Soziale Rolle
Die soziale Rolle meint umgangssprachlich die Rolle, die jemand im gesellschaftlichen Leben spielt, analog der Rolle, die ein Schauspieler in einem Theaterstück oder Film spielt - mit William Shakespeare: „All the world is but a stage.“ Beispiel: Diese Nachrichtenansagerin spielt durch ihre vielen Fernsehauftritte in Geschmacksfragen eine gewisse soziale Rolle.
Daher abgeleitet ist "soziale Rolle" der zentrale Begriff in der Rollentheorie der Soziologie geworden und beschreibt in einer einfachen Modellierung, vom Akteur her gesehen, welche Spielräume jemand in einer sozialen Position hat, und, von den anderen Akteuren her gesehen, was er daraus macht. Doch ist der „Rollen“-Begriff in den soziologischen Theorien vielfach und fruchtbar erweitert worden.
Geschichte
Historisch und bevor der Begriff "Rolle" redensartlich wurde, ist anzunehmen, dass Rollenhandeln als solches im Abendland mit der Entstehung des griechischen "Theaters" im 5. vorchristlichen Jahrhundert beobachtbar und auch auf anderen sozialen 'Bühnen' beschreibbar wurde, seit der Frühaufklärung vor allem auch im Spott, angesichts von Zeremonien ("Priestertrug") oder Heuchelei (der "Scheinheilige"). Eine klassische Darstellung, wie ein Angestellter seine soziale Rolle einfach nicht spielen will (oder kann), gab Herman Melville 1853 in seiner Erzählung "Bartleby, the Scrivener".
Rollenhandeln wurde seinerseits wieder auf dem Theater thematisiert, zumal in der Typenkomödie (in der jüngeren attischen Komödie, in der commedia dell'arte u.a.m. bis heute), wo Schauspieler eine Rollenfigur spielen, die eine Rolle zu spielen hat.
Jedoch wurde der wissenschaftliche Begriff "soziale Rolle" erst 1936 von Ralph Linton in die Soziologie eingeführt.
Rollen lassen sich soziologisch nach (gesamt)kulturellen (z B. "die Priesterin", "der Mann"), nach sozial differenzierten (z. B. "die Physiklehrerin", "der Industriemeister") und nach situationalen (z. B. "die Augenzeugin", "der Oberste auf der Rolltreppe") unterscheiden. Auch im Grenzbereich zur Biologie gibt es noch besondere Rollen (z. B. "die Dicke", "der Albino").
Immer beeinflussen das Rollenhandeln (1) die legitimen Normen, die einer Position entgegen gebracht werden (von anderen, vom Positionsinhaber selbst), (2) eine Reihe von (fremden oder eigenen, durchaus nicht immer legitimen) Erwartungen, die an einen Akteur in einer bestimmten sozialen Position gestellt werden, und (3) die positiven und negativen sozialen Sanktionen (‚Zuckerbrot‘ oder ‚Peitsche‘), mit denen andere Akteure einen Rollenspieler beeinflussen wollen und können. An diesen drei sozialen Tatsachen orientieren Akteure ihre eigenen Handlungen – ob offen ob verborgen – und bewerten Beobachter – ob offen ob verborgen – die Handlung anderer (vgl. dazu besonders das Modell des „Homo Sociologicus“).
Soziale Akteure spielen zeit ihres Lebens unterschiedliche soziale Rollen, auch sozialhistorisch entstehen soziale Rollen neu, wandeln sich dauernd und gehen unter.
Einzelthemen der Rollentheorie
Kulturelle Rollen
Kulturelle Rollen wirken alltags als „Selbstverständlichkeiten“ und werden oft erst durch Stiftung von Religionen (z. B. des Christentums) oder durch die Herausbildung politischer Bewegungen (beispielsweise der Frauenbewegung) in scharfen sozialen Konflikten bewusst und disponibel. So haben sich durch das Christentum in der Spätantike eine Aufwertung der Sklaven als "Menschen", die neue kulturelle Rolle des Märtyrers und zumal durch die Erteilung der Sakramente auch eine neue Rolle des Priesters ergeben, und durch die Frauenbewegung sind die als "weiblich" oder "männlich" charakterisierten kulturellen Rollen nachhaltig erschüttert und differenziert abwandelbar geworden.
Sozial differenzierte Rollen
Sozial differenzierte Rollen (etwa in Folge der Arbeitsteilung) haben die meiste soziologische Aufmerksamkeit auf sich gezogen.
In der US-amerikanischen Soziologie hat Robert K. Merton den bedeutsamen Unterschied zwischen dem intrapersonalen und dem interpersonalen Rollenkonflikt heraus gearbeitet. Im ersten Fall muss sich z. B. der Industriemeister in dieser Rolle zwischen den Erwartungen seiner Untergebenen, seiner Kollegen und seiner Vorgesetzten einen persönlichen Typ ausformen (Kurt Holm). Im zweiten Fall müsste er seinen eigenen Rollen-Kompromiss mit seinen anderen Rollen, z. B. als Betriebsratsmitglied, Familienvater, Vereinsmitglied und Hobbybastler, finden. Ralf Dahrendorf - der mit seinem "homo sociologicus" (siehe dort) eine sehr scharfsinnige deutsche Debatte angestoßen hat - hat dafür den Unterschied zwischen den durch negative Sanktionen bewehrten „Muss-Erwartungen“, den durch negative und positive charakterisierten „Soll-Erwartungen“ und den durch positiven Sanktionen bedankten „Kann-Erwartungen“ unterschieden: Der Werkmeister z. B. muss unkorrupt ein, soll keine Bezugsgruppe nachhaltig unzufrieden machen und kann persönlich verständnisvoll sein.
Im Bereich differenzierter Rollen entsteht auch die Evidenz, mit der der „Rollen“-Begriff aus dem Theater übernommen worden ist – hierzu vgl. besonders Erving Goffman, dem allerdings das "Theater"-Gleichnis ("Vorderbühne", "Hinterbühne") ein zentraleres Anliegen als der "Rollen"-Begriff ist.
Situationale Rollen
Situationale Rollen bilden sich je und je unvermutet (ad hoc) heraus (z. B. ein Betrunkener mischt sich in eine Beerdigung), trotzdem werden die dann entstehenden Rollenerwartungen, -normen und -sanktionen nicht jedes Mal völlig frei improvisiert. Sie sind durch unterschiedliche Gegebenheiten vorstrukturiert, z. B., wenn es auf einmal auf Geistesgegenwart (eher soziobiologische Mitgift) oder auf das Geschlecht (eher kulturelles Muster) oder auf den Beruf (eher sozial differenziert) eines Akteurs ankommt. Situationen sind einerseits das Arbeitsgebiet sehr scharfäugigerer soziologischer Beobachter (klassisch Georg Simmel, gegenwärtig z. B. Roland Girtler), andererseits sind sie in speziellen sozialen Problembereichen häufiger, z. B. in der Arbeitssoziologie (Konrad Thomas) oder in der Katastrophensoziologie (Wolf R. Dombrowsky).
Grenzbereich zwischen Soziologie und Biologie
Es gibt Rollen, die eng mit der (bio)soziologischen Tierheit des Menschen verquickt sind (auch "biotische" Rollen genannt). So kennen auch andere Primaten als der Mensch offenbar "den Großen" oder "den Lauten" und entwickeln besondere Verhaltensformen ihm gegenüber, wie auch er gegenüber den Anderen. Solche Rollen wurden in der Soziologie selten thematisiert (Ausnahme: Dieter Claessens in "Rolle und Macht" und "Das Konkrete und das Abstrakte"). Für das Verhalten des Kleinkindes sind solcherlei Rollen vermutlich besonders bedeutsam, denn es hat die sozialen Rollen i. e. S. - also die kulturellen, differenzierten oder situationalen Rollen - noch gar nicht internalisiert (z. B. "ein Fremder neben/über mir"). Solche Rollen können auch ein Berufsproblem sein, beispielsweise in der Palliativmedizin und der Medizinsoziologie "der Sterbende".
Kritik des Rollen-Begriffs
In akteurbezogenen (oft mikrosoziologisch fokussierten) soziologischen Theorien ist der Begriff der „sozialen Rolle“ oft fruchtbar und wird gerne angewandt.
Schwieriger tun sich die kollektivbezogenen Theorien (z. B. der Strukturfunktionalismus, die Ethnotheorie), weil die stets notwendigen Rollen-Kompromisse der Akteure hier eher z. B. als Fehlverhalten oder als von außen (‚europäozentrisch‘) hinein getragen aufgefasst werden und mit anderen Begriffen analysiert werden („dysfunktional“, „kulturimperialistisch“).
Wo "Theorien der Gesellschaft" von "soziologischen Theorien" unterschieden werden (z. B. im Marxismus oder in der Systemtheorie), wird "Rolle" entweder als gefährlicher Konkurrenzbegriff vehement zurückgewiesen oder übergangen: Frigga Haug z.B. beanstandete als Marxistin, dass sowohl die Geschichte der Gesellschaft und ihre ökonomischen Bedingungen als auch das dialektische Verhältnis zwischen Individuum und Gesellschaft mit dem Begriff "Rolle" in das Individuum verlegt würden; die Theatermetapher "Rolle" erleichtere zudem die Selbsttäuschung, Rollenforderungen seien eine äußere Übermacht, vor dem das Individuum sich in die "innere Emigration" zurückziehen könne (siehe dazu Rollendistanz); gesellschaftlichen Verhältnisse erschienen dementsprechend fälschlich als unveränderbar. - Eine systemtheoretische Begriffseinvernahme und Umdefinierung der "Rolle" steht noch aus.
Literatur
Einführend
- Karl-Heinz Hillmann, Wörterbuch der Soziologie, 4. Aufl., Stuttgart 1994, ISBN 3-520-41004-4
Klassische Studien
- Ralph Linton, The study of man, 1936
- Erving Goffman Wir alle spielen Theater (The Presentation of Self) 1956
- Ralf Dahrendorf, Homo sociologicus, Köln/Opladen 1959, 15. (um einen guten Diskussionsteil erweiterte) Aufl. 1975
- Dieter Claessens, Rolle und Macht, 1968
- Uta Gerhardt, Rollenanalyse als kritische Soziologie, 1971
Kritisch
- Frigga Haug, Kritik der Rollentheorie, 1994, ISBN 3-88619-222-9
Angewandte Rollentheorie
- Herrmann, Thomas/Jahnke, Isa/Loser, Kai-Uwe (2003): "Die Unterstützung von Rollenzuweisung und Rollenübernahme. Ein Ansatz zur Gestaltung von Wissensmanagement- und CSCL-Systemen". In: G. Szwillus/J. Ziegler (Hrsg.): Mensch & Computer 2003. Interaktion in Bewegung. Wiesbaden: B. G. Teubner. S. 87-98. PDF-Paper