Funktionstheorie
Neben der auf dieser Seite beschriebenen Funktionstheorie der Musikwissenschaften koexistiert die Funktionentheorie der Mathematik. Diese beiden Begriffe werden manchmal miteinander verwechselt.
Die Funktionstheorie gehört zur Harmonielehre als Teilgebiet der Musiktheorie und beschreibt das Verhältnis von Harmonien zueinander im tonalen Raum auf der Basis Verwandschaftsbeziehungen (Relationen). Sie ist ihrer Natur nach eine tonalitätszentrische Theorie und unterscheidet sich dadurch wesentlich von Dodekaphonie, der hindemithschen Tonzentralität, dem bartokschen Tonringsystem und anderen harmonischen Beziehungsmodellen. Ihre Bedeutung ist so erheblich, daß wenn von Tonalität gesprochen wird, meist der präzisere (wenngleich einschränkende) Begriff Funktionstonalität gemeint ist.
In der Funktionstheorie gilt eine beliebige, in einem bestimmten Zeitabschnitt manifestierte Tonart als die Tonika dieses Abschnitts. Hierbei gibt es drei Hauptfunktionen: ZurTonika (der die 1. Stufe zugeordnet wird) gesellen sich ihre beiden nächsten quintenreinen Verwandten, die Dominante (Oberquinte, 5. Stufe) und Subdominante (Quarte bzw. Unterquinte, 4. Stufe). Dazu kommen in der Funktionstheorie noch die Nebenfunktionen, die mehrere Gruppen umfassen: die Parallelen (Tonikaparallele, Dominant- und Subdominantparallele), Gegenklänge und der Medianten. Funktionen selbst werden in der Funktionstheorie mit Buchstabensymbolen bezeichnet, wobei Durfunktionen große und Mollfunktionen Kleinbuchstaben erhalten (T, D , S sowie t, d, s). Die Nebenfunktionen, die man als Funktionen der Hauptfunktionen auffassen kann, werden symbolisch ersteren als Buchstabe angehängt und unterliegen den gleichen Groß- bzw. Kleinschreibungsregeln für Dur/Moll (beispielsweise Tp, TP oder Tg). Entsprechend werden die Schreibungsregeln auch für Vermollungen und Verdurungen von Stufen angewandt (die vermollte Subdominante in einem Dursystem wird beispielsweise mit s statt S bezeichnet).
Die terzbasierten Nebenfunktionen enthalten mehrfach antisymmetrische Beziehungen. Zunächst gehören hierzu die Parallelen, die Paralleltonarten bestimmter Stufen. Handelt es sich um einen Dur-Akkord, liegt die Parallele auf der 6. Stufe (kleinen Unterterz), handelt es sich um einen Moll-Akkord, auf der 3. Stufe (kleine Oberterz). Die Gegenklänge vervollständingen die soweit entstehenden Asymmetrien insoweit, als daß für einen Dur-Akkord der Gegenklang auf der 3. Stufe (große Oberterz), und bei einem Moll-Akkord der Gegenklang auf der 6. Stufe (große Unterterz) liegen. Die übriggebliebenen Ober- und Unterterzbeziehungen sind in den Medianten zusammengefasst und chromatisieren (alterieren) die Vorzeichen der entsprechenden Terz; dementsprechend spricht man auch von der Ober- und Untermediante. Für Dur-Akkorde bestehen sie in der vermollten (kleinen) Oberterz und verdurten (großen) Unterterz, und für Moll-Akkorde in der verdurten (großen) Oberterz und der vermollten (kleinen) Unterterz.
In ihrer klassischen Ausprägung setzt die Funktionstheorie eine in einem bestimmten Zeitabschnitt vorherrschende Tonart voraus, welche die Tonika (T) bildet. Diese wird durch ihre beiden nächsten Verwandten, die Dominante (D) und die Subdominante (S) in Form von Kadenzen bzw. Schlüssen manifestiert (die entsprechenden Wendungen sind Klauseln und lauten für D-T authentischer Schluß und für S-T plagaler (Halb-)Schluß). Findet in einer Werkpassage ein Übergang von einer Tonart zu einer anderen durch diatonische, chromatische oder enharmonische Modulation statt, gilt die neue Tonart analytisch solange als unbestätigt, bis eine authentische oder seltener auch plagale Klausel folgt. Kann ein Akkord nicht nur als Funktion der im verlassenen begriffenen, sondern auch als eine zur neuen Tonart hinführender betrachtet werden, spricht man Zwischenfunktionen. Zu diesen gehört insbesondere die Zwischendominante, die nur im Fall von diatonischen Modulationen überhaupt möglich ist.
Während früher von einem allgemeingültigen Tonalitätsempfinden als Grundlage musikalisch-sinnlicher Wahrnehmung überhaupt gesprochen wurde, geht man heute davon aus, daß insbesondere die Zusammenhänge der Funktionstheorie kulturellen (anthropomorphen) und damit geschichtlichen Wesens sind. Sie entbehren sowohl einer physiologischen wie phänomenologischen, d.h. durch medizinisches Modell und Hörexperiment am Menschen beweisbaren wissenschaftlichen Grundlage. Zeitweise, etwa bei Hugo Riemann, betrachtete man das Mollsystem als Umkehrung (d.h. horizontale Spiegelung) des Dursystems - unter entsprechend gespiegelter Anwendbarkeit der genannten Funktionen, eine Sichtweise, von der man jedoch bald aufgrund von Asymmetrien abkam. Diese Asymmetrien entstehen vornehmlich durch die elementare, nicht durch die Subdominante ersetzbare Bedeutung der primären Nebenfunktion, der Dominante.
Nicht alle harmonischen Verwandtschafts- und Progressionsvorgänge der Musik lassen sich Mithilfe der Funktionstheorie fassen. Außer den im Anfang des Artikels genannten harmonischen Beziehungssystemen gehören dazu in der Musik des 20. Jahrhunderts polytonale und atonale Sätze sowie in präbarocker Zeit insbesondere die mehrstimme Musik des Spätmittelalters (der Ars nova) und der Renaissance. Während in letzter Funktionen zwar gelegentlich in Erscheinung treten, sind sie jedoch verallgemeinert zur Bestätigung einer Tonart nicht grundsätzlich erforderlich und oftmals durch Klauseln (beispielseiwe die Landini-Klausel) ersetzt. Auch aufgrund der vorwiegend linaren gedachten, d.h. stimmlich-melodischen Qualität der vorbarocken Musik entsteht so die interessante Eigenschaft, daß Tonarten überhaupt und insbesondere bei z.T. erheblich experimenteller chromatisch-enharmonischer Linearstruktur und dem Vagieren in noch so entfernte Tonarten nur einer austarierten Stimmführung bedürfen, um die neue Tonart zu manifestieren, und keines so streng hierarchischen Systems wie der funktionalen Tonalität.
Die folgenden zwei Beispiel enthalten jeweils vier Akkorde, die den Stufen T - S - D - T zugeordnet sind. Man beachte, daß sich die intervallischen Beziehungsverhältnisse sowohl in der Horizontalen wie auch der Vertikalen in beiden Beispielen vollständig gleichen, weil das zweite Beispiel eine reine Transposition des ersten ist:
In C-Dur (der C-Dur-Akkord bildet die Tonika):
Datei:FunktionstheorieNB1.PNG
Klangbeispiel in C-Dur
In A-Dur (der A-Dur-Akkord bildet die Tonika):
Datei:FunktionstheorieNB2.PNG
Klangbeispiel in A-Dur
Alle Symbole können mit Zusätzen in Form von Zahlen und Buchstaben versehen werden.
Zusätze in Form von Zahlen
Hochgestellte Zahlzusätze (rechts oben neben die Funktion geschrieben) bezeichnen die Lage (Stellung) von Akkorden. Bei Dreiklängen in Grundstellung wird grundsätzlich kein Zusatz geschrieben.
- Beispiel: D mit hochgestellt 7 beutetet: Septakkord auf der Dominante.
- Die Dominante von B ist F. Ein Septakkord auf F ist ein Vierklang mit dem zusätzlichen Ton Es.
- Datei:FunktionstheorieNB3.PNG
- Die Dominante von G ist D. Ein Septakkord auf D ist ein Vierklang mit dem zusätzlichen Ton C.
- Datei:FunktionstheorieNB4.PNG
Septakkorde existieren in der Grundstellung (Septe oben, d.h. vom tiefsten Ton gemessen aus isr das größte Intervall die Septime), Sekundstellung (vom tiefsten Ton gemessen aus ist das nächste Intervalle die Sekunde), Terzquartstellung (vom tiefsten Ton gemessen aus sind die beiden nächsten Intervalle die Terz und Quart) sowie der Quintsextstellung (vom tiefsten Ton gemessen aus bilden die beiden am weitesten entfernten Töne eine Quinte und Sexte).
Das folgende Beispiel enthält eine Subdominante in Quintsextstellung. Die Sexte ist direkt zwischen F und D ersichtlich, für die Quinte F-C ist der Ton C um eine Oktave herabzutransponiert zu denken.
Andere Beispiele beziehen sich auf Vorhalte:
- Die Quarte ersetzt die Terz des Dominantdreiklangs (=Quartvorhalt) und wird anschließend aufgelöst:
- Das folgende Beispiel enthält zwar die Funktionalprogession T - T - D - T, doch wir die zweite Tonika aufgrund des Baßtons als Dominantvorhalt zur nachfolgenden, echten Dominante gedeutet und mit diesem auch aufgelöst:
- Ein Nonenvorhalt fügt eine None hinzu, deren Auflösung umgehend folgt:
Unter das Funktionssymbol geschriebene Zahlen bezeichnen den Baßton des Akkords im intervallischen Verhältnis zum Grundton der jeweiligen Funktion. Außer der Grundstellung von Akkorden, bei der keine Zahlzusätze geschrieben werden, kann so bezeichntet Baßton entweder Bestandteil des Akkords selbst sein, oder einen zusätzlicher Ton meinen.
- Das vorletzte Beispiel läßt sich auch so schreiben:
- Datei:FunktionstheorieNB9.PNG
Zusätze in Form von Buchstaben
Wie im Eingangstext erwähnt, handelt es sich hierbei im Parallelen, Gegenklänge oder Medianten mit der allgemeingültigen Regel: Großschreibweise = Dur, Kleinschreibweise = Moll.
Die Buchstabenzusätze werden direkt neben der Hauptfunktion oder in Form eines rechts tiefgestellten Indexes vermerkt.
Beispiele für natürliche Parallelen und Gegenklänge:
- in C-Dur: Tp bezeichnet die Moll-Parallele der Tonika C-Dur, also a-Moll
- in c-Moll: tP bezeichnet die Dur-Parallele der Tonika c-Moll, also Es-Dur
- in C-Dur: Tg bezeichnet den Moll-Gegenklang der Tonika C-Dur, also e-Moll
- in c-Moll: tG bezeichnet den Dur-Gegenklang der Tonika c-Moll, also As-Dur
Beispiele für Alterationen in Form von Vermollungen/Verdurungen:
- TP: bedeutet in C-Dur: die verdurte Parallele von C-Dur, also A-Dur (statt a-Moll)
- tp: bedeutet in c-Moll: die vermollte Parallele von c-Moll, es-Moll (statt Es-Dur)
Andere Zeichen und Symbole
- Ellipsen:
- Tritt ein erwarteter Klang nicht ein, kann man diesen trotzdem zusätzlich vermerken, um zu bezeichnen, was an dieser Stelle erwartet wurde. Der erwartete Klang wird hierbei in eckige Klammern gesetzt (z. B. [T]).
- Bezieht sich ein Klang oder eine Klangfolge in ihrer Funktion auf eine andere Tonika als die zuletzt manifestierte (z. B. auf die zukünftige bei einer Modulation), so stellt man die gesamte Folge ab einem sinnvollen Punkt bis zur Manifestierung der neuen Tonika in runde Klammern.
- Ligaturen:
- werden durch direkt an ein Funktionssymbol anschließende waagerechte Striche kenntlich gemacht und ziehen sich über mehrere Akkorde hin. Mit ihnen wird angezeigt, daß die beschrieben Funktion auch trotz eventueller fremder Töne über die Dauer der Ligatur (Bindung) als unvererändert aufgefasst wird. Üblich ist dies z.B. bei Durchgängen. Über Ligaturen können ebenfalls Funktionssymbole stehen, die sich dann auf dienenige Funktion beziehen, bei der die Ligatur angesetzt hat.
- Doppelfunktionen:
- werden durch zwei ineinander verschränkte Funktionssymbole bezeichnet. DD etwa bezeichnet die Dominante der Dominante, SS die Subdominante der Subdominante.
- Durchstreichungen:
- Horizontale Durchstreichungen, die nur bei Septakkorden eingesetzt werden, zeigen an, dass der Klang verkürzt ist, das heißt, ihm fehlt der Grundton. Hierdurch entsteht ein verminderter Akkord, der in der Stufentheorie aus einem ein Dreiklang auf der 7. Stufe besteht.
- Mit diagonalen Durchstreichungen bezeichnet man bei Modulationen die Umdeutung eines bestimmten Akkords als Dominante einer in unmittelbarer Zukunft zu erreichenden neuen Tonika. Dies ist eine gelegentlich verwendete Kurzschreibweise für ein in runden Klammern stehendes Funktionssymbol (Ellipse, s.o.).
Funktionsharmonische Analyse eines Bach-Chorals
Obwohl Bach die Funktionstheorie nicht bekannt war, lassen sich seine Choräle (in Grenzen) mit ihr beschreiben. Die folgende Analyse erhebt (natürlich) keinen Anspruch auf Vollständigkeit und Richtigkeit. Sie ist ebenso nur eine Interpretation des Chorals, andere sind durchaus denkbar. Was gut zu sehen ist, dass die Komposition wegen der vielen kleinen Bewegungen in den einzelnen Stimmen nur sehr kompliziert beschrieben werden kann, was darauf zurückzuführen ist, dass im Barock das horizontale, also melodische Prinzip sehr viel wichtiger war als das vertikale, also harmonische Prinzip. Überhaupt wird die Funktionstheorie dieser Musik eigentlich nicht gerecht, da harmonische Strukturen zu dieser Zeit vom Generalbass her gedacht wurden. Dennoch: die funktionsharmonische Analyse ist gängige Praxis, auch wenn sie schnell an ihre Grenzen in bezug auf Übersichtlichkeit und Vollständigkeit stößt.
Klangbeispiel des analysierten Chorals (Midi)
Die vorliegende Analyse ist allerdings zwecklos, wenn sie nicht interpretiert wird. Im Grunde ist die Übersetzung in Funktionssymbole lediglich eine verallgemeinernde Betrachtung des komponierten Spezialfalls.
Ein Ansatzpunkt der Interpretation wäre zum Beispiel die Beschreibung der harmonischen Dramaturgie: Der erste Teil (bis zum Wiederholungszeichen moduliert zur Dominante, was als bekanntes Prinzip der Sonata bzw. später der Sonatenhauptsatzform zu deuten wäre. Nachdem die Tonika zu Beginn des zweiten Teils zunächst gefestigt wurde (die Subdominante hat hier entscheidenden Anteil), entfernt sich der Satz sehr weit von ihr, die beiden verkürzten Zwischendominanten bieten im gleichen Zug eine neue Klangqualität. Nach der längsten Zäsur auf der erreichten Subdominantparallele etabliert sich wieder die Tonika, auffällig ist auch, dass die harmonische Bewegung zum Ende hin ruhiger wird, und das vollständige Fehlen von Zwischendominanten glättet den abschließenden Weg zum Grundklang. Besonders hervorzuheben wäre hier am Ende die zweimalige Schlusswendung T-S-D-T, sowie die Betonung (durch starke zeitliche Ausdehnung) der Dominante als vorletztem Klang.
Ein weiterer, möglicher Betrachtungsgegenstand wäre die Behandlung von Umkehrungen, im Besonderen die Stimmführung des Basses: Septimen werden ausnahmslos mit einem Sekundschritt nach unten fortgeführt, Terzen haben ebenfalls eine schrittige Umgebung usw.
Transponierende Instrumente
Die Formel für die transponierenden Instrumente: n + t = k
n=Zahl des notierten Tons t=Transponierzahl k=Zahl des klingenden Tons
Die Zahlen ergeben sich beim Betrachten des Quintenzirkels:
fbb cbb gbb dbb abb ebb hbb fb cb gb db ab
-15 -14 -13 -12 -11 -10 -9 -8 -7 -6 -5 -4
eb hb f c g d a e h f# c# g#
-3 -2 -1 0 1 2 3 4 5 6 7 8
d# a# e# h# fx cx gx dx ax ex hx
9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19
Beispiel: Es-Klarinette spielt notierten Ton d. Wie heißt er klingend? k = n + t = 2 + (-3) = -1 also: f
Literatur
Diether de la Motte: Harmonielehre, dtv/Bärenreiter 1976