Prager Frühling
Der "Prager Frühling" ist die Bezeichnung für die Bemühungen der tschechoslowakischen Kommunistischen Partei unter Alexander Dubček im Frühjahr 1968, ein Liberalisierungs- und Demokratisierungsprogramm durchzusetzen, sowie vor allem die Beeinflussung und Verstärkung dieser Reformbemühungen durch eine sich rasch entwickelnde kritische Öffentlichkeit.
Der Begriff des Prager Frühlings wird heute als Symbol für zwei verschiedene Konzepte verwandt: Einerseits für den Versuch, einen "Sozialismus mit menschlichem Antlitz" zu schaffen, andererseits aber auch für die Tatsache, dass dieser Versuch an den am 21. August 1968 einrollenden Panzern des Warschauer Pakts gescheitert ist.
Voraussetzungen
Seit Beginn der 1960er Jahre befand sich die ČSSR in einer tiefgreifenden ökonomischen und gesellschaftlichen Krise: Das bürokratisch-zentralistische Planungssystem hatte zu einer dramatischen Stagnation der Wirtschaft - auch im Vergleich zu den anderen Staaten des Warschauer Pakts - geführt; die kommunistische Partei wurde von einer stalinistischen Führungsspitze dominiert, die eine Aufarbeitung der politischen Schauprozesse der späten 1940er und frühen 1950er Jahre nicht zuließ.
Wachsende Kritik
Mit dem Höhepunkt der Wirtschaftskrise 1963 wurden schließlich reformerische Stimmen innerhalb und außerhalb der Partei lauter. Unter der Führung des ZK-Mitglieds Ota Sik bildete sich eine technokratische Opposition, die grundlegende Wirtschaftsreformen forderte. Für die kritische Intelligenz erweiterten sich in einem "Klima unwillig tolerierter Liberalisierung und relativ wirkungsloser Repressalien seitens der politischen Institutionen" (Eleonora Schneider: Prager Frühling, S. 86) die Möglichkeiten einer öffentlichen Meinungsäußerung, die von einer breiten Bevölkerungsschicht immer aufmerksamer verfolgt wurden. Bis zum Ende des Jahres 1967 wuchs die kritische Öffentlichkeit immer mehr an und radikalisierte sich dabei in ihrer Kritik zunehmend.
Auf dem 4. Schriftstellerkongress im Juni 1967 übten bekannte Autoren wie Václav Havel erstmals direkte Kritik an der Parteiführung. Die folgenden Sanktionen führten zu einem breiten Protest von Journalisten, Künstlern und Schriftstellern, es begann sich eine "gesetzlich ungeregelte, aber disziplinierte Presseanarchie" (Jan Pauer: Reform- und Demokratisierungsprozess, S. 50) zu entwickeln, die im März 1968 schließlich in der Abschaffung der Zensur gipfeln sollte.
Führungswechsel in der KPČ
Zu Jahresbeginn 1968 entluden sich die jahrelangen Spannungen zwischen dem konservativen und dem reformerischen Flügel der KPČ. Auf dem so genannten Januartreffen des ZK der KPČ wurde der Staats- und Parteichef Antonín Novotný als 1. Sekretär der KPČ von dem slowakischen Reformer Alexander Dubček abgelöst und behielt lediglich das machtpolitisch wenig bedeutende Amt des Präsidenten der Republik für einige Zeit.
Der Führungswechsel markierte - nach einigen Wochen Unklarheit über die neue Richtung - letztlich den Auftakt zu dem Reformkurs der tschechoslowakischen Regierungspartei, der in Verbindung mit dem Druck der kritisch gewordenen Öffentlichkeit zum Phänomen "Prager Frühling" führte. Als programmatische Grundlage hierfür diente das am 5. April 1968 vorgestellte Aktionsprogramm der KPČ, das insbesondere auf Wirtschaftsreformen, Meinungs- und Informationsfreiheit, eine Aufarbeitung der stalinistischen Vergangenheit und eine allgemeine Neuausrichtung der Rolle der KP in der Gesellschaft zielte.
Emanzipation der Öffentlichkeit
Dieser parteipolitische Reformkurs war allerdings in vielerlei Hinsicht schon in der öffentlichen Diskussion über die Neugestaltung der Gesellschaft vorweggenommen worden - in den Medien des Landes fand seit Februar 1968 eine "wahre Informationsexplosion" (Eleonora Schneider: Prager Frühling, S. 75) statt. Dementsprechend wurde das Aktionsprogramm in der Öffentlichkeit wenig begeistert, sondern vielmehr als selbstverständlich aufgenommen, die Meinungsführerschaft hatte inzwischen von der Partei zum Volk gewechselt.
Ein Zeugnis dieser Emanzipation der Öffentlichkeit bildete das von Intellektuellen verschiedener Couleur unterzeichnete "Manifest der 2000 Worte" vom Juni 1968, welches die Rolle der KPČ im Prozess des "Prager Frühlings" kritisch beleuchtete und eine unbedingte Weiterführung der Reformpolitik, gegen die reaktionären Kräfte im In- und Ausland, forderte. Die Führung der Kommunistischen Partei lehnte das Dokument als eine Misstrauenserklärung gegenüber ihrer Politik ab. Die Bevölkerung, insbesondere auch die bis dahin eher passive Arbeiterschaft, begrüßte das Manifest hingegen in einem "stürmischen Echo" (Eleonora Schneider: Prager Frühling, S. 108). Generell führten die "2000 Worte" zu einer weiteren Radikalisierung sowohl der konservativen als auch der reformorientierten Kräfte, während die Regierung Dubček sich gezwungen sah, zwischen beiden Seiten zu lavieren.
Reaktion der Sowjetunion
Die Sowjetunion, die den Machtwechsel von Novotný zu Dubček zunächst gutgeheißen hatte, dann aber schnell eine äußerst skeptische Position zur tschechoslowakischen Entwicklung einnahm, schätzte das "Manifest der 2000 Worte" als eine Plattform der Konterrevolution ein.
Schon im März 1968 waren in Dresden Regierungsvertreter der ČSSR mit denen der Sowjetunion, Bulgariens, Ungarns, Polens und der DDR - die später als "Warschauer Fünf" bezeichneten Staaten, die letztlich auch die Intervention durchführten - zusammengekommen, um über die Lage in der Tschechoslowakei zu sprechen. Weitere Treffen der "Warschauer Fünf" zum Thema fanden, diesmal ohne tschechoslowakische Beteiligung, im Mai und Juni statt. Dabei wuchs der sowjetische Druck auf die Prager Regierung, die Reformen deutlich einzudämmen. Auch eine militärische Intervention gehörte bald zum Drohpotential, welches der Warschauer Pakt auf sein reformorientiertes Mitglied ausübte.
Wenige Tage nach bilateralen Gesprächen zwischen der tschechoslowakischen und der sowjetischen Regierung fand am 3. August in Bratislava das letzte offizielle Treffen zwischen der Tschechoslowakei und den "Warschauer Fünf" statt. Das in Bratislava verabschiedete Abschlusskommuniqué wurde in der ČSSR als Zeichen der Entspannung gewertet, da den verschiedenen Parteien eine nationale Souveränität auf ihrem Weg zum Sozialismus eingeräumt werden sollte. Allerdings hatte etwa die konservative tschechoslowakische Opposition das Treffen dazu genutzt, den sowjetischen Offiziellen eine geheime "Einladung" zukommen zu lassen, mit der sie um eine Intervention zur Verhinderung einer Konterrevolution in der ČSSR baten.
Tatsächlich wurden nach dem Treffen die laufenden sowjetischen Vorbereitungen zum Einmarsch in die Tschechoslowakei intensiviert. Im Gegensatz zu späteren sowjetischen Verlautbarungen, dass man bis zum letzten Moment verhandlungsbereit gewesen sei, waren die Weichen nun gestellt für die Niederschlagung der Reformbewegung.
Einmarsch des Warschauer Vertrages
In der Nacht zum 21. August 1968 marschierten die Truppen der Warschauer Vertrags-Staaten schließlich in die Tschechoslowakei ein und besetzten innerhalb von wenigen Stunden alle strategisch wichtigen Positionen des Landes. Bei den Kämpfen fielen 98 Tschechen und Slowaken, sowie etwa 50 Soldaten des Warschauer Vertrages.
Die KPČ beschloss, keinen militärischen Widerstand zu leisten; Staatspräsident Ludvik Svoboda forderte Tschechen und Slowaken in einer Radioansprache dazu auf, Ruhe zu bewahren. Während Dubček und andere hochrangige Regierungsmitglieder festgenommen und nach Moskau gebracht wurden, stellte sich die Situation in der ČSSR so dar, dass der eigentliche Plan der UdSSR, eine neue Regierung zu präsentieren, aufgrund des gewaltlosen, geschlossenen Protests der Bevölkerung des okkupierten Landes nicht stattfinden konnte. Auch die Behauptung, die KPČ habe um den Einmarsch ersucht, wurde von tschechoslowakischer Seite geschlossen dementiert: Für die tatsächlichen „Verschwörer“ war das Meinungsklima in der ČSSR zu ungünstig, um eine offene Palastrevolution verkünden zu können. In den Wirren der ersten Tage der Besatzung gelang es der Kommunistischen Partei sogar, einen außerordentlichen Kongress der Nationalversammlung einzuberufen, auf der der Einmarsch ausdrücklich verurteilt und die Regierung Dubček im Amt bestätigt wurde.
Ende des Prager Frühlings
Am 23. August, zwei Tage nach Beginn der Intervention, wurde Präsident Svoboda offiziell zu Verhandlungen nach Moskau gerufen, an denen - zunächst nur inoffiziell - auch die in Haft gehaltenen Regierungsmitglieder um Dubček teilnahmen.
Das Moskauer Protokoll, welches drei Tage später verabschiedet wurde, beinhaltete eine Aufhebung fast aller Reformprojekte. Mit diesem Ergebnis einer faktischen Kapitulation im Gepäck kehrte Dubček, der vorerst noch in seinen Ämtern belassen wurde, nach Prag zurück, wo er zunächst noch einmal begeistert empfangen wurde. Nach wenigen Wochen konnte jedoch die Bevölkerung der ČSSR nicht mehr daran zweifeln, dass der "Prager Frühling" mit dem 21. August sein Ende gefunden hatte.
Rezeption in der Bundesrepublik
Der Prager Frühling und seine Niederschlagung wurde in der Bundesrepublik Deutschland wie kaum ein anderes außenpolitisches Ereignis beachtet und kommentiert. Dabei war das Interesse in eigentlich allen Teilen der Öffentlichkeit ähnlich groß: Sowohl die großen konservativen Zeitungen als auch die kleinen linksoppositionellen Blätter brachten die Ereignisse auf ihre Titelseiten. So beobachtete einerseits die bürgerliche Presse den tschechoslowakischen Versuch, einen "Sozialismus mit menschlichem Antlitz" zu schaffen, mit großer Anteilnahme und fast durchweg positiven Kommentaren, interpretierte die Reformen dabei aber als angestrebte Nachholung des westlichen Standards von Freiheit und Demokratie.
Dagegen entdeckte die außerparlamentarische Opposition der Bundesrepublik im Prager Frühling einen "dritten Weg", eine "bisher unentdeckte sozialistische Demokratie" (Ernst Fischer, Keine Romantiker in Prag, in: Neues Forum, Heft 173, 5/1968, S.284) und scheute sich auch nicht, die für den internationalen Sozialismus - und damit für das Weltbild der APO - niederschmetternde Nachricht vom Einmarsch sowjetischer Soldaten in die ČSSR zunächst sehr kritisch unter die Lupe zu nehmen.
Literatur
- Stefan Bollinger, Dritter Weg zwischen den Blöcken? Prager Frühling 1968. Hoffnung ohne Chance, Berlin 1995
- Jörg Hoensch, Geschichte der Tschechoslowakei 1918-1991, 3. Auflage, Stuttgart 1992
- Jan Pauer, Der tschechoslowakische Reform- und Demokratisierungsprozess im Lichte der "Perestrojka", in: Tilly Miller (Hrsg.), Prager Frühling und Reformpolitik heute. Hintergründe, Entwicklungen und Vergleiche der Reformen in Osteuropa, München 1989
- Jaromír Navrátil (Hrsg.), The Prague Spring 1968. A national security archive documents reader, Budapest 1998
- Eleonora Schneider, Prager Frühling und samtene Revolution. Soziale Bewegungen in Gesellschaften sowjetischen Typs am Beispiel der Tschechoslowakei, Aachen 1994
Als Prager Frühling wurde ferner (und ursprünglich) ein jährliches, im Frühling stattfindendes Kultur- und Musikfestival in Prag bezeichnet.