem Ereignis gelegen, sondern können bereits seit längerer Zeit bestehen.

Die Täter sind meist Männer mit aggressions- und konfliktgehemmter Persönlichkeit. Typisch sei, dass es sich bei Amokläufen nicht um Affekthandlungen (relativ spontanen, vom Täter nicht kontrollierbaren Handlungen aus starken Gefühlen heraus) handelt, sondern vielmehr um eine Folge allmählicher Entwicklung gewalttätiger Gedanken und Fantasien.[10]
Bei einer statistischen Auswertung durch A. Schmidtke, S. Schaller, I. Müller, D. Lester und S. Stack 2002 wurden Zeitungsberichte von 143 Ereignissen aus den Jahren 1993 bis 2001 ausgewertet. Dabei wiesen sieben Prozent der Täter eine psychiatrische Vorgeschichte auf. Tatmotiv war meist Rache (61 Prozent).[3] Andere Untersuchungen wie die Auswertung von 30 nordamerikanischen Amokläufen von Hempel, Meloy & Richards (1999) gehen von einem Täteranteil von 40 bis 67 Prozent mit psychotischen Symptomen aus, wovon die meisten unter paranoiden Wahnvorstellungen litten.[11] Adler et al. hatten 1993 ebenfalls aus Presseberichten von 196 Fällen eine Quote von 55 Prozent psychisch erkrankter Täter ermittelt, wovon 27,8 % an Psychosen, 9,3 % an Wahnerkrankungen, 26,9 % an schweren Persönlichkeitsstörungen, 25,9 % unter Intoxikationen und 10,2 % an Affektstörungen litten.[12]
Phasenartiger Ablauf
In seiner Dissertation Über nicht kulturgebundene Amokläufe hat Schünemann 1992 die These der sogenannten Amokphasen aufgestellt,[13] der typische Amoklauf spielt sich demnach nach folgendem Muster ab:
Vorstadium
Zunächst erfolgt das Vorstadium eines mehr oder weniger langen Brütens und Grübelns. Dem potenziellen Täter erscheint sein Umfeld zusehends undurchdringlich, seine Sichtweise der Welt verdunkelt sich mehr und mehr, er isoliert sich selbst, vor allem bezüglich seiner sozialen Kontakte und zieht sich weitgehend aus der Welt zurück, die für ihn immer bedrohlichere Züge annimmt. Die erlernten Anpassungsmechanismen zerfallen allmählich, soziale und psychische Desintegration vermischen sich und setzen einen Regressionsprozess in Gang.
Tat
Unmittelbar der Tat voraus geht ein Wutanfall, der sich dann in einer Reihe von Tötungshandlungen ohne ersichtliches Motiv entlädt. Dabei wird der Blick des Amokläufers starr, er reagiert kaum auf andere Reize, ist nicht mehr ansprechbar. Während der Tat ist die Impulskontrolle ausgeschaltet, der Täter befindet sich in einem Zustand der inneren Leere. Diese Phase wird auch die "Tötungsphase" genannt, die in der Regel nicht länger als 15 bis 20 Minuten dauert, in der der Täter aber nicht ansprechbar oder zu überzeugen ist.
Abschluss
Der Täter befindet sich danach oft in einem Zustand der Amnesie und Erschöpfung oder zeigt selbstzerstörerisches Verhalten bis hin zum Selbstmord. Statistisch gesehen töten sich 27 Prozent der Täter selbst, in 16 Prozent der Fälle werden sie getötet, wobei nicht ausgeschlossen werden kann, dass eine Absicht zum suicide by cop – die selbstmörderische Absicht, sich von der Polizei erschießen zu lassen – bestehen kann.[3]
Behandlung in der Literatur
Stefan Zweig schildert in seiner Novelle Der Amokläufer das Verhalten eines Arztes in einer psychischen Grenzsituation als amokähnlichen Zustand. Ebenfalls zu den Klassikern jener Literatur, die sich mit Amokläufen beschäftigt, ist die novellistische Studie "Bahnwärter Thiel" (erschien 1888) von Gerhard Hauptmann. Auch schrieb Morton Rhue in seinem Roman Ich knall euch ab!, welcher 2002 erschien, über einen fiktiven Amoklauf an einer amerikanischen High School. Durch die Schilderung aus der Sicht der zwei Amokläufer versuchte Rhue die Motivation hinter einer solchen Tat greifbar zu machen. Der Autor Manfred Theisen rückte 2005 in seinem Roman "Amok" (2005) erstmals einen deutschen Schul-Amokläufer in den Mittelpunkt seines Romans. Dabei lehnte er sich an den Amoklauf von Erfurt an und erzählte das Geschehen aus der Ich-Perspektive des Täters.
Literatur
- Richard Albrecht: Nur ein „Amokläufer“ ? – Sozialpsychologische Zeitdiagnose nach „Erfurt“. In: Recht und Politik, 38 (2002) 3, 143-152 (Auszug (PDF))
- Manfred Theisen: Amok. cbt, München 2005, 176 S.
- Lothar Adler: Amok: Eine Studie. Belleville, München 2000
- Nils Böckler, Thorsten Seeger: Schulamokläufer: Eine Analyse medialer Täter-Eigendarstellungen und deren Aneignung durch jugendliche Rezipienten. Juventa, Weinheim und München, 2010
- Frank Robertz, Ruben Wickenhäuser: Der Riss in der Tafel. Amoklauf und schwere Gewalt in der Schule. Springer, Heidelberg 2007
- Götz Eisenberg: Amok – Kinder der Kälte: über die Wurzeln von Wut und Hass . Rowohlt-Taschenbuch, Reinbek bei Hamburg 2000
- Manfred Wolfersdorf und Hans Wedler (Hrsg.): Terroristen-Suizide und Amok. Regensburg 2002
- Adolf Gallwitz: Amok – Grandios untergehen, ohne selbst Hand anzulegen. In: Polizei heute, 6 (2001), 170–175
- Elsa Pollmann: Tatort Schule. Wenn Jugendliche Amoklaufen. Tectum Verlag, Marburg 2008
- Freerk Huisken: z. B. Erfurt. Was das bürgerliche Bildungs- und Einbildungswesen so alles anrichtet. VSA, Hamburg 2002, ISBN 3-87975-878-6, 128 Seiten
- Heiko Christians: Amok. Geschichte einer Ausbreitung. Aisthesis Verlag 2008, 301 Seiten, ISBN 978-3-89528-671-1
- Bryan Vossekuil: Final Report And Findings Of The Safe School Initiative: Implications For The Prevention Of School Attacks In The U.S., Verlag Diane Pub Co, 2004, ISBN 978-0-7567-3980-5
Weblinks
- Amok – Begriff und Geschichte auf der Psychiater-Website „Psychosoziale Gesundheit Net“
- Th. Knecht: Amok und Pseudo-Amok. (PDF; 122 kB) – Schweizer Archiv für Neurologie und Psychiatrie 150, 142–148
- Jens Hoffmann Amok – ein neuer Blick auf ein altes Phänomen. (PDF; 203 kB) – Auszug aus dem Buch Polizei & Psychologie (ISBN 3-935979-12-6)
- Lothar Adler: Amok – Vortrag im Rahmen der Ringvorlesung der Universität Erfurt „Gewalt und Terror“, 2002
- Amoktaten. (PDF; 225 kB) – Forschungsüberblick unter besonderer Beachtung jugendlicher Täter im schulischen Kontext, Kriminalistisch-Kriminologische Forschungsstelle Analysen Nr. 3/2007
Einzelnachweise
- ↑ T. Knecht: Amok und Pseudo-Amok. In: Schweizer Archiv für Neurologie und Psychiatrie 150, 1999, 142-148
- ↑ WHO (2004): Internationale Klassifikation psychischer Störungen: ICD-10 Kapitel V(F).
Diagnostische Kriterien für Forschung und Praxis. Hans Huber, Bern. - ↑ a b c Volker Faust: Psychosoziale Gesundheit
- ↑ Werner Stangl: Amok - ein Täter ohne Profil
- ↑ Nils Böckler, Thorsten Seeger: Schulamokläufer: Eine Analyse medialer Täter-Eigendarstellungen und deren Aneignung durch jugendliche Rezipienten. Juventa, 2010, S.16ff.
- ↑ Frank Robertz, Ruben Wickenhäuser: Der Riss in der Tafel – Amoklauf und schwere Gewalttaten in der Schule: Amoklauf und schwere Gewalt in der Schule. Springer, 2007, S.10
- ↑ Hempel et al., 1999 oder Adler et al., 1993
- ↑ Hoffmann, 2007 in LKA NRW, 2007, oder Schmidtke et al., 2002
- ↑ Amoktaten – Forschungsüberblick unter besonderer Beachtung jugendlicher Täter im schulischen Kontext. (PDF) Landeskriminalamt NRW: Kriminalistisch-Kriminologische Forschungsstelle Analysen, 3/2007
- ↑ afp: Stichwort Amoklauf, Tagesschau.de, 16. April 2007
- ↑ Jens Hoffmann: Amok – ein neuer Blick auf ein altes Phänomen (PDF) S. 403
- ↑ L. Adler, K. Lehmann, K. Räder, K.F. Schünemann: „Amokläufer“ – Kontentanalytische Untersuchung an 196 Pressemitteilungen aus industrialisierten Ländern. Literatur Fortschr Neurol Psychiat 1993;61:424–33. vgl auch Thomas Knecht: Amok und Quasi-Amok. (PDF)
- ↑ K.-F. Schünemann: Über nicht kulturgebundene Amokläufe. 1992. (Dissertation) S.105