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Mordfall Jessica

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Die Familie wohnte in der obersten Etage

Der Tod des siebenjährigen Hamburger Mädchens Jessica im März 2005 erregte unter der Bezeichnung Mordfall Jessica bundesweites Aufsehen.[1] Das Mädchen war in der elterlichen Wohnung wegen Unterernährung völlig entkräftet an eigenem Erbrochenen erstickt. Die Eltern hatten es jahrelang in einem Zimmer eingesperrt und vernachlässigt. Nach dreimonatiger Gerichtsverhandlung wurden sie im November 2005 zu lebenslanger Freiheitsstrafe wegen Mordes durch Unterlassen verurteilt.

Die Behörden gerieten in die Kritik, weil sie die Vernachlässigung des Mädchens nicht erkannt hatten. Die Verwaltung reagierte mit einer Verbesserung der Kontrollmechanismen, einer Aufstockung des Personals und einer Erhöhung der finanziellen Mittel.

Umfeld des Opfers

Lage des Tatortes in Hamburg
Die Wohnstraße in Jenfeld

Wohnort

Die Familie wohnte am östlichen Stadtrand Hamburgs im Stadtteil Jenfeld, der 1938 im Rahmen des Groß-Hamburg-Gesetzes eingemeindet wurde. In den 1960er- und 1970er-Jahren wurden auch hier Großsiedlungen gebaut. 24,7 Prozent der Bewohner beziehen Arbeitslosengeld-2, der Hamburger Durchschnitt liegt bei 11,9 Prozent.[2] Das durchschnittliche Einkommen lag bei 69 Prozent des Hamburger Durchschnitts.[3] Der Stadtteil gilt als sozialer Brennpunkt und Problemviertel.[4] Die 71-Quadratmeter-Mietwohnung, in der das Mädchen starb, liegt im obersten Stockwerk eines achtgeschossigen Mehrfamilienhauses.[5]

Familie

Jessicas Eltern waren die damals 35-jährige Marlies Sch. und der damals 49-jährige Burkhard M., beide Eltern bezogen Arbeitslosengeld-2.[6] Die Eltern verbrachten seit ihrem Umzug 2001 nach Jenfeld einen großen Teil ihrer Zeit in nahe gelegenen Gaststätten, teils mehrfach täglich.[5]

Burkhard M. hatte als Maler gearbeitet und wohnte in Berlin-Hohenschönhausen, bevor er nach Hamburg kam.[7]

Marlies Sch. lernte ihren Vater nicht kennen, ihre Mutter war häufig betrunken. Seit ihrem neunten Lebensjahr wurde sie etwa zwei bis drei Jahre lang vom Lebensgefährten ihrer Mutter sexuell belästigt, ohne dass die Mutter eingriff. Ab ihrem 13. Lebensjahr wohnte sie vier Jahre bei einer Tante. Nach der Schule begann sie eine Ausbildung zur Friseurin, die sie wegen einer Allergie nicht abschließen konnte. Später zog sie in eine Jugendwohnung. 1990, mit 21 Jahren, gebar sie ihren ersten Sohn. Der Vater war einer ihrer Mitbewohner. Wenige Monate später heiratete sie einen anderen Mann. Ihre Tante gab später an, der Säugling habe bei jedem ihrer Besuche im dunklen Zimmer gelegen und geschrien sowie übel und verstört ausgesehen. Acht Monate nach der Geburt des Kindes übergaben Mutter und Ehemann der Tante das Kind, das entgegen der normalen Entwicklung weder sitzen noch krabbeln konnte. Die Tante benachrichtigte das zuständige Jugendamt und Marlies Sch. gab das Kind zur Adoption frei. 1992 wurde ihr zweiter Sohn geboren, 1994 eine Tochter. Nach Angaben ihres damaligen Ehemannes hatte Marlies Sch. sich weder um die Kinder gekümmert, noch Windeln gewechselt, noch Essen zubereitet. Das Paar ließ sich 1996 scheiden, der Vater erhielt das Sorgerecht für die beiden gemeinsamen Kinder. Damals hatte das Jugendamt dem Familiengericht dargelegt, dass Marlies Sch. mit der Erziehung der beiden Kinder überfordert war. 1996 war Marlies Sch. als Näherin in Hamburg beschäftigt, nach unentschuldigtem Fernbleiben wurde ihr nach drei Monaten gekündigt. Später lernte sie Burkhard M. kennen, im August 1997 wurde die gemeinsame Tochter Jessica geboren. Marlies Sch. versuchte, die Schwangerschaft mit einem Schraubenzieher abzubrechen.[8][9]

Lebensbedingungen und Tod

Jessica verließ weder die Wohnung, noch bekam sie Besuch, Nachbarn wussten nichts von ihrer Existenz. Die Wohnung der Familie war verwahrlost, sie war vermüllt und mit Katzenkot verdreckt, die Katze selbst war gut genährt.[6] Jessica durfte ihr Zimmer auch für Toilettengänge nicht verlassen, Spielzeug gab es nicht.[7] Die Eltern hatten die Fenster des Zimmers zugeschraubt und die Scheiben mit lichtundurchlässiger Folie beklebt.[5] Auch hatten sie das Licht abgeschaltet und den Thermostat der Heizung auf niedriger Stufe verriegelt.[4] Die Zimmerdecke war mit Schimmel überzogen; von Jessicas Matratze waren nur die Sprungfedern übrig.[10] Jessica bekam selten zu essen und zu wenig zu trinken, daher riss sie sich schließlich Haare aus und aß sie, genauso wie Fäden ihrer Wolldecke und des Teppichs.[11] Sie hatte aufgrund des Flüssigkeitsmangels einen Darmverschluss und eine Nierenentzündung und konnte sich nur krabbelnd fortbewegen. Ihre Knochen waren aufgrund der Mangelernährung brüchig.[10]

Jessicas letzte Mahlzeit bestand aus Reis und Schokoladenpudding. In der Nacht vom 28. Februar auf den 1. März 2005 erbrach sie sich, war aber so entkräftet, dass sie dabei am Erbrochenen erstickte.[6] Kurz vor 7 Uhr morgens rief Marlies Sch. einen Notarzt.[8] Als der Jessica untersuchte, hatte die Leichenstarre schon eingesetzt. Das Mädchen hatte einen „Hungerbauch“[5] und bei einer Körpergröße von knapp 1,10 Meter mit nur 9,6 Kilogramm das Gewicht einer Ein- bis Zweijährigen. Der Vater behauptete, Jessica habe an einer Stoffwechselkrankheit gelitten, zum Arzt seien sie in der letzten Zeit aber nicht gegangen.[9] Tatsächlich hatte sie aber keine solche Vorerkrankung.[6]

Über die Vernachlässigung hinaus hatte Burkhard M. in Jessicas Zimmer durch Manipulation am Lichtschalter eine so genannte Stromfalle gelegt, um einen Haushaltsunfall vorzutäuschen. Er hatte die Schutzverkleidung des Lichtschalters entfernt und einen 15 Zentimeter langen, unisolierten Kupferdraht am Schalter befestigt, der unter 220 Volt Spannung stand. Außerdem hatte Burkhard M. unterhalb des Lichtschalters den isolierenden Teppich und das Linoleum entfernt, damit der darunter liegende Boden elektrischen Strom besser leiten konnte. Nach Angaben des Vaters hätte Jessica die Schutzverkleidung des Lichtschalters selbst abgerissen. Einem Gutachten und den Ermittlungen der Kriminalpolizei zufolge war der Kupferdraht jedoch erst nachträglich vom Vater angebracht worden.[12] Das Kind kam aber mit dem Draht nicht in Berührung.

Jessica wurde am 11. März 2005 auf einem Friedhof im Stadtteil Rahlstedt beigesetzt.[7]

Rolle der Behörden

Schule Oppelner Straße

Ab März 2005 gerieten Schulbehörde und Jugendämter in die Kritik, weil ihnen die Vernachlässigung der siebenjährigen Jessica schon früher hätte auffallen müssen. Es war zwar ein Bußgeldverfahren gegen die Eltern eingeleitet worden, nachdem sie ihre Tochter nicht zur Schule angemeldet hatten, aber nachdem das Kind zur Einschulung nicht erschienen war, waren weitere Maßnahmen unterblieben. Der Senat räumte Fehler der Behörde ein.[13]

Jessica war am 1. August 2004 schulpflichtig geworden. Der Schulleiter der Schule Oppelner Straße hatte Jessicas Eltern im Dezember 2003 angeschrieben und sie aufgefordert, Jessica anzumelden. Die Eltern reagierten nicht, auch nicht auf einen zweiten und dritten Brief im März 2004. Daraufhin meldete der Schulleiter das Fernbleiben des Kindes im April 2004 der Regionalen Beratungs- und Unterstützungsstelle der Hamburger Schulbehörde (Rebus). Die Rebus bemühte sich vergeblich, Jessicas Eltern zu erreichen. Dazu wurde sie dreimal an der Wohnung der Familie vorstellig, ohne dass die Eltern öffneten. Die drei im Briefkasten der Familie hinterlegten Briefe beantworteten die Eltern auch nicht. Nachbarn konnten auf Nachfrage des Rebus-Mitarbeiters keine Auskunft über Jessica geben, weil sie sie nicht kannten. Die Schulbehörde verhängte schließlich ein Bußgeld in Höhe von 60 Euro wegen einer Schulpflichtverletzung. Die Eltern reagierten auch auf die Bußgeldforderung und zwei folgende Mahnungen nicht; danach stellte die Rebus alle weiteren Bemühungen ein. Zu einer dritten Mahnung – nach der eine Zwangsvollstreckung möglich gewesen wäre, ggf. mit Amtshilfe durch die Polizei – kam es nicht mehr. Die Rebus informierte auch das zuständige Jugendamt nicht, da sie davon ausging, dass die Familie fortgezogen war.[6][8]

Strafrechtliche Folgen

Ermittlungen und Anklage

Jessicas Eltern wurden noch am 1. März 2005 festgenommen, am nächsten Tag ordnete ein Haftrichter Untersuchungshaft wegen Fluchtgefahr an.[6] Der Gerichtsmediziner Michael Tsokos, der die Leiche der Siebenjährigen obduzierte, meinte, dass das Mädchen nur noch vor sich hingedämmert haben könne, ohne richtig wach gewesen zu sein. Sie habe ausgesehen wie eine Verstorbene aus einem Konzentrationslager.[14]

In den kriminalpolizeilichen Vernehmungen sagte der Vater, Jessica habe „'n bisschen abgenommen“. Die Mutter zog sich auf die Schrecken ihrer eigenen Jugend aus Gewalt, Verwahrlosung, Missbrauch und Alkohol zurück.[7] Ansonsten hätten sie Jessica immer gepflegt und gefüttert. Burkhard M. gab an, dass er sich seit Dezember 2004 nicht weiter um Jessica gekümmert habe. Sie habe ihn abgelehnt. Ende 2004 oder Anfang 2005 habe er seine Tochter letztmalig lebend gesehen. Sie habe auf ihrem Bett im Kinderzimmer gelegen.[15] Der Verteidiger der angeklagten Mutter gab vor Prozessbeginn an, Marlies Sch. habe viel Schuld auf sich geladen. Allerdings hätten auch die Behörden versagt.

Die Staatsanwaltschaft erhob am 28. Juni 2005 Anklage gegen die Eltern. Sie lautete auf Misshandlung einer Schutzbefohlenen und Mord durch Unterlassung, wobei Grausamkeit als besonderes Mordmerkmal genannt wurde.[7] In der Anklageschrift wurde den Eltern vorgeworfen, Jessica gröblichst vernachlässigt zu haben, so dass sie sich weder körperlich noch geistig auch nur ansatzweise altersgerecht hätte entwickeln können.[12] Marlies Sch. und Burkhard M. hätten im gegenseitigen Einvernehmen beschlossen, Jessica sterben zu lassen, und somit einen „grausamen Mord zur Verdeckung einer Straftat“ begangen. Die Eltern hätten während des Ermittlungsverfahrens keine Einsicht gezeigt.[16]

Gerichtsverfahren

Der Prozess gegen die Eltern vor dem Schwurgericht des Landgerichts Hamburg begann am 24. August 2005, verhandelt wurde im Hochsicherheitstrakt des Strafjustizgebäudes.[17]

Einlassungen der Angeklagten

Am zweiten Verhandlungstag, dem 30. August 2005, äußerte sich Jessicas Mutter. Sie gab zu, ihre Tochter vernachlässigt zu haben. Seit Ende 2000 habe sie Mit Jessica nicht mehr draußen gespielt. Trotz massiver Probleme ihres Kindes habe sie weder einen Arzt noch eine Erziehungsberatungsstelle aufgesucht; sie habe es nicht geschafft. Seit 2001 habe sie Jessica immer wieder in ihrem Zimmer eingesperrt, etwa wenn sie einkaufen oder zum Imbiss gegangen sei. Das Mädchen habe nicht allein essen können und immer gefüttert werden müssen. Etwa ab Mitte Februar 2005 habe Jessica nicht mehr richtig gegessen und das Trinken völlig verweigert. Sie habe Jessica nicht in der Schule angemeldet, weil es mit Jessicas Sprache immer schlimmer geworden sei. Nachdem Burkhard M. 2003 an einer Leberzirrhose erkrankt sei, sei Jessicas Beziehung zu ihrem Vater in eine Krise geraten. Danach habe Jessica ihr Aussehen und ihr Verhalten geändert. Sie habe sich völlig zurückgezogen und habe wieder in die Hosen gemacht. Richtig trocken sei sie ohnehin nie gewesen.

Der Vater des Kindes äußerte sich vor Gericht nicht zu den Vorwürfen. Der Vorsitzende Richter verlas stattdessen das Protokoll der kriminalpolizeilichen Vernehmung.[15]

Gutachten

Der Psychiater Norbert Leygraf führte in seinem Gutachten über den Vater aus, dieser habe wohl „weder im Tatzeitraum noch in seiner Lebensgeschichte je unter einer schwerwiegenden psychiatrischen Erkrankung gelitten“, er sei aber gefühlsarm, wozu auch der jahrelange Alkoholmissbrauch beigetragen habe.[18]

Der Psychiater Hans-Ludwig Kröber hatte die Mutter untersucht. Er habe bei der Angeklagten „keine seelische Abartigkeit“ feststellen können, sie sei voll schuldfähig. Sie habe sich trotz ihrer „miserablen Kindheit“ stabilisiert. Entscheidend für die Tat seien Streitereien der Eltern gewesen. Aufgrund der Gleichgültigkeit des angeklagten Vaters habe es die angeklagte Mutter letztlich nicht mehr eingesehen, allein für die Versorgung ihrer Tochter zuständig zu sein. Jessicas Vernachlässigung habe sie „als Verteidigungsmaßnahme verstanden“.[19][20]

Plädoyers, Urteil und Revision

Die Staatsanwaltschaft forderte am 11. November 2005 eine lebenslange Freiheitsstrafe für beide Elternteile. Sie hätten ihre Tochter vorsätzlich misshandelt und getötet. Die Verteidiger der angeklagten Eltern plädierten am 16. November 2005 für eine Verurteilung wegen Körperverletzung mit Todesfolge und Misshandlung Schutzbefohlener und Freiheitsstrafen von höchstens 15 Jahren.

Am 25. November 2005 verurteilte das Landgericht Hamburg die beiden Angeklagten zu lebenslangen Freiheitsstrafen. Das Gericht stellte fest, dass Jessicas Entwicklung zunächst normal verlief; sie habe normal zu essen bekommen, habe laufen und einige Wörter sprechen können. Der Bruch innerhalb der Familie sei wahrscheinlich geschehen, als die Eltern mit der drei Jahre alten Jessica in den für sie neuen Stadtteil Jenfeld umgezogen seien und ein halbwegs intaktes soziales Umfeld verloren hätten. Ab diesem Zeitpunkt habe ein schleichender Prozess begonnen, in dessen Lauf Jessicas Leben zum Martyrium geworden sei. Der Vorsitzende Richter konstatierte, dass die Katze etwas zu fressen bekam, Jessica hingegen „musste hungern; die Katze durfte sich in der Wohnung frei bewegen, Jessica war in einem modrigen Zimmer eingesperrt“. Darüber hinaus sei die Katze fotografiert worden, Jessica als Familienmitglied hingegen nicht. Es sei neben den körperlichen Leiden für Jessica eine seelische Qual gewesen, in der Wichtigkeit hinter einem Haustier zu stehen, was sie in vollem Bewusstsein mitbekommen habe. Nach Überzeugung des Gerichts seien sich beide Elternteile darüber im Klaren gewesen, falsch zu handeln, indem sie Jessica Nahrung und Zuwendung verweigerten. Beide hätten genau gewusst, dass Jessica sterben würde, wenn sie nichts änderten, und hätten dies billigend in Kauf genommen. Durch den Hunger hätten sie Jessica „grausam zu Tode gebracht“.[1]

Die verurteilte Mutter habe als Resultat ihrer eigenen Kindheit Kinder als Feinde wahrgenommen, die abgewehrt werden müssten, um eigene Freiräume zu schaffen. Der verurteilte Vater sei ein „gefühlsmäßig verarmter und fatalistischer Mann“, der sich nicht darauf berufen könne, nicht gewusst zu haben, was sich in der Familie abspielte. Er habe gewusst, wie es seiner Tochter tatsächlich ging, habe dies aber „hinter der Fassade eines intakten Familienlebens“ verschleiert.

Der verurteilte Vater habe die Stromfalle in Jessicas Zimmer angebracht. Die Eltern hätten damit gemeinschaftlich den Tod ihrer Tochter in Kauf genommen. Beide hätten gehofft, dass Jessica den Draht anfassen und an einem Stromschlag sterben würde. Nach Überzeugung des Gerichts handelten die Eltern „aus gefühlloser, mitleidloser und böswilliger Gesinnung“. Sie hätten ihr „eigenes Leben in Kneipen, bei Bekannten oder beim Dartspielen leben“ wollen.[21]

Beide Elterteile reagierten nicht auf das Urteil. Sie waren teilnahms- und reglos, als ginge es sie nichts an. Der Verteidiger der verurteilten Mutter gab an, das Urteil werde ihr nicht gerecht. Er legte daraufhin Revision beim Bundesgerichtshof ein, der die Revision jedoch am 17. Oktober 2006 als „offensichtlich unbegründet“ verwarf. Damit war auch das Urteil gegen die Mutter rechtskräftig geworden.[11]

Aufarbeitung in Parlament und Verwaltung

Die Hamburgische Bürgerschaft reagierte im April 2005 mit der Einsetzung des Sonderausschusses „Vernachlässigte Kinder“. Mitarbeiter des Kinder- und Jugendnotdienstes berichteten dem Ausschuss, dass 2004 der Behörde 364 Fälle von Vernachlässigung gemeldet worden seien, während es 2003 noch 251 Fälle gewesen seien. Auch die Zahl der gemeldeten Kindesmisshandlungen sei in diesem Zeitraum von 287 auf 301 Fälle gestiegen.[7] Es berieten Behördenvertreter, Sozialarbeiter, Ärzte, Hebammen, Gerichtsmediziner, Polizisten und Familienrechtler. Wesentliches Ergebnis war, dass der Allgemeine Soziale Dienst (ASD) der sieben Hamburger Bezirke überlastet sei und dass selbst Problemfälle auf Wartelisten stünden.[22]

Der Erste Bürgermeister machte die politische Aufklärung um den Fall Jessica zur „Chefsache“ und verlangte eine minutiöse Aufklärung bis ins Detail darüber, an welchem Punkt Fehler enststanden seien, um sie künftig zu verhindern.[23] Bereits im Mai 2005 führte Hamburg den so genannten „Schulzwang“ ein, der Behörden berechtigt, mit einem richterlichen Durchsuchungsbeschluss in Wohnungen einzudringen, um nach schulpflichtigen Kindern zu suchen und die Schulpflichtigen notfalls durch die Polizei vorführen zu lassen. Am 27. September 2005 gab der Senat sein Programm „Hamburg schützt seine Kinder“ bekannt. Das Programm sah eine stärkere Kontrolle vor: Ein zentrales Schülerregister, das alle schulpflichtigen Kinder erfasst und keines mehr – aufgrund von Umzügen – durch das Raster fallen lässt. Die Jugendämter können sich nunmehr an die Staatsanwaltschaft wenden, um das Lebensumfeld eines Kindes abklären zu lassen. Die Zahl der Stellen beim Allgemeinen Sozialen Dienst wurde von 241 auf 273 angehoben. 14 Eltern-Kind-Zentren sind als Anlaufstellen für Eltern in schwierigen Lebenslagen eröffnet worden. Die Mittel für Familienhilfe und -förderung wurden erhöht: von 563 Millionen im Jahr 2001 auf 648 Millionen 2006. Die Fachkräfte der Sozialbehörde sind zu „Kinderschutzfachkräften“ fortgebildet worden.[24] Ärztliche Untersuchungen in den Kindertagesstätten und eine Kinderschutzhotline wurden eingeführt. Die Angebote früher Hilfen wurden ebenfalls aufgestockt: Hatte es 2001 nur ein Familienhebammen-Projekt gegeben, so waren es 2008 bereits 16 Projekte.[25]

Einzelbelege

  1. a b Focus Online, Artikel Katze wurde gefüttert, Jessica nicht vom 25. November 2005.
  2. Statistikamt Nord (für 2006)
  3. Statistikamt Nord (für 2004)
  4. a b Süddeutsche.de, Artikel Jessica und die Skala der Vernachlässigung vom 24. August 2005
  5. a b c d Spiegel Online, Artikel Das Mädchen, das nie existierte vom 2. März 2005.
  6. a b c d e f Welt Online, Artikel Mädchen verhungert in Jenfeld vom 2. März 2005.
  7. a b c d e f FAZ.net, Artikel Eltern der verhungerten Jessica vor Gericht vom 24. August 2005.
  8. a b c Der Spiegel, Artikel Jahrelanges Martyrium vom 7. März 2005.
  9. a b Focus Online, Artikel Verhungert im Verlies vom 7. März 2005.
  10. a b Berliner Zeitung, Artikel Eine Tat wie diese macht ratlos vom 26. November 2005.
  11. a b Focus Online, Artikel Lebenslange Haft für Eltern bestätigt vom 17. Oktober 2006.
  12. a b Hamburger Abendblatt, Artikel Sollte kleine Jessica in Stromfalle sterben? vom 22. August 2005.
  13. Spiegel Online, Artikel Senat räumt Behördenfehler ein vom 8. März 2005.
  14. Stern, Artikel Wie Verstorbene aus KZs vom 3. März 2005.
  15. a b Stern, Artikel Mutter bekennt sich mitschuldig vom 30. August 2005
  16. Welt Online, Artikel Prozeß gegen Eltern von Jessica beginnt am 24. August vom 29. Juli 2005.
  17. FAZ.net, Artikel FAZ.net, Artikel Eltern der verhungerten Jessica vor Gericht vom 24. August 2005
  18. Dem Vater war alles „scheißegal“ vom 26. September 2005
  19. Süddeutsche.de Spuren eines unsichtbaren Lebens vom 8. November 2005.
  20. Stern, Artikel Dem Vater war alles „scheißegal“ vom 26. September 2005
  21. Spiegel Online, Artikel Die Katze bekam zu fressen, Jessica musste hungern vom 25. November 2005.
  22. Publik-Forum, Artikel Die Fratze hinter der Fassade von Sabine Henning, Februar 2006.
  23. Stern, Artikel Wie Verstorbene aus KZs vom 3. März 2005.
  24. Welt Online, Artikel Senat:„Nach Jessicas Tod hat sich viel bewegt“ vom 6. Juni 2007
  25. Hamburger Abendblatt, Artikel Der Fall Jessica – und was danach geschah vom 12. März 2009.