Medizinethik
Die Medizinische Ethik beschäftigt sich mit den sittlichen Normsetzungen, die für das Gesundheitswesen gelten sollen. Sie hat sich aus der ärztlichen Ethik entwickelt, betrifft aber alle im Gesundheitswesen tätigen Personen, Institutionen und Organisationen und nicht zuletzt die Patienten.
Als grundlegende Werte gelten das Wohlergehen des Menschen, das Verbot zu schaden („Primum non nocere“) und das Recht auf Selbstbestimmung der Patienten (Prinzip der Autonomie), allgemeiner das Prinzip der Menschenwürde.
Inhalte
In fast allen Kulturkreisen finden sich feierliche Selbstverpflichtungen der Ärzte bezüglich ihrer ärztlichen Kunst, des Verhältnisses zu Patienten und zum eigenen Berufsstand. Bei uns dürfte der Eid des Hippokrates (ca. 4. Jahrhundert v. Chr.) am bekanntesten sein. Er wurde im Genfer Ärztegelöbnis (1948, 1968, 1983) zeitgemäß neu formuliert. Beim Nürnberger Ärzteprozess (1947) wurde ein Nürnberger Kodex aufgestellt, der die Grundlage zur Durchführung von notwendigen und ethisch haltbaren medizinischen Versuchen mit Menschen darstellt.
Euthanasie-Programme und Menschenversuche im Nationalsozialismus, japanische Experimente mit Kriegsgefangenen, der Missbrauch der Psychiatrie in der Sowjetunion, gewisse Forschungsexperimente in den USA und andere leidvolle Erfahrungen zeigten aber, dass das ärztliche Ethos nicht ausreicht, um kriminellen Missbrauch ärztlichen Wissens und Ehrgeizes zu verhindern.
Zu einer enormen Differenzierung der medizinischen Ethik führten schließlich die Herausforderungen durch die neuen Entwicklungen in der Medizin. Auch der Umgang mit knappen Ressourcen im Gesundheitswesen ist unter ethischen Aspekten zu diskutieren (vergleiche Fragen der medizinischen Ökonomie, oder dramatisch zugespitzt: die Triage in der Katastrophenmedizin).
Für die humanmedizinische Forschung wurden in Deutschland in den 1980er Jahren Ethikkommissionen bei den medizinischen Fakultäten oder bei den Landesärztekammern angesiedelt. Bei der Prüfung von Forschungsvorhaben orientieren sie sich an gesetzlichen Vorschriften und an den jeweiligen Berufsordnungen für Ärzte. Sie haben den Status eines beratenden Gremiums und werden nur auf Antrag tätig.
Die deutsche Bundesärztekammer hat 1995 eine Zentrale Ethikkommission eingerichtet: sie hat Stellungnahmen unter anderem zur Forschung mit Minderjährigen, zur (Weiter-)Verwendung von menschlichen Körpermaterialien, zur Stammzellforschung, zum Schutz nicht-einwilligungsfähiger Personen, zum Schutz persönlicher Daten in der medizinischen Forschung und zu Prioritäten in der medizinischen Versorgung veröffentlicht.
Der Weltärztebund verabschiedete 1964 eine „Deklaration zu Ethischen Grundsätzen für die medizinische Forschung am Menschen“ (Deklaration von Helsinki), die später mehrfach aktualisiert wurde und in vielen Ländern angewandt wird.
Bioethische Grundprinzipien
Autonomie
Welche Bereiche der Autonomie sind beeinträchtigt? Hat der Patient die Entscheidungsgewalt? Wo gibt es sachliche, wo anderweitige Einschränkungen der Autonomie?
Fürsorge, Hilfeleistung
Welche Funktionen des Patienten müssen von Dritten (Arzt, Pflege, Angehörige) übernommen werden und wieso? Ist ein Einverständnis des Patienten dazu vorhanden? Kann von einer Zustimmung ausgegangen werden? Welche Hilfe möchte der Patient für welche Situation in Anspruch nehmen? Allgemeines:Fürsorge und Hilfeleistung sind aktive Prozesse des Mitgefühls.Sie entstehen im Nahbereich zwischen Patient und Helfern (ärztliches und Pflege-Personal) durch Intuition, d.h.durch selbstevidentes, gefühlsmäßiges Handeln. Voraussetzung ist ein ausreichend langer, auch nonverbaler Patientenkontakt.Neuere Kognitionsforschungen haben Spiegelneurone nachgewiesen, die die neuroanatomische Struktur unseres Mitfühlens sind. Wird die Priorisierung im Gesundheitswesen auch den Patientenkontakt weiter reduzieren, wird die Motivation zur Fürsorge u.U. drastisch abnehmen.
Nicht-Schaden
In welcher Weise, wie stark und wie lange nützt/ schadet eine vorgeschlagene Therapie? Weiß der Patient um die zu erwartenden Einschränkungen Bescheid? Wird die Prognose der Krankheit durch die vorgeschlagene Therapie verbessert?
Gerechtigkeit
Welche Ressourcen werden für die individuelle Behandlung eingesetzt? Wo wird eingespart? Wirken sich diese Maßnahmen auf andere Patienten mit denselben Leiden oder mit anderen Krankheiten aus? Wie können Vorgaben des Managements erfüllt werden, bzw. warum nicht?
Siehe auch
- Abtreibung, Arzt-Patient-Beziehung, Bioethik, Eugenik, Gentherapie, Intensivmedizin, Nationaler Ethikrat, Organtransplantation, Reproduktionsmedizin, Stammzelltransplantation, Sichtung, Sterbehilfe, Sterbebegleitung, Wunscherfüllende Medizin, Deutsches Referenzzentrum für Ethik in den Biowissenschaften
Literatur
- Jürgen Barmeyer: Praktische Medizinethik: die moderne Medizin im Spannungsfeld zwischen naturwissenschaftlichem Denken und humanitärem Auftrag - ein Leitfaden für Studenten und Ärzte. 2., stark überarb. Aufl., LIT-Verl., Münster [u.a.] 2003, 175 S., ISBN 3-8258-4984-8
- Axel W. Bauer: Medizinische Ethik am Beginn des 21. Jahrhunderts. Theoretische Konzepte, Klinische Probleme, Ärztliches Handeln. J. A. Barth, Heidelberg, Leipzig 1998, ISBN 3-335-00538-4
- Kurt Bayertz, Andreas Frewer: Ethische Kontroversen am Ende des menschlichen Lebens. Palm & Enke, Erlangen [u.a.] 2002, 227 S., ISBN 3-7896-0584-0
- Jan P. Beckmann: Ethische Herausforderungen der modernen Medizin. Verlag Karl Alber, Freiburg / München 2010, ISBN 978-3-495-48394-7
- Marion Großklaus-Seidel: Ethik im Pflegealltag: Wie Pflegende ihr Handeln reflektieren und begründen können. Kohlhammer, 2002, ISBN 3170160753
- Bernhard Irrgang: Grundriß der medizinischen Ethik. UTB Verlag, München 1995, ISBN 3-825-21821-X
- A. R. Jonsen, M. Siegler, W. J. Winslade: Klinische Ethik 2006. Deutscher Ärzte-Verlag, Köln 2007, ISBN 978-3-7691-0524-7. (Eine praktische Hilfe zur ethischen Entscheidungsfindung in der Medizin).
- Hartmut Kreß: Medizinische Ethik. Verlag Kohlhammer, Stuttgart, ISBN 3-170-17176-3
- Ulrich H. J. Körtner: Grundkurs Pflegeethik. UTB 2514, Wien 2004, ISBN 3-8252-2514-3
- G. Marckmann, J. Meran: Ethische Aspekte der onkologischen Forschung 2006. Deutscher Ärzte-Verlag, Köln 2007, ISBN 978-3-7691-0527-8
- Thomas Schramme: Bioethik. Einführungen. Campus Verlag, Frankfurt, ISBN 3-593-37138-3
- Dieter Sperl: Ethik der Pflege: Verantwortetes Denken und Handeln in der Pflegepraxis. Kohlhammer 2002, ISBN 3170173146
- Ludwig Siep: Konkrete Ethik. Grundlagen der Natur- und Kulturethik. Suhrkamp, Frankfurt/Main 2004.
- Claudia Wiesemann: Medizinethik. Thieme, Stuttgart 2004, 172 S., ISBN 3-13-138241-4
- Urban Wiesing (Hrg.): Ethik in der Medizin. Ein Studienbuch. Reclam, Dietzingen, 2. Auflage 2004, 455 S., ISBN 3150183413
Weblinks
- Deutsches Referenzzentrum für Ethik in den Biowissenschaften (DRZE), Bonn
- Bioethik-Literaturdatenbank BELIT des Deutschen Referenzzentrums für Ethik in den Biowissenschaften (DRZE), Bonn
- Zentrum für Medizinische Ethik der Ruhr-Universität Bochum (mit weiteren Links)
- Institut für Ethik und Recht in der Medizin, Universität Wien
- Zentrale Ethikkommission bei der Bundesärztekammer
- Historische Überlegungen zur Medizinischen Ethik im naturheilkundlichen Kontext des Dritten Reichs
- www.medizinethik-online.de
- www.GTEmed.de
- Medizinethik: Im Schraubstock der Ökonomie (DÄ 29. Oktober 2004)
- Deutsche Übersetzung der Deklaration von Helsinki (pdf, 158 kB)
- Text des Genfer Ärztegelöbnisses (pdf, 6 kB)
- Medical Ethics Manual des Weltärztebundes
- Unterrichtsmaterialien zur Medizinethik (ZUM-Wiki)