Lothar Rothschild
Rabbiner Dr. Dr. h.c. Lothar Rothschild (* 1909 in Karlsruhe;gest. 1974 in St. Gallen) gehörte zu den bedeutendsten religös-liberalen Rabbinern des deutschsprachigen Judentums nach dem Zweiten Weltkrieg. Der Basler Bürger war im Sinn und Geist von Leo Baeck und Martin Buber ein Seelsorger und Mahner, Forscher und Publizist. 1974 starb er in St. Gallen an den Folgen eines Herzinfarktes. Bis heute ist er in der Schweiz - und weit über die Grenzen hinaus - unvergessen. Er galt auch als einzigartiger Redner und Publizist.
Der Auftrag, das Judentum in seinen vielfältigen Aspekten religiös, historisch, weltanschaulich zu vertreten und dabei den Bezug zur Gegenwart herzustellen, gehörte zu einem Rabbinertypus, wie er die Einheitsgemeinden im 20. Jahrhundert prägte und stärkte. Das erfolgreich abgeschlossene Studium der Geschichte an der Universität Basel kombinierte der junge Lothar Rothschild mit dem Rabbinertitel aus dem berühmten Breslauer Seminar, das sich darauf verstand, Rabbiner (im guten Sinne) liberaler wie konservativer Strömung gemeinsam auszubilden, weil es auf die Betonung der Extreme verzichtete.
Die Befähigung zur Wissenschaft und zur akademischen Laufbahn bewies Lothar Rothschild bereits mit seiner in die Reihe «Schweizer Studien zur Geschichtswissenschaft» aufgenommenen Dissertation: Auf grundlegende Weise werden rechtliche, soziale und wirtschaftliche Bedingungen jüdischen Lebens während des 18. Jahrhunderts im Spannungsfeld christlicher Staatsreligion untersucht. Sein 30 Jahre später veröffentlichtes Buch «Im Strom der Zeit: Hundert Jahre Israelitische Gemeinde St. Gallen 1863–1961» bleibt ebenfalls ein wichtiger Beitrag zur Geschichte der Juden in der Schweiz. Gleichzeitig erschien im Jahre 1963 in Tübingen seine verdienstvolle «Geschichte des Seminars von 1904 bis 1938» in der Gedächtnisschrift «Das Breslauer Seminar: Jüdisch-Theologisches Seminar in Breslau 1854–1938». Die Darstellung «Judentum in Ostdeutschland» in den «Abhandlungen und Berichten über die Deutschen im Osten: Leistung und Schicksal» (Köln 1967) bestätigt sein historisches Gespür.
Brücke zwischen Wissenschaft und Publikum
Beeindruckt blickt man auf das schriftstellerisch-journalistische Werk von Lothar Rothschild: Eine inhaltsreiche Fülle an Essays und Rezensionen fand sich in der von ihm mitbegründeten und redigierten Zeitschrift «Tradition und Erneuerung», oft in der Tagespresse, vor allem jedoch im «Israelitischen Wochenblatt», in deren Nachfolge bekanntlich das tachles steht. Rabbiner Rothschilds allwöchentliche Rubrik «Das Schriftwort» wurde rasch zum Begriff, begleitete so manches jüdische Heim von Schabbat zu Schabbat.
Mit der Betonung des Ethischen, des Verbindenden, des Prophetischen in der jüdischen Tradition stand Rabbiner Rothschild in der Linie seiner Vorbilder Leo Baeck und Martin Buber, denen er persönlich nahe stand. Lothar Rothschild schlug gekonnt Brücken zwischen Wissenschaft und Publikum. Seine klugen Ansichten des Wahren, Guten und Schönen kamen in der jüdischen und nicht jüdischen Welt an. Der viel gefragte Vortragsredner war bald weit über die Schweizer Grenzen bekannt aus Rundfunk und Fernsehen, lehrte an universitären Bildungseinrichtungen in St. Gallen und Zürich. Das Ehrendoktorat aus Amerika, und nicht weniger die ihm eigens zugedachte Festschrift «Forschung am Judentum» (Bern 1970), durfte Rabbiner Rothschild als besondere Anerkennung entgegennehmen.
In einem Sammelband lässt sich die Spannweite seiner Interessen erkennen, vom Talmud bis zu «Theodor Herzls prophetischer Sendung». In der ihm eigenen vornehmen Zurückhaltung hält der Autor zum Schluss fest: «Dieses Buch soll mehr das Wissen vermehrend als wissenschaftlich wirken, da vieles, was an sich bekannt ist, doch nicht bekannt genug ist. Wertvolle Geistesströmungen müssen immer von neuem in Erinnerung gerufen werden, und so habe ich eine Auswahl getroffen, welche dem Leser den grossen Geisteshauch des Judentums nahe bringen soll.» «Gesinnung und Tat. Berichte aus jüdischer Sicht» lautet der Titel des eben erwähnten Bandes aus dem Jahre 1969 als Beschreibung eines geistigen Vermächtnisses.
Unterstützung für Grüninger
Es gibt Momente, in denen Gesinnung nur in der Tat zählt. Schon sein erster Posten in Saarbrücken verlangte Bewährung in heikler Mission, erfolgte doch im Jahre 1935 per Volksabstimmung der Anschluss des sogenannten Saargebiets an das Naziregime. Der junge Rabbiner erwarb sich durch seine seelsorgerische geistige Führung der einst blühenden jüdischen Gemeinde, die nur noch durch Förderung der Auswanderung zu retten war, weithin Ansehen im deutschen Verbandsjudentum und Bewunderung bei der Jugend. Wieder zurück in Basel, wo der geborene Karlsruher aufgewachsen war, wirkte er von 1938 bis 1943 hilfreich bei der Flüchtlingsfürsorge des Verbandes Schweizerischer Armenpflegen. Europa war inzwischen eine Wüste der Vernichtung, die eingekreiste Schweiz für viele Juden die erhoffte Insel des Überlebens. Somit trat Lothar Rothschild in schwieriger Zeit zuerst im Grenzort Kreuzlingen, dann 1943 in St. Gallen das Rabbinat an. Mit Erfahrung und Einfühlungsvermögen wandte er sich den Nöten der hier aufgenommenen jüdischen Flüchtlinge zu. Wie neue Forschungsarbeiten bestätigen, war es Rabbiner Rothschild, der sich für den (erst heute rehabilitierten) Polizeihauptmann Grüninger einsetzte, als dieser nach dem Zweiten Weltkrieg mit seiner Familie in Existenznot von den meisten Juden und der christlichen Mitwelt allein gelassen war. Zu Lebzeiten hat Paul Grüninger für seine lebensrettenden Aktionen durch Rabbiner Rothschild Wertschätzung erfahren; umso heller leuchtet auf beide Männer das Licht der Tat.
Rabbiner Lothar Rothschild legte im Jahre 1968 aus gesundheitlichen Gründen sein Amt in St. Gallen nieder. Hier hatte er über ein Vierteljahrhundert sein produktives Schaffen entfaltet, sich mit seiner Gattin Thea sowie den beiden Söhnen Claude und Pierre etabliert, zugleich gerne für die Gemeinde in Kreuzlingen das religiöse Leben geleitet und den Freunden aus Basler Zeiten im humanistischen Geist die Treue bewahrt.