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Kurt Hübner (Philosoph)

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Kurt Karl Rudolf Hübner (* 1. September 1921 in Prag) ist ein deutscher Philosoph, der mit seinen Arbeiten zur Wissenschaftstheorie und zum Mythos hervorgetreten ist. Er lehrte als ordentlicher Professor in Berlin und Kiel und war von 1969 bis 1975 Präsident der Allgemeinen Gesellschaft für Philosophie in Deutschland. Kurt Hübner gilt als Hauptvertreter des wissenschaftstheoretischen Historizismus.

Leben

Kurt Hübner ist der Sohn des Juristen Rudolf Hübner, der als Professor an der Universität Jena wirkte. Kurt Hübner studierte zunächst in seiner Heimatstadt Prag, später in Rostock und Kiel Philosophie. Das Studium schloss er 1951 mit einer Promotion ab und habilitierte sich im Jahr 1955. Von 1960 bis 1971 war er ordentlicher Professor an der Technischen Universität Berlin und Honorarprofessor an der Freien Universität Berlin. Von 1971 bis zu seiner Emeritierung 1988 lehrte er als ordentlicher Professor an der Universität Kiel. Bis 1988 war er dort dann auch Direktor des Philosophischen Seminars.

Von 1969 bis 1975 stand Hübner der Allgemeinen Gesellschaft für Philosophie in Deutschland als Präsident vor. Von 1978 bis 1988 war er Mitglied des Comité Directeur der Fédération Internationale des Sociétés de Philosophie in Bern. 1993 wurde Kurt Hübner die Humboldt-Plakette verliehen.

„Hübner ist wohl einer der letzten Universalisten der Philosophie und Wissenschaftstheorie, der mit gleicher Kompetenz über Natur- und Kunstwissenschaften, Einstein wie Goethe, das mosaische Gesetz wie die Genom-Entzifferung zu urteilen vermag.“

Die Zeit[1]

Philosophie

Wissenschaftstheorie

Die fünf Klassen von Festsetzungen nach Hübner

Hübners wissenschaftstheoretisches Werk Kritik der wissenschaftlichen Vernunft erschien 1978, wurde in viele Sprachen übersetzt und mehrfach neu aufgelegt. Nach Hübner ist wissenschaftliches Arbeiten durch fünf Klassen von Festsetzungen bestimmt:

  1. Durch instrumentale Festsetzungen werden die Daten, das Einzelne der wissenschaftlichen Erkenntnis, bereitgestellt.
  2. Funktionale Festsetzungen liefern das Allgemeine der wissenschaftlichen Erkenntnis.
  3. Durch axiomatische Festsetzungen werden die Bedeutungsrelationen zwischen dem Einzelnen und dem Allgemeinen zu Formen von Naturgesetzen verschmolzen.
  4. Anhand judikaler Festsetzungen werden die aufgestellte Gesetze auf ihre Verlässlichkeit hin überprüft.
  5. Normative Festsetzungen bestimmen die Objektbereiche einer Wissenschaft, ihre Methoden und die Art möglicher Erkenntnisse.

Diese Festsetzungen, die Hübner auch wissenschaftstheoretische Kategorien nennt, sind von der historischen Situation abhängig, in der sich die jeweiligen Forscher befinden. Anhand zahlreicher Beispiele aus der Wissenschaftsgeschichte zeigt Hübner, dass diese Festsetzungen für die verschiedensten Wissenschaftsbereiche auch im Nachhinein angebbar sind, selbst wenn die Wissenschaftler sie möglicherweise nur intuitiv angewandt haben. Hübner beschreibt alle Wissenschaften als Regelsysteme, einerlei ob die Regeln, die mit den fünf Arten von Festsetzungen bestimmt sind, informell (d.h. nicht schriftlich fixiert) oder formell (d.h. explizit angegeben) vorliegen oder vorgelegen haben. Alle Grundlagen, wie sie bislang für die Wissenschaften angebbar sind, besitzen keine absolute, sondern stets eine historisch bedingte Fundierung.

Das Verhalten von Menschen ist in allen Lebensbereichen durch informelle oder formelle Regelsysteme beschreibbar. Die Gesamtheit der Regelsysteme, durch die das Verhalten der Menschen zu einem bestimmten Zeitpunkt und in einer bestimmten geographischen Region beschrieben werden kann, bezeichnet Hübner als historische Systemmenge. Der Wandel der Systemmenge, durch die eine historische Situation gekennzeichnet ist, wird durch Widersprüche innerhalb dieser Menge von Regelsystemen angestoßen. Die Menschen, die in ihren Lebensbereichen von diesen Widersprüchen betroffen sind, werden aufgrund ihrer Vernunftbegabung versuchen, die Regelsysteme so zu verändern, dass diese Widersprüche aufgehoben werden. Dies führt nach Hübner zu einer Harmonisierung der Systemmenge. Die Harmonisierung der Systemmenge kann durch Explikation erfolgen, also durch weitere Ausarbeitung und Anwendung etwa von wissenschaftlichen Theorien, oder durch Mutation, also durch die Änderung der Grundlagen der Regelsysteme, was in den Wissenschaften bedeutet, dass sich ihre Festsetzungen ändern, insbesondere die normativen Festsetzungen.

Die Harmonisierung einer Systemmenge bezeichnet Hübner als Fortschritt. Fortschritt I liege vor, wenn die Harmonisierung durch Explikation stattgefunden habe. Von Fortschritt II spricht er, wenn die Harmonisierung durch eine Systemmutation entstanden sei. Mit dieser Theorie gelingt es Hübner, den Fortschrittsgedanken auch über sogenannte wissenschaftliche Revolutionen hinweg zu bewahren. Das Zustandekommen der einschneidenden wissenschaftlichen Revolutionen in der europäischen Geistesgeschichte zeichnet Hübner mit Hilfe seiner Fortschrittstheorie nach. Durch die von ihm beschriebenen Systemharmonisierungen der historischen Systemmengen braucht nicht mehr nur wissenschaftsimmanent argumentiert zu werden. Vielmehr können auch außerwissenschaftliche Einflüsse, wie etwa Änderungen religiöser Regelsysteme, bei der Darstellung des historischen Verlaufs wissenschaftlicher und gesellschaftlicher Umbrüche berücksichtigt werden. Selbst die Systemmengen der mythischen Zeit führen nach Hübner zu in sich geschlossenen Weltsichten, die den verschiedenen wissenschaftlichen Weltsichten hinsichtlich ihrer Konsistenz und ihrer lebenserhaltenden Funktionen für die Menschen in nichts nachstehen.

Mythos als Erfahrungssytem

Sonnengott Helios,
(J.B.Zimmermann, 17. Jh.)
Erdrotation

In seinem Werk Die Wahrheit des Mythos[2] versucht Hübner, das Verhältnis von Wissenschaft und Mythos zu bestimmen. Das weit verbreitete Klischee, dass der Mythos die Wirklichkeit nur verzerrt wiedergebe und die Wissenschaft auf empirischer Grundlage ein absolut zutreffendes Bild der Wirklichkeit biete, wird als falsch entlarvt, weil die Wissenschaft auf einer Reihe apriorischer Voraussetzungen beruhe, die einerseits historisch bedingt seien und anderseits im Rahmen wissenschaftlicher Rationalität auch nicht begründbar seien, da sie gerade die Bedingungen der Möglichkeit von Wissenschaft ausmachten. Generell haben nach Hübner Basissätze, die verifizierend oder falsifizierend sind, mehr oder weniger zahlreiche, a priori gesetzte, theoretische Voraussetzungen. Karl Poppers Versuch, wenigstens bei Falsifikationen absolute wissenschaftliche Gewissheit zu erlangen, sei gescheitert. Das „Wesen Wissenschaft“ wachse ständig und wandle sich immer wieder in seinen apriorischen Entwürfen und Rahmenbedingungen bis zum radikalen Paradigmenwechsel. Trotzdem liege der Wissenschaft eine fundamentale Auffassung von Wirklichkeit zugrunde, die sich niemals verändert habe, weil sie zur Definition des Phänomens Wissenschaft gehöre. Eine solche apriorische, grundlegende und allgemeine Auffassung von Wirklichkeit bezeichnet man als Ontologie, also als eine allgemeine Lehre vom Sein.[3] Die moderne Wissenschaft sei ebenso wie der Mythos eine historisch kontingente Formation.

Der Mythos stellt nach Hübner ebenfalls wie die wissenschaftliche Ontologie ein Erfahrungssystem dar. Es gebe ebensowenig eine empirische Widerlegung der mythischen Ontologie wie es eine empirische Begründung der wissenschaftlichen Ontologie gebe. Es bestehe ein analoger Zusammenhang zwischen der mythischen und der wissenschaftlichen Ontologie. So wie die Wissenschaften die Welt mit Hilfe von Naturgesetzen erklären, so erklärt der Mythos die selben Vorgänge, indem er sie auf ein heiliges Urgeschehen zurückführt, das sich regelmäßig wiederholt. Den Naturgesetzen in der Naturwissenschaft entsprächen im Mythos die Archaí, also die Ursprungsgeschichten. In ihnen werde jeder regelmäßige, sich stets wiederholende Ablauf im Naturgeschehen auf ein ursprüngliches, nicht datierbares Urereignis zurückgeführt. Als Beispiel führt Hübner den Sonnengott Helios an, der auf seinem Viergespann die tägliche Reise über den Himmel von Osten nach Westen wiederholt und dabei wissenschaftlich der Erklärung des Wechsels von Tag und Nacht als Folge der Erdrotation entspricht.[4] Der Mythos unterscheide im Gegensatz zur Naturwissenschaft nicht den allgemeinen Begriff von dem ihn repräsentierenden Gegenstand. Für den Mythos bildeten im Gegensatz zur Naturwissenschaft das Ideelle und das Materielle eine unlösliche Einheit. Alles Ideelle nehme sogleich eine materielle Gestalt an.

In der Epiphanie erscheint ein Gott und tritt aus der Verborgenheit in die Unverborgenheit heraus. Wahrheit habe für die Griechen deshalb nicht in der Übereinstimmung eines vom Subjekt im Rahmen eines a priori gesetzten Erfahrungssystems Gedachten mit der Wirklichkeit bestanden, sondern in jener Unverborgenheit, griechisch a-letheia, in der das eigentlich Wirkliche, das Objekt als ein Gott, sich dem Subjekt von sich aus offenbare. Wann immer und wie immer sich Gott oder Göttliches in der Welt zeige und für den Menschen sinnlich erfahrbar werde, geschehe dies in der Form des Mythischen. Vernunft bestehe in dem fundamentalen Vermögen, auf der Grundlage logischen Denkens Ontologien zu bilden und sich Offenbarungen zu öffnen. Ontologien entspringen nach Hübner der Subjektivität und haben nur eine historisch-relative Bedeutung. Offenbarungen seien dagegen Botschaften der Gottheit und hätten absolute Bedeutung. Insofern sei das Vermögen der Vernunft, sich Offenbarungen zu öffnen, das Vermögen zu glauben.[5]

Glaube und Denken

Baum der Erkenntnis, Sündenfall und Vertreibung aus dem Paradies von Michelangelo, Deckenfresko in der Sixtinischen Kapelle

In seinem Alterswerk Glaube und Denken, das 2001 veröffentlicht wurde, untersucht Hübner das Denken in seinem Bezug auf die Offenbarung. Eine wichtige Rolle spielen dabei einerseits das Spannungsfeld von Metaphysik und empirischer Wissenschaft und anderseits der Mythos. Hübner geht davon aus, dass die metaphysische Denkform gescheitert sei. Aber auch der Absolutheitsanspruch des empirisch-wissenschaftlichen Denkens sei metaphysisches Erbe. Die vermeintliche Überlegenheit des wissenschaftlichen Erkennens erweise sich insoweit als Schein. Empirische Wissenschaft und Metaphysik seien nur Entwürfe von Menschen und verfolgten beide das Ziel, die Wirklichkeit in einen durchgehenden Zusammenhang zu bringen, der logisch abgeleitet werden soll aus hypothetisch gesetzten Prinzipien.

Als ontologischen Grundsatz von höchstem Allgemeinheitsgrad bezeichnet es Hübner, dass „die Wirklichkeit einen aspektischen Charakter habe“.[6] Er postuliert dabei zwei Toleranzprinzipien:

  1. In der Hinsicht, dass alle Ontologien kontingent sind und keine eine notwendige Geltung hat, ist keine irgendeiner anderen vorzuziehen.[7]
  2. Nichtontologische oder von keiner Ontologie abhängige Wirklichkeitsauffassungen mit ihren besonderen (numinosen) Erfahrungen lassen sich wegen dieser Wirklichkeitsauffassungen ontologisch nicht widerlegen, sie seien in der Außenbetrachtung begriffswissenschaftlich in eine Ontologie transformierbar oder nicht.[8]

Hübner geht davon aus, dass der Logos der Offenbarung dem Logos der Metaphysik widerspreche. Stattdessen möchte er die Offenbarung mit dem Mythos verbinden. Im mythischen Denken seien der abstrakte Allgemeinbegriff und die singuläre Tatsache nicht wie in der Wissenschaft streng voneinander geschieden, sondern vollkommen miteinander verschmolzen. Damit beruhe der Mythos auf einer ganz anderen Ontologie als die Wissenschaft.

In Glaube und Denken beschreibt Hübner die Kategorien und Strukturen des Offenbarungsglaubens von der Idee der Schöpfung über die Lehren zur Erbsünde, Erlösung und Gnade bis zur Dreifaltigkeit. Diese konfrontiert er mit den Denkstrukturen der Naturwissenschaft. Er verdeutlicht Offenbarung und Vernunft durch die beiden aus der biblischen Schilderung des Gartens Eden bekannten Bäume, nämlich den Baum des Lebens und den Baum der Erkenntnis, vgl. Gen 2,9 EU. Der Logos des Offenbarungsglaubens begreife den Mythos zugleich ein und transzendiere ihn. Im Logos der Metaphysik[9] gründe das wissenschaftliche Denken auch und gerade noch in seinen letzten antimetaphysischen Konsequenzen. Der Versuch einer Entmythologisierung des Christentums sei ebenso zum Scheitern verurteilt wie der Versuch der abendländischen Metaphysik, den christlichen Glauben wissenschaftlich zu begründen oder zu widerlegen.

Einzelnachweise

  1. Dieter Borchmeyer, Offenbarung ohne Metaphysik. Der Philosoph Kurt Hübner rechtfertigt den Glauben, in: DIE ZEIT, 46/2001
  2. Die erste Auflage erschien 1985, es wurde in zahlreiche Sprachen übersetzt.
  3. Kurt Hübner, Wissenschaftstheorie - Mythos - Offenbarung, in: Katholische Akademie in Bayern (Hrsg.), Zur Debatte, 6/2007, S. 17
  4. Kurt Hübner, Die Wahrheit des Mythos, 1985, S. 135
  5. Vgl. zum Ganzen Kurt Hübner, Wissenschaftstheorie - Mythos - Offenbarung, in: Katholische Akademie in Bayern (Hrsg.), Zur Debatte, 6/2007, S. 18 f.
  6. Kurt Hübner, Glaube und Denken – Dimensionen der Wirklichkeit, 2001, S. 6
  7. Kurt Hübner, Glaube und Denken – Dimensionen der Wirklichkeit, 2001, S. 5
  8. Kurt Hübner, Glaube und Denken – Dimensionen der Wirklichkeit, 2001, S. 7
  9. Vgl. dazu insbesondere den zweiten Teil: Der Logos der Metaphysik als Essen vom Baum der Erkenntnis, in: Kurt Hübner, Glaube und Denken – Dimensionen der Wirklichkeit, 2001, S. 341 ff.

Schriften

  • Artikel Naturphilosophie, Naturgesetze, in: Religion in Geschichte und Gegenwart, 3. Aufl.
  • Beiträge zur Philosophie der Physik. Tübingen 1963
  • Leib und Erfahrung in Kants Opus postumum, in: Gerold Prauss (Hrsg.), Kant: Zur Deutung seiner Theorie von Erkennen und Handeln. Köln 1973, S. 192-204
  • Kritik der wissenschaftlichen Vernunft. Freiburg/München 1978, 2002
  • Die Wahrheit des Mythos, München 1985
  • Artikel Mythos (philosophisch), in: Theologische Realenzyklopädie, Bd. 23
  • Die nicht endende Geschichte des Mythischen (1987), in: Texte zur modernen Mythentheorie. Reclam, Stuttgart 2003
  • Das Nationale – Verdrängtes, Unvermeidliches, Erstrebenswertes. Graz 1991
  • Die zweite Schöpfung – Das Wirkliche in Kunst und Musik. München 1994
  • Glaube und Denken – Dimensionen der Wirklichkeit. Tübingen 2001
  • Das Christentum im Wettstreit der Weltreligionen – Zur Frage der Toleranz. Tübingen 2003
  • Irrwege und Wege der Theologie in die Moderne. Augsburg 2006