Kudrun

Kudrun (auch Gudrun oder Gudrunsage) ist ein anonymes strophisches Heldenepos in mittelhochdeutscher Sprache und somit das zweite große Heldenepos der mittelalterlichen deutschen Literatur neben dem Nibelungenlied.
Entstehung und Überlieferung
Das im bayrisch-österreichischen Raum um 1230/1240 entstandene Werk beruht zum Teil auf älteren Quellen aus dem Sagenkreis der Nordsee und ist lediglich in einer Abschrift im Ambraser Heldenbuch überliefert; an der Handschrift arbeitete zwischen 1504 und 1515 Hans Ried im Auftrag Maximilians I.
Inhalt

Das Werk gliedert sich in drei Teile, den Hagenteil, den Hildeteil und schließlich den Kudrunteil.
Hagenteil
Im ersten Teil berichtet der unbekannte Autor vom „wilden Hagen von Irland“, dem Sohn von König Sigebant und Ute, der während eines höfischen Festes von Greifen geraubt wird. Auf einer Insel trifft dieser auf drei Prinzessinnen; es gelingt Hagen schließlich, die Greifen zu besiegen und ein Pilgerschiff anzuhalten, das sie nach Irland bringt. Zu Hause angekommen heiratet Hagen Hilde, eine der Prinzessinnen, und hat mit ihr zusammen eine Tochter, die ebenfalls Hilde heißt.
Hildeteil
Um die Tochter Hilde wirbt der König Hetel von Hegelingen, der Boten (Horand, Frute und Wate) nach Irland schickt, die sich dort als vertriebene Kaufleute ausgeben und die – zum Beispiel durch den wunderschönen Gesang Horands – die Gunst des Hofes und Hagens gewinnen. So kann Hilde schließlich mit einer List entführt werden. Es kommt bei der Verfolgung zum Kampf zwischen Hetel und Hagen, in welchem beide verwundet werden. Zuletzt schließen sie Frieden, und Hetel und Hilde feiern Hochzeit.
Kudrunteil
Hetel und Hilde haben zusammen einen Sohn, Ortwin, und eine Tochter, Kudrun. Um diese wird von drei Parteien, nämlich von Siegfried von Môrlant, Hartmut von Ormanîe und Herwig von Sêlant geworben. Alle werden sie abgewiesen. Schließlich überfällt Herwig Hetel, erreicht Frieden und auch, dass Kudrun ihm anverlobt wird.
Siegfried dringt daraufhin in Herwigs Land ein und es kommt zu einem langwierigen Kampf zwischen Siegfried auf der einen, und Herwig und Hetel auf der anderen Seite.
Hartmut von Ormanîe nützt die Abwesenheit Hetels, um in dessen Burg einzudringen und Kudrun und ihre Jungfrauen zu entführen. Von diesen Ereignissen hört Hetel und schließt sogleich Frieden mit Siegfried, um den Entführern nachzueilen. Hetel, Herwig und Siegfried kämpfen nun auf dem Wülpensand gegen Hartmut, dessen Vater Ludwig Hetel erschlägt. Die Entführer entkommen; nun kommt es zu einer 13-jährigen Kampfpause, in welcher von Hilde und den ihren ein großer Feldzug gegen Hartmut geplant wird.
In dieser Zeit ist Kudrun am Hofe Hartmuts, weigert sich aber beständig, ihn zum Mann zu nehmen, obwohl vor allem Gêrlint, die Mutter Hartmuts, nichts unversucht lässt, Kudrun doch dazu zu bewegen: so muss sie beispielsweise niedere Dienste tun und am Strand Wäsche waschen.
Dort entdecken sie auch die Boten Hildes, Ortwin und Herwig, die mit einem gewaltigen Heer nach Ormanîe aufgebrochen sind. Kudrun wirft daraufhin die Wäsche ins Meer, woraufhin ihr von Gêrlint große Strafe angedroht wird. Dieser entgeht sie durch eine List: sie gibt vor, Hartmut nun doch heiraten zu wollen, und wird daraufhin gebadet und festlich hergerichtet.
Währenddessen rückt das Heer Hildes zur Burg Ludwigs vor, und es kommt zur finalen Schlacht, die die Hegelingen gewinnen. Unter anderem werden Ludwig von Herwig und Gêrlint von Wate getötet. Hartmut wird verschont, aber in Hildes Land verschleppt.
Es kommt nun zur Großhochzeit: Kudrun stiftet Hochzeits-Bündnisse, um die Feinde miteinander zu versöhnen: sie heiratet Herwig, ihr Bruder Ortwin die Schwester Hartmuts, Ortrun, Hartmut heiratet Hildburg, die Gefährtin Kudruns, und zuletzt heiratet Siegfried von Môrlant die Schwester Herwigs.
Interpretation und Einordnung
Obwohl die Kudrun gemeinhin als Werk der deutschen Heldenepik angesehen wird, beinhaltet das Epos auch Elemente des Höfischen Romans, der Spielmannsepik und der Hagiographie. So spielen höfisch-ritterliche Motive in der Kudrun immer wieder eine bedeutende Rolle; etwa bei der Schilderung von zeremoniellen Handlungen an den Königshöfen, Verabschiedungen und Begrüßungen sowie ritterlichem Minnedienst. Da das Brautwerbungsschema als gattungskonstituierend für die Spielmannsepik anzusehen ist, spielt diese Gattung für die Kudrun eine besonders große Rolle, das Schema wird in vielfältigen Abwandlungen und Ergänzungen immer neu aufgegriffen. Auch christliche Elemente tauchen immer wieder auf; so wird Hagen auf der Greifeninsel erst durch sein Bekenntnis zu Gott als Mensch anerkannt und Kudrun während ihrer Geiselhaft in Ormanie von einem Engel in Gestalt eines Meeresvogels auf eine Art und Weise angesprochen, die an den Englischen Gruß an Maria erinnert. Dass die Kudrun dennoch als der Heldenepik zugeordnet gilt, ist vor allem der Textform (Strophengliederung), den intertextuellen Bezügen auf altnordische Sagengestalten der Edda und der Anonymität des bzw. der Autoren geschuldet. Diese drei Konstituanden sind maßgeblich für die Zugehörigkeit des Textes zur heldenepischen Tradition.
Die germanistische Forschung sieht in der Kudrun gemeinhin einen Gegenentwurf zum Nibelungenlied. Während in diesem mit dem tragischen Untergang der Burgunden das heroische Prinzip der Rache und Vergeltung dominiert, gibt es in der Kudrun - neben den klassischen heldenepischen Elementen - auch Momente der Versöhnung. Diese Idee von der Kudrun als "Anti-Nibelungenlied" wird in sogar noch über die reine Parallele der Motive hinaus auf bestimmte Figuren bzw. Figurenkonstellationen der beiden Epen übertragen; so gelten beispielsweise Wate und Gerlint als Entsprechung zu Hildebrand und Kriemhild. Darüber hinaus wird die Kudrun auch als der Toleranzidee des Willehalm Wolframs von Eschenbach verpflichtet interpretiert, da die Frauen in der Erzählung bei verschiedenen Gelegenheiten zur Schonung des Gegners mahnen, ähnlich wie es Gyburc im Willehalm tut. Das immer wieder grundlegende Forschungsproblem der Intertextualität der Kudrun – also der Frage ob, und wenn ja, wie die Kudrun mit anderen Texten vergleichbar ist – wurde von Kerstin Schmitt unter dem Schlagwort einer "Poetik der Montage" zusammengefasst (siehe Literatur). Darunter versteht sie ein recht regelloses Zusammenfügen und gegenseitiges Ergänzen von jeweils gattungsspezifischen Motiven (wie z. B. das Brautwerbungsschema oder das heroische Handeln einzelner Figuren), das in einer nur schwierig greifbaren Gattungszuordnung des Gesamtwerks und Unstimmigkeiten im Handlungsablauf sowie in der biographischen Entwicklung einzelner Figuren resultiert (so ist z. B. Hagen sowohl archaischer Kämpfer, höfisch gebildeter König und eifersüchtiger Brautvater). Ein unkritisches Nebeneinanderstellen einzelner Episoden der Handlung der Kudrun und eines Vergleichstextes ist folglich nur eingeschränkt möglich, da das Handeln einzelner Figuren oftmals von verwendeten Handlungsstrukturen bestimmt wird, die keine Abweichungen zulassen.
Das Handeln der zentralen Figur der Kudrun wird von der Forschung sehr vielfältig interpretiert; es reicht von einer regelrechten Bewunderung für die den höfischen Idealen der Treue, Aufrichtigkeit und Barmherzigkeit verpflichteten Braut über eine Auslegung als moderne, selbstbewusst entscheidende Frau bis hin zur Verurteilung als wankelmütiges, undiszipliniertes und leicht zu beeinflussendes Mädchen. Insbesondere in der älteren Germanistik wurde Kudrun als Symbolfigur für die angeblich natürlichen Tugenden der deutschen Frau schlechthin regelrecht verehrt, später galt sie dann als eine geradezu emanzipierte Frau mit starkem eigenen Willen. Die moderne Forschung sieht Kudruns Handeln weniger als vom Autor neu konzipiert oder gar mit sozialkritischem Anspruch versehen, sondern an einzelne Handlungsstränge der jeweils verwendeten Erzählstrukturen und -motive sowie der Sagenüberlieferung gebunden.
Literatur
- Kudrun, nach der Ausgabe von Karl Bartsch hrsg. von Karl Stackmann. Tübingen, Max Niemeyer Verlag, 2000. ISBN 3-484-20215-7
- Beck, Adolf: Die Rache als Motiv und Problem in der 'Kudrun'. Interpretation und sagengeschichtlicher Ausblick. In: Germanisch-Romanische Monatsschrift, Neue Folge 6, 1956, S. 305-338.
- Müller, Jan-Dirk: Verabschiedung des Mythos. Zur Hagen-Episode der Kudrun. In: Friedrich, U. / Quast, B. (Hrsg.): Präsenz des Mythos. Konfigurationen einer Denkform in Mittelalter und Früher Neuzeit. Berlin: De Gruyter $2004$, S. 197-217.
- Stackmann, Karl: 'Kudrun'. In: Verfasserlexikon, 2.Auflage, Berlin/New York 1999, Bd.5, S. 410-426.
- Schulze, Ursula: 'Nibelungen' und 'Kudrun'. In: Epische Stoffe des Mittelalters, hg. von Volker Mertens u. Ulrich Müller, Stuttgart 1984, S.111-140.
- Schmitt, Kerstin: Poetik der Montage. Figurenkonzeption und Intertextualität in der "Kudrun". Erich Schmidt Verlag 2002 ISBN 3-503-06142-8