Bedingte Wahrscheinlichkeit
Bedingte Wahrscheinlichkeit (auch konditionale Wahrscheinlichkeit) ist die Wahrscheinlichkeit des Eintretens eines Ereignisses A unter der Bedingung, dass ein Ereignis B eintreten wird bzw. bereits eingetreten ist. Es wird geschrieben als , der senkrechte Strich ist als „unter der Voraussetzung“ zu lesen und wie folgt zu verstehen: Wenn das Ereignis B eingetreten ist, ist die Wahrscheinlichkeit für das Ereignis A gegeben durch , es handelt sich also nicht um eine (logische) Bedingung für A. Manchmal wird auch die Schreibweise verwendet, die jedoch auch andere Bedeutungen haben kann.
Für einen verallgemeinerten, abstrakten Begriff von bedingten Wahrscheinlichkeiten siehe Bedingter Erwartungswert.
Definition
Wenn und beliebige Ereignisse sind und ist, dann ist die bedingte Wahrscheinlichkeit von A, vorausgesetzt B (auch die Wahrscheinlichkeit von A, unter der Bedingung B), notiert wie (mit senkrechtem Strich zwischen A und B), definiert durch:
Darin ist die Wahrscheinlichkeit, dass und gemeinsam auftreten. wird gemeinsame Wahrscheinlichkeit oder Verbundwahrscheinlichkeit genannt.
Multiplikationssatz
Durch Umformen der Definitionsformel entsteht der Multiplikationssatz für zwei Ereignisse:
Wenn und jedoch stochastisch unabhängig sind, gilt:
was dann führt zu:
Verallgemeinerung
Verallgemeinert man den obigen Ausdruck des Multiplikationssatzes, der für zwei Ereignisse gilt, erhält man den allgemeinen Multiplikationssatz. Man betrachte dazu den Fall mit Zufallsereignissen .
Besonders anschaulich ist hier das Rechnen mit einem Entscheidungsbaum, da hier das Diagramm gleichsam „mitrechnet“: Die Daten sind leicht einzusetzen und führen sequenziell an den richtigen Rechengang heran.
Beispiele findet man im Artikel Bayes-Theorem.
Gesetz der totalen Wahrscheinlichkeit
Sind nur bedingte Wahrscheinlichkeiten und die Wahrscheinlichkeiten des bedingenden Ereignisses bekannt, ergibt sich die totale Wahrscheinlichkeit von aus:
wobei das Komplement von bezeichnet.
Auch hier gibt es eine Verallgemeinerung
Wenn die Ereignisse A1,A2,..., mit P(An) > 0 für jedes n eine Partition des Ereignisses bilden, gilt:
Stetige Zufallsvariable
Für zwei Zufallsvariablen , mit gemeinsamer Dichte ist eine Dichte von gegeben durch
- .
Falls , kann man eine bedingte Dichte von , gegeben (oder vorausgesetzt) das Ereignis , definieren durch
- .
Statt schreibt man auch , für die bedingte Dichte. Die letztere Formel soll aber nicht verstanden werden wie die Dichte einer Zufallsvariable .
Die (eine) simultane Dichte von und erhält man dann aus der Formel
Daraus lässt sich eine Form des Gesetzes der totalen Wahrscheinlichkeit herleiten:
Dieser Vorgang wird als Marginalisierung bezeichnet.
Hierbei ist zu beachten, dass standardmäßig Dichten, die die gleichen Integralwerte liefern, dieselbe Wahrscheinlichkeitsverteilung repräsentieren. Dichten sind daher nicht eindeutig festgelegt. Eine zulässige Wahl für , , und ist jede messbare Funktion, die im Integral die korrekten Wahrscheinlichkeiten für , bzw. für beliebige , ergibt. Von der Funktion wird verlangt, dass sie die Bedingung
erfüllt. Die oben angegebenen Formeln gelten somit nur bei passender Wahl der verschiedenen Dichten.
Beispiele
Junge oder Mädchen
Eine Mutter hat zwei Kinder und wird nach dem Geschlecht der Kinder gefragt. Fall 1 dient Vergleichszwecken und basiert nicht auf bedingten Wahrscheinlichkeiten.
- Fall 1: Wenn das erste Kind ein Mädchen ist, wie groß ist die Wahrscheinlichkeit, dass auch das zweite Kind ein Mädchen ist? Die Antwort ist 1/2.
- Fall 2: Wenn wenigstens eines der Kinder ein Mädchen ist, wie groß ist die Wahrscheinlichkeit, dass auch das andere Kind ein Mädchen ist? Die Antwort ist 1/3.
Das zunächst überraschende Ergebnis lässt sich mit der folgenden Tabelle bestimmen. Die ersten beiden Spalten zeigen, welche Möglichkeiten bei zwei Kindern bestehen: Das Erstgeborene kann ein Junge oder ein Mädchen sein, das Zweitgeborene kann ebenfalls ein Junge oder ein Mädchen sein, insgesamt gibt es bei den Geschlechtern vier Kombinationen.
Spalte 3 zeigt die Möglichkeiten, wenn man, wie in Fall 1, davon ausgeht, dass das erste Kind ein Mädchen sein muss – die Zeilen 1 und 2 sind dann nicht möglich.
Spalte 4 zeigt die Möglichkeiten, wenn man, wie in Fall 2, davon ausgeht, dass wenigstens eines der beiden Kinder ein Mädchen ist.
1. Kind 2. Kind Lösung zu Fall 1:
Zweites Kind ist…Lösung für Fall 2:
Anderes Kind ist…1 Junge Junge (geht nicht) (geht nicht) 2 Junge Mädchen (geht nicht) Junge 3 Mädchen Junge Junge Junge 4 Mädchen Mädchen Mädchen Mädchen
Einfaches Abzählen zeigt, dass in Fall 1 eine von zwei Möglichkeiten auf ein Mädchen, aber in Fall 2 nur eine von drei Möglichkeiten auf ein Mädchen hinweist.
Dieses Ergebnis lässt sich im Fall 2 auch mit der obigen Formel ermitteln. Hier lautet das Ereignis A: „Das andere Kind ist ein Mädchen“. Das Ereignis B, welches die Bedingung darstellt, unter der das Ereignis A betrachtet werden soll, ist: „Mindestens ein Kind ist ein Mädchen.“. Das Verbundereignis A∩B, nämlich der Fall, dass beide Ereignisse gemeinsam auftreten, heißt: „Das andere Kind ist (auch) ein Mädchen und mindestens ein Kind ist ein Mädchen“, mit anderen Worten: Beide Kinder sind Mädchen.
Die Wahrscheinlichkeit für das Verbundereignis A∩B beträgt 1/4. Das bedingende Ereignis B hat die Wahrscheinlichkeit 3/4. Als Quotient ergibt sich der oben bereits durch Auszählen erhaltene Wert von 1/3 für das bedingte Ereignis.
Wurfmaschine

Ein anschauliches Beispiel erlaubt es, bedingte Wahrscheinlichkeiten an Hand von Mengendiagrammen unmittelbar zu verstehen. Betrachtet wird eine Wurfmaschine, die in zufälliger Weise irgendwelche Objekte (z.B. Bälle, Dartpfeile) auf eine bestimmte Fläche M (z.B. eine Wand) wirft, so dass der Auftreffort einer bestimmten Verteilungsfunktion gehorcht. Diese Verteilungsfunktion kann beliebig sein, das Beispiel wird jedoch besonders leicht nachvollziehbar, wenn man annimmt, dass es sich um eine Gleichverteilung handelt, das Geschoss also langfristig an jedem Ort der Wand gleich oft auftrifft. Denn dann ist die apriori Wahrscheinlichkeit P(A), dass das Wurfgeschoss in einer bestimmten Teilfläche A der Wand (z.B. einem beliebigen mit einem Stift markierten Kreis) auftrifft, einfach proportional dem Flächeninhalt F(A) dieses Bereichs, oder genauer gesagt gleich dem Verhältnis der Teilfläche zur Gesamtfläche, also P(A)=F(A)/F(M).
Angenommen, es ist nun bereits bekannt, dass das Wurfgeschoss sicher innerhalb einer anderen Teilfläche B aufgetroffen ist, die mit der Teilfläche A überlappt. Dann ist der Flächeninhalt von B (in nebenstehender Abbildung alles was blau bzw. blaugrün ist) offensichtlich die neue Bezugsgröße für die Berechnung der Wahrscheinlichkeiten. Die Wahrscheinlichkeit, dass das Geschoss unter dem Vorwissen B auch gleichzeitig innerhalb der überlappenden Fläche A auftrifft, ist proportional dem Flächeninhalt desjenigen Teils der Fläche A, der auch in B liegt (in nebenstehender Abbildung blaugrün schattiert), also dem Flächeninhalt der Schnittmenge F(A∩B). Somit ergibt sich die Wahrscheinlichkeit eines Auftreffens in A unter dem Vorwissen eines gesicherten Auftreffens in B als P(A|B)=F(A∩B)/F(B)=P(A∩B)/P(B), also genau so, wie die bedingte Wahrscheinlichkeit definiert ist.
Weitere Beispiele
- Beispielsweise ist die bedingte Wahrscheinlichkeit P(„die Erde ist nass"|„es regnet“) (die Erde ist nass, wenn es regnet) meist groß, denn unter der Voraussetzung, dass es zu einem Zeitpunkt regnet, sollte man erwarten, dass die Erde nass wird. Bedingte Wahrscheinlichkeit fragt also nach, wie wahrscheinlich ein Ereignis ist, wenn ich ein anderes bereits kenne. In unserem Beispiel weiß ich, dass es regnet und frage mich, wie groß die Wahrscheinlichkeit ist, dass die Erde nass ist. Offensichtlich unterscheidet sich die bedingte Wahrscheinlichkeit von der unbedingten.
- Die Wahrscheinlichkeit, dass jemand, der französisch spricht, ein Franzose ist, ist weder gleich groß der Wahrscheinlichkeit, dass jemand, der ein Franzose ist, auch französisch spricht, noch ergänzen sich beide Wahrscheinlichkeiten auf 100%.
- People v. Collins (1968): In diesem Strafprozess in Kalifornien wurde ein männlicher Bankräuber unter anderem deswegen verurteilt, weil der Täter gemäß Zeugenaussagen einen Bart und einen Schnurrbart trug. Wer einen Bart trägt, hat sehr oft auch einen Schnurrbart – das Gericht ging in seinem Fehlurteil aber nicht von bedingten Wahrscheinlichkeiten aus.
Siehe auch
- Fehler 1. Art
- Fehler 2. Art
- Absolute Häufigkeit
- Irrtumswahrscheinlichkeit
- Verbundentropie
- Kausalbeziehung
- Schnittmenge
- Sensitivität
- Falsch positiv
- Positiver prädiktiver Wert
- Satz von Bayes
- Bayes'sches Netz
- Bayes-Filter
- Ziegenproblem
- Umtauschparadoxon
Weblinks
- Ian Stewart: Der Trugschluß des Ermittlers Spektrum der Wissenschaft Juli 1997 („Mathematische Unterhaltungen“)
- http://www.sencer.de/index.php?p=9&more=1
- http://www.fernuni-hagen.de/www2bonsai/WTHEORIE/ds/node6.html
- Bedingte Wahrscheinlichkeit Verständlich für Schüler und Lehrer