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Vergangenheitsbewältigung

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Mit dem Begriff Vergangenheitsbewältigung bezeichnet man in Deutschland im gebräuchlichsten Sinne den Umgang mit der Zeit des Nationalsozialismus, verbunden mit der Absicht daraus Lehren zu ziehen.


Anmerkungen zur Verwendung des Wortes in anderen Zusammenhängen finden sich am Ende des Artikels.


Dieser Vorgang ist vielschichtig und beschränkt sich nicht darauf, die nationalsozialistische Herrschaftszeit umfassend historisch zu erforschen und diese Forschungsarbeit zu unterstützen. Vielmehr gehört dazu:

  • Die Zeit muss juristisch aufgearbeitet werden. Es müssen also
    • die Täter abgeurteilt werden, die in der Zeit des Nationalsozialismus zu Verbrechern wurden. Diese Aufgabe wurde sofort nach Kriegsende von den Siegermächten angegangen und danach in vielen Bereichen der deutschen Justiz überlassen. Manche Verbrechen blieben auch 60 Jahre später noch ungesühnt. - Weiter müssen …
    • die Opfer rehabilitiert werden, die nach rechtstaaatlichen Maßstäben im Dritten Reich zu Unrecht verurteilt wurden. Auch dies erwies sich als ein langwieriges und schwieriges Unternehmen. Viele Opfer haben jahrelang vegeblich auf eine Genugtuung gewartet.
  • Die materiellen Schäden der Opfer müssen ersetzt werden. Zu dieser Wiedergutmachung gehören so unterschiedliche Leistungen wie Haftentschädigung, Kosten für gesundheitliche Rehabilitation oder Entschädigung für berufliche Nachteile.
  • Die vom Nationalsozialismus propagierten Werte und Normen müssen hinterfragt, ihr menschenverachtender Charakter muss deutlich gemacht werden. Es sind ihnen demokratische und ethisch-moralische Wertvorstellungen entgegenzusetzen.
  • Die Erinnerung an die Verbrechen des Unrechtsregimes soll mahnend wach gehalten werden (Erinnerungskultur).
  • Schließlich sind verfassungsrechtliche bzw. strafrechtliche Vorkehrungen zu treffen, die die Wiederkehr einer Gewaltherrschaft jedweder Art verhindern sollen.

Der Begriff Vergangenheitsbewältigung umfasst damit so viele unterschiedliche Bedeutungsebenen, dass sich eine konsensfähige Definition noch nicht gebildet hat.

Dieser Artikel wird weiter überarbeitet. Unterthemen werden vervollständigt und als eigene Artikel ausgegliedert und verlinkt; nur "zeitlicher Überblick" bleibt dann hier stehen. Ausgelagert wurden inzwischen: "Rehabilitation der Opfer" --> Aufhebung von NS-Unrechtsurteilen; "Wiedergutmachung" --> Deutsche Wiedergutmachungspolitik; "Aburteilung der Täter" --> Bestrafung nationalsozialistischer Verbrechen. - Benutzer:Holgerjan und Benutzer:Peter Steinberg

Vergangenheitsbewältigung in Deutschland

Zeitlicher Überblick

Vorherrschend wird die Meinung vertreten, dass in den ersten zwei Jahrzehnten nach Ende des Krieges die NS-Vergangenheit weitgehend verdrängt worden sei. Einige Historiker, namentlich Michael Wolffsohn und Ernst Nolte, widersprechen allerdings dieser Auffassung.

Die ungesühnten NS-Verbrechen rückten Anfang der sechziger Jahre wieder ins Blickfeld ; große Aufmerksamkeit erreichte der Auschwitz-Prozess. Aber im Spannungsfeld des Kalten Krieges blieb die strafrechtliche Vergangenheitsbewältigung nicht unumstritten. 1965 plädierte die Hälfte der Befragten für eine sofortige Beendigung aller NS-Prozesse. Max Güde, vordem Generalbundesanwalt, bezeichnete noch 1968 Staatsanwälte, die in Moskau belastendes Material abholen wollten, als “unsere Idioten”. (1959 hatte er allerdings angesichts der gegen wiederamtierende ehemalige Richter und Staatsanwälte von NS-Sondergerichten erhobenen Vorwürfe, aufgrund der von ihnen u.a. begangenen politischen Urteile und Rechtsverstöße im Hinblick auf Osteuropäisches Belastungsmaterial erklärt, belastende Dokumente müssten eingesehen und geprüft werden, unabhängig wo sie liegen.) Ralph Giordano hat die Versäumnisse bei der Strafverfolgung und die mangelnde Bereitschaft dazu als “die zweite Schuld” beklagt.

Die Strafverfolgung der achtziger und neunziger Jahre vollzog sich nach einem Generationswechsel in einem anderen gesellschaftspolitischen Klima, in dem die Bereitschaft deutlich gestiegen war, sich mit den dunklen Seiten der deutschen Geschichte zu beschäftigen. Diese weit verbreitete Beurteilung muss aber relativiert werden. In einer Meinungsumfrage vom Mai 2005 sprachen sich 41% der Befragten dafür aus, einen Schlussstrich unter die Beschäftigung mit der NS-Zeit zu setzen; für eine weitere Aufarbeitung stimmten 51%.

Politische Maßnahmen

Wichtig für die weitere strafrechtliche Verfolgung war die Gründung der Zentralen Stelle der Landesjustizverwaltungen zur Aufklärung nationalsozialistischer Gewaltverbrechen (kurz Ludwigsburger Zentrale Stelle), die ab 1958 in Ludwigsburg ihre Arbeit aufnahm.

Die Holocaustleugnung wurde mit dem § 130 StGB als Volksverhetzung unter Strafe gestellt. Die Verwendung von Fahnen und Symbolen des NS-Regimes ist nach § 86 StGB verboten.

Im Grundgesetz wurden die unveräußerlichen Grundrechte festgeschrieben und die föderale Struktur der Republik zwingend vorgegeben. Durch das staatlich finanzierte Institut für Zeitgeschichte wie auch die Bundeszentrale für politische Bildung werden die Bemühungen um eine Vergangenheitsbewältigung unterstützt.

Die Kultusministerkonferenz vereinbarte 1960 Richtlinien für den Unterricht, die sicherstellen sollen, dass jeder Schulabgänger ein Grundwissen über den Nationalsozialismus erwirbt.

Erinnerungskultur

Wesentlicher Teil der Vergangenheits-”Bewältigung” ist das Wachhalten der Erinnerung an das NS-Unrechtsregime. Dazu dienen nicht nur ritualisierte Formen wie Gedenkveranstaltung zum Jahrestag der Reichspogromnacht oder Gedenkfeiern im Deutschen Bundestag. Im öffentlichen Bewusstsein hat das Fernsehen mit Sendungen wie Holocaust - Die Geschichte der Familie Weiß nachhaltig gewirkt. Auch regionale begrenzte Auseinandersetzungen um Straßennamen oder Tafelinschriften an Gebäuden, das Spenden von Stolpersteinen oder Zeitzeugenbefragungen durch Schüler sind von Wirksamkeit. Herausragende Reden wie die des Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker zum 8. Mai 1985 oder der zum Symbol gewordene Kniefall Willy Brandts in Warschau sind Marksteine der Erinnerungskultur. An zentraler Stelle hält das Berliner Denkmal für die ermordeten Juden Europas die Erinnerung an das dunkelste Kapitel deutscher Geschichte wach.

Schlussstrichdebatte

Das Wort Vergangenheitbewältigung ist sprachlich ungenau: “Bewältigung” lässt an einen abgeschlossenen oder abzuschließenden Vorgang denken. Eben darum kann es sich aber hier nicht handeln. Das historische Grundwissen und die daraus abzuleitenden Folgerungen und ethischen Werte müssen von jeder nachwachsenden Generation erneut erworben und verinnerlicht werden.

Folgt man den offiziellen Verlautbarungen, so ist dies die allgemeine Meinung unter demokratischen Politikern und den meisten Publizisten.

Kritiker von links, etwa Antifa-Gruppen, nehmen andere gesellschaftliche Entwicklungen wahr: Außerhalb der offiziellen Festreden werde die Aufarbeitung des Nationalsozialismus zunehmend als abgeschlossenes Kapitel behandelt, die Schuld als abgegolten betrachtet, Verantwortung zurückgewiesen. Dies gehe damit Hand in Hand, dass Deutsche sich verstärkt als Opfer bezeichnen (siehe Luftangriffe auf Dresden).
Diese Kritiker stellen eine solche Umwertung in den Zusammenhang mit der neuen Rolle Deutschlands in der Welt, wie sie ja auch von der offiziellen Politik betont wird. Sie sehen in diesem neuen Rollenverständnis eine Rückkehr zum deutschen Imperialismus, wogegen sie scharf Stellung beziehen.

Zumindest von Rechtsextremen wird ein "Schlussstrich" in der Tat vehement gefordert. Das Wort Vergangenheitsbewältigung wird dort oftmals höhnisch als "VB" abgekürzt. (Diese Abkürzung ist eigentlich für den Völkischen Beobachter gebräuchlich). Bemühungen um Vergangenheitsbewältigung bezeichnen rechtsradikale Kreise herabsetzend als Schuldkult und lehnen sie als unvereinbar mit ihrem Nationalstolz ab. Sie unterstellen, dass die Siegermächte mit der Forderung nach Vergangenheitsbewältigung moralischen Druck ausüben, um Deutschland in Demut und Schwäche zu halten.

Weitere Verwendung des Begriffs

Neuerdings wird manchmal auch die Untersuchung von Aktivitäten der Staatsicherheitsorgane ("Stasi") und von Unrechtsurteilen in der DDR mit dem Begriff Vergangenheitsbewältigung belegt.

Im weiteren Sinne wird der Begriff Vergangenheitsbewältigung auf entsprechende Aktivitäten übertragen, in denen andere demokratische Staaten oder Gesellschaften ihre eigene Geschichte aufarbeiten, soweit sie von Diktatur , Verbrechen staatlicher Organe oder Menschenrechtsverletzungen gekennzeichnet ist. Dies geschieht oft in Form einer Wahrheits- und Versöhnungskommission, die zeitlich begrenzt arbeitet und deshalb nicht alle Bereiche abdeckt.

In engsten Sinne wird der Begriff Vergangenheitsbewältigung auch verwendet für das Eingeständnis individueller Schuld und oder Eingeständnis des Versagens einer gesellschaftlichen Gruppe und für die persönliche oder gemeinsame Auseinandersetzung mit dieser Schuld.

Siehe auch

Aufarbeitung der Vergangenheit

Literatur

  • Norbert Frei: Vergangenheitspolitik. Die Anfänge der Bundesrepublik und die NS-Vergangenheit. 2. Aufl. München 2003, ISBN 3-423-30720-X (bis 1954)
  • Clemens Vollnhals: Zwischen Verdrängung und Aufklärung... In: Ursula Büttner (Hrsg.): Die Deutschen und die Judenverfolgung im dritten Reich. Überarb. Neuaufl. Frankfurt/M 2003, ISBN 3-596-15896-6 (bis ca. 1961 / zahlr. Umfrageergebnisse)
  • Bertold Kamm, Wolfgang Mayer: Der Befreiungsminister – Gottlob Kamm und die Entnazifizierung in Württemberg-Baden. Silberburg, Tübingen 2005, ISBN 3874076555