Rechtswissenschaft
Die Rechtswissenschaft oder Jurisprudenz (von lat. iuris prudentia) befasst sich mit der Auslegung, der systematischen und begrifflichen Durchdringung gegenwärtiger und geschichtlicher juristischer Texte und sonstiger rechtlicher Quellen. Eine sachgerechte Deutung juristischer Texte schließt eine wissenschaftliche Beschäftigung mit der Entstehung und der Anwendung von Rechtsquellen und Normen ein. Grundlegend für diese Arbeit ist ein Verständnis der Rechtsgeschichte, Rechtsphilosophie und Rechtssoziologie.
Die klassische Definition dessen, was Rechtswissenschaft ist, gibt der römische Jurist Ulpian: Rechtswissenschaft ist die Kenntnis der menschlichen und göttlichen Dinge, die Wissenschaft vom Gerechten und Ungerechten. „Iuris prudentia est divinarum atque humanarum rerum notitia, iusti atque iniusti scientia“ (Domitius Ulpianus: Ulpian primo libro reg., Digesten 1,1,10,2) Das „göttliche“ im Sinne des kanonischen Rechts ist zwar lange nach der Aufklärung aber nun dennoch endgültig als Pflichtfach aus den rechtswissenschaftlichen Lehrplänen entfernt worden.
Die Rechtswissenschaft ist neben der Theologie, Medizin und Philosophie eine der klassischen Universitätsdisziplinen.
Neben dem weltlichen Recht und ihrer Rechtswissenschaft gibt es noch religiös begründete Rechtswissenschaften. In Deutschland findet sich noch heute der Pluralbegriff Jura (lat. „die Rechte“), die Form Jus oder Ius ist eher in Österreich und der Schweiz gebräuchlich. Das christliche Recht wird im deutschen Sprachraum oft als Kirchenrecht bezeichnet. Das Recht der katholischen Kirche ist das kanonische Recht. Mit dem Recht des Islam (Schari'a) beschäftigt sich die islamische Rechtswissenschaft (Fiqh).
Wissenschaftstheoretische Einordnung der Rechtswissenschaft
Die Rechtswissenschaft ist eine hermeneutische Disziplin. Die durch die Philosophie der Hermeneutik gewonnene Erkenntnis über die Bedingungen der Möglichkeit von Sinnverstehen wendet sie als juristische Methode auf die Exegese juristischer Texte an. Ihre Sonderstellung gegenüber den übrigen Geisteswissenschaften leitet sie, soweit sie sich mit dem geltenden Recht beschäftigt, aus der Allgemeinverbindlichkeit von Gesetzestexten ab, welche sie in Bezug auf konkrete Lebenssachverhalte in der Rechtsprechung anzuwenden hat. Unter diesem Blickwinkel lässt sich die Rechtswissenschaft auch als Erforschung von Modellen für die Vermeidung und Lösung gesellschaftlicher Konflikte verstehen.
Die hermeneutische Methode unterscheidet sie anderseits von den empirischen Wissenschaften, wie der Naturwissenschaft, der Medizin, der Wirtschafts- und Sozialwissenschaften, deren Ziel nicht das Verstehen von Texten ist, sondern die Erforschung von natürlichen oder sozialen Regelmäßigkeiten, welche durch Erfahrung und Beobachtung überprüfbar sind. Die Rechtswissenschaft beschäftigt sich wie die anderen Textwissenschaften (Philologie, Theologie) nicht mit objektiven Erkenntnissen über sinnlich erfahrbaren Erscheinungen.[1]. Dies bleibt Nebenzweigen der Rechtswissenschaft vorbehalten, wie etwa der Rechtsphilosophie, der Rechtssoziologie und der Kriminologie.
Disziplinen
Die Teilgebiete der Rechtswissenschaft lassen sich zusammenfassen zu den exegetischen Fächern und den nicht-exegetischen Fächern (historische, philosophische oder empirische Fächer). Bei den exegetischen Fächern steht die Rechtsdogmatik ganz im Vordergrund. Bei den exegetischen nicht-dogmatischen Fächern werden insbesondere die Digestenexegese und die Exegese deutschrechtlicher Quellen betrieben. Selten werden z. B. keilschriftrechtliche Quellen (Codex Hammurabi) ausgelegt.
Die nichtexegetischen juristischen Grundlagenfächer sind oft zugleich Disziplinen von Nachbarwissenschaften, so etwa die Rechtsphilosophie, die Rechtsgeschichte und die Rechtssoziologie.
In neuerer Zeit beschäftigt sich die Rechtswissenschaft viel mit der rechtlichen Methodik und der Lehre von der Gesetzesauslegung. Weil für die juristische Exegese eine Juristische Methodenlehre von Bedeutung ist, wird diese oftmals gesondert gelehrt.
Dabei hat insbesondere die Rechtsphilosophie in der Rechtswissenschaft und im Rechtsstudium, im Vergleich zu Hochmittelalter und Renaissance, erheblich an Stellenwert verloren. Die Kriminologie, welche sich unter anderem mit empirischer Forschung beschäftigt, hat an den Hochschulen ebenfalls einen eher geringen Stellenwert.
Ein Überblick über die wichtigsten Rechtsgebiete ist im Artikel Recht enthalten.
Geschichte und Funktion der Rechtswissenschaft
Während sich die Rechtsgeschichte mit der historischen Entwicklung des Rechts selbst beschäftigt, lässt sich auch untersuchen, wie sich die Wissenschaft vom Recht im Verlauf der Geschichte entwickelt hat.
Die Frage, was Recht ist, wurde über die Jahrhunderte immer wieder unterschiedlich beantwortet. Anfangs wurde Recht gleichgesetzt mit den herrschenden Moralvorstellungen (vgl. auch Naturrecht). Später dominierte die Vorstellung, als Recht könne nur eine Regel verstanden werden, die von einer Körperschaft oder Person (i. d. R. dem „Herrscher“) erlassen wurde, die auch die Autorität zu ihrem Erlass und zur Durchsetzung hatte (Rechtspositivismus). Die historische Rechtsschule betonte demgegenüber zu Anfang des 19. Jahrhunderts wieder die gesellschaftliche und geschichtliche Verankerung des Rechts. Aus diesen und anderen Vorstellungen haben sich die heute üblichen Rechtssysteme entwickelt.
Hier sind wiederum vor allem zwei Arten von Rechtssystemen zu unterscheiden, nämlich die des kodifizierten, abstrakt definierten Rechts, und die des Fallrechts (Common Law).
Das kodifizierte Recht hat sich im wesentlichen aus dem römischen Recht entwickelt. So war es Kaiser Justinian, der als erster das römische Recht im Corpus Iuris Civilis zusammenstellte und damit zugleich im gesamten römischen Reich vereinheitlichte. Auch wenn im kodifizierten Recht frühere Entscheidungen berücksichtigt werden, hat letztlich immer das Gesetzbuch und der Gesetzestext – gegebenenfalls auch Gewohnheitsrecht – die höchste Autorität. Der wichtige Bereich des Zivilrechts wurde von Napoleon überarbeitet und im Code Civil neu kodifiziert. Dieser ist seitdem im französischsprachigen Raum, den ehemaligen französischen Kolonien und weiteren Ländern verbreitet. Daneben steht die deutsche Rechtstradition, die auf dem Boden des gemeinen Rechts in der Kodifikation des Bürgerlichen Gesetzbuchs Ausdruck gefunden und ebenfalls über Deutschland hinaus ausgestrahlt hat.
Im Gegensatz dazu steht die Entwicklung der englischen Rechtstradition des Common Law. Das Recht ist hier im Grundsatz nicht kodifiziert, sondern wird von der Rechtsprechung auf Grund von Präjudizien weiterentwickelt. Dieses Rechtssystem wurde auch in den USA und anderen ehemaligen britischen Kolonien übernommen und weiterentwickelt. So gibt es in den USA eine Schule des legal realism, nach der allein das Recht ist, was die Gerichte als Recht anwenden und vollstrecken werden. Eine andere Besonderheit des US-amerikanischen Rechts ist die große Bedeutung der Schwurgerichte (vgl. Jury).
Stattdessen hat die Rechtswissenschaft beispielsweise in Deutschland eine eigenständige Funktion im Verhältnis zu Rechtsprechung. Die rechtswissenschaftliche Literatur ist ein (wirksamer und anerkannter) „Rechtsbildungsfaktor“ (zumindest im Arbeitsrecht)[2]. Dies kann auch aus den Worten des Bundesverfassungsgerichtes „Die Gerichte müssen bei unzureichenden gesetzlichen Vorgaben das materielle Recht mit den anerkannten Methoden der Rechtsfindung aus den allgemeinen Rechtsgrundlagen ableiten, die für das betreffende Rechtsverhältnis maßgeblich sind.“[3] geschlossen werden.[2]
Studium
Zentraler Bestandteil der juristischen Ausbildung ist in praktisch allen Rechtskreisen das Studium der Rechtswissenschaft an einer Hochschule.
In Österreich und der Schweiz wird das rechtswissenschaftliche Studium „Jus“ genannt, da das kanonische Recht keinen verpflichtenden Inhalt des Studiums mehr darstellt.
Der Begriff „Rechtswissenschaft“ bezeichnet die Wissenschaft eines Rechts (weltlich oder kirchlich). Rechtswissenschaften bedeutet hingegen, die Wissenschaft oder das Studium beider Rechte; des kanonischen und weltlichen Rechts. Der in Deutschland umgangssprachlich gebrauchte Begriff „Jura“ für das Studium „Rechtswissenschaft“ ist irreführend. Jura kommt von lat. iura, dem Plural von ius. Also auch hier wieder die Unterscheidung zwischen einem oder beider Rechte. Somit müsste „Rechtswissenschaft“ in Deutschland - wie in Österreich und der Schweiz richtigerweise als „Jus“ bezeichnet werden und die Rechtswissenschaften inklusive des kanonischen Rechts als Jura, wobei auch diese Theorie nicht der Realität entspricht, da „Rechtswissenschaften“ als Synonym für die breitgefächerten Materien - und unabhängig vom kanonischen Recht - verwendet wird.
Juristenausbildung in Deutschland
In Deutschland gibt es derzeit 32 Juristische Fakultäten[4] sowie sechs juristische Fachhochschulen.[5]
Bezeichnung
Das Studium der Rechtswissenschaft wird in Deutschland umgangssprachlich als Jura-Studium bezeichnet. Der Begriff Jura wurde in diesem Zusammenhang das erste Mal an der Universität von Bologna verwendet. Er leitet sich vom lateinischen ius („das Recht“) ab. iura (Plural) sind „die Rechte“, sowohl das weltliche als auch das Kirchenrecht (kanonisches Recht), welche damals noch gleichberechtigt nebeneinander standen. Manche Universitäten promovieren daher auf Wunsch auch heute noch zum Doctor iuris utriusque (lat. „Doktor beider Rechte“).
Wer ein Studium der Rechtswissenschaft absolviert hat, wird als Jurist bezeichnet. Viele Universitäten haben nach den Bestehen des ersten Staatsexamens ein Diplomierungsverfahren auf Antrag eingerichtet. Mit dem ersten Staatsexamen kann dort der akademische Grad des Diplom-Juristen (Dipl.-Jur.) erworben werden. Wer in Deutschland die Zweite Juristische Staatsprüfung erfolgreich abgelegt hat, ist berechtigt, die Bezeichnung Assessor (Rechtsassessor) zu führen und wird umgangssprachlich als „Volljurist“ bezeichnet. Seit einigen Jahren bieten auch verschiedene Fachhochschulen medienrechtliche und wirtschaftsrechtliche Studiengänge an, die mit dem akademischen Grad des Diplom-Informationsjuristen kurz ebenfalls Dipl. jur. bzw. Diplom-Wirtschaftsjuristen abschließen. Der Studiengang Informationsrecht kann an der Hochschule Darmstadt belegt werden. Hier wurde dieser 2001 erstmals in Deutschland etabliert. Überdies kann Jura an zahlreichen Universitäten im Nebenfach eines Bachelor-, und Master- sowie Magisterstudiengangs als „Teilgebiete des Rechts“ gewählt werden. In der Regel schließt das Nebenfachstudium mit einer Klausur und/oder einer halbstündigen, mündlichen Prüfung ab.
Inhalt
Schwerpunkt der Juristenausbildung ist die juristische Dogmatik. Am Anfang steht das Grundstudium, das Vorlesungen über die Exegese des Bürgerlichen Gesetzbuchs, des Handelsgesetzbuchs, der Zivilprozessordnung, des Strafgesetzbuchs, der Strafprozessordnung, des Grundgesetzes, des Verwaltungsverfahrensgesetzes und der Verwaltungsgerichtsordnung beinhaltet. Dazu kommen noch Grundlagenfächer, die das allgemeine Verständnis fördern (z. B. Digestenexegese, Rechtsgeschichte, Rechtsphilosophie, sowie Rechtssoziologie). Eindeutiger Schwerpunkt liegt auf der BGB-Exegese, dem StGB und dem VwVfG mit der VwGO. Diese Vorlesungen sind oftmals mit einzelnen Abschlussklausuren und umfangreichen schriftlichen Rechtsgutachten, die zu Hause angefertigt werden (Hausarbeiten) zu beenden. Hieran schließt sich eine zweite Phase an, gekennzeichnet von den sogenannten (großen) „Übungen“, die ebenso von Klausuren und umfassenden Hausarbeitsgutachten auf fortgeschrittenem Niveau begleitet werden. Im Anschluss hieran verbringt jeder Student üblicherweise noch etwa ein Jahr mit Examensvorbereitungen, meist begleitet von dem Besuch eines Repetitoriums. In vielen Studienordnungen ist mittlerweile auch die Wahl eines Schwerpunktbereichs vorgesehen, welcher vertiefte Kenntnisse in einem besonderen Rechtsgebiet vermitteln soll. Auch der Erwerb von fachspezischen Fremdsprachenkenntnissen ist in manchen Bundesländern vorgesehen.
Ablauf
Beinahe jede deutsche geisteswissenschaftliche Universität bietet einen juristischen Studiengang an. Die Studienordnungen unterscheiden sich von Bundesland zu Bundesland, ebenso die Regelstudienzeit, die gewöhnlich viereinhalb bis fünf Jahre beträgt. Im darauffolgenden zweijährigen Referendariat erwirbt der angehende Jurist die zur Ausübung seines Berufes notwendige praktische Erfahrung.
Das Studium der Rechtswissenschaften wird heute mit einer „Ersten juristischen Prüfung“ abgeschlossen, die neben einem staatlichen Teil (Pflichtfachprüfung, 70 % der Gesamtnote) einen universitären Teil (30 %, Schwerpunktbereichsprüfung) enthält und deshalb richtigerweise kein „Staatsexamen“ mehr ist. Echtes Staatsexamen bleibt hier das nach Abschluss der Referendarzeit erfolgende „Zweite Staatsexamen“. An einigen Universitäten wird nach dem ersten juristischen Examen zusätzlich der akademische Grad „Diplom-Jurist“ verliehen (Dipl.-Jur.). Es ist auch möglich, nach einem dreijährigem Studium den Baccalaureus Juris (bac. jur.) und nach einem weiteren Jahr den Magister Juris (Mag. jur.), meist aber LL.M. genannt, zu erwerben. Der Weg zu den klassischen juristischen Berufen wie Rechtsanwalt oder Richter wird dadurch jedoch nicht eröffnet. Der Masterabschluss an einer Fachhochschule gilt als Laufbahnbefähigung für den höheren Dienst, wenn dies vorher in der Akkreditierungsurkunde für den jeweiligen Masterstudiengang von der zuständigen obersten Kultusbehörde im Benehmen mit der jeweiligen obersten Innenbehörde und gegebenenfalls erforderlichen Dienstbehörde festgestellt wurde.[6]
Eine Befähigung zum Richteramt (die gleichermaßen Voraussetzung zur Zulassung als Rechtsanwalt ist) wird erst nach dem Erwerb des zweiten Staatsexamens (Großes Staatsexamen, Assessorexamen) erworben. Dem zweiten Staatsexamen geht ein zweijähriger Vorbereitungsdienst (Referendariat) voraus. Das Referendariat wird von einer weiteren theoretischen Vorbereitungsphase auf die Prüfungen begleitet. Es soll an die praktische Tätigkeit heranführen. So müssen Kurse besucht werden, die von Richtern, Staatsanwälten, Verwaltungsbeamten und Rechtsanwälten geleitet werden. Gleichzeitig werden sogenannte Stationen absolviert, in denen der Referendar einem Richter, Staatsanwalt, Rechtsanwalt, Verwaltungsbeamten oder ähnlichem zur praktischen Ausbildung zugeordnet wird und so Einblick in dessen Berufsalltag gewinnt. Der Status eines Rechtsreferendars ist ein öffentlich-rechtliches Ausbildungsverhältnis. Letztlich ist der Referendar Beamter des jeweiligen Bundeslandes und erhält eine sogenannte Unterhaltsbeihilfe in Höhe von durchschnittlich ca. 800 Euro netto. Die genaue Höhe variiert aber je nach Bundesland.
Durch das Bestehen des zweiten Staatsexamens wird gleichzeitig die Befähigung für den höheren Dienst in der allgemeinen und inneren Verwaltung erworben (Eingangsamt: Regierungsrat). Auch die Tätigkeit eines Staatsanwalts setzt die Befähigung zum Richteramt voraus (eine Ausnahme stellt der dem gehobenen Dienst angehörende Amtsanwalt beim Amtsgericht dar). Charakteristisch für das deutsche Berechtigungswesen ist, dass auch für bestimmte Berufe außerhalb des öffentlichen Dienstes die Befähigung zum Richteramt erworben werden muss. Das gilt für den Beruf des Rechtsanwalts (einschließlich des Syndicus-Anwalts) und des Notars. Für die Tätigkeit eines Justiziars ist hingegen eine besondere Berechtigung nicht erforderlich.
Die Ausbildung zum sog. Volljuristen dauert mit Studium und Referendariat inklusive Zwischenphasen (Wartezeiten auf Examensergebnisse, Wartezeiten auf Beginn des Referendardienstes) mindestens 8 Jahre. Die Berufsaussichten sind derzeit sehr uneinheitlich. Die Examensnoten spielen dabei eine überragende Rolle. Während die besten 10–15 % gute bis sehr gute Berufsaussichten haben, ist der Arbeitsmarkt für Absolventen mit ausreichenden Examina (zirka 60–75 %) recht schwierig. Jura-Absolventen konkurrieren dann häufig, etwa im Journalismus, in der PR oder im Projektmanagement, mit Akademikern aus anderen Studienrichtungen.
Die Durchfallquote im ersten juristischen Staatsexamen beträgt bundesweit zirka 30 %, im zweiten Staatsexamen scheitern etwa zehn Prozent der Kandidaten beim ersten Anlauf.
Juristenausbildung in Österreich
In Österreich schließt man das Diplomstudium der Rechtswissenschaften, das eine Regeldauer von 8 bzw eine Durchschnittsdauer von mehr als 12 Semestern hat, mit dem akademischen Grad Mag. iur. ab, der auch im Sprachgebrauch geführt und verwendet wird. Dieses Studium wird an den rechtswissenschaftlichen Fakultäten der Universitäten Graz, Innsbruck, Linz, Salzburg und Wien angeboten. Seit dem Wintersemester 2006/2007 bietet jedoch auch die Wirtschaftsuniversität Wien ein Studium des Wirtschaftsrechts an, das gemäß dem Bologna-Prozess nach sechs Semestern mit „Bachelor of Laws (WU)“, Kurzform: „LL.B. (WU)“,[7] oder auch nach weiteren vier Semestern (Masterstudium) mit dem Titel „Master of Laws“, abgekürzt „LL.M. (WU)“,[8] abgeschlossen werden kann. Die Kombination aus „LL.B. (WU)“ und „LL.M. (WU)“ berechtigen ebenso zur Ergreifung eines traditionellen juristischen Berufs.[9]
Im Zuge dieses neuen Studienplans ist auch die österreichische Ausbildung zum Rechtsanwalt in Diskussion geraten bzw. der Zugang zu dieser. Nach dem Abschluss eines Diplomstudiums umfasst diese Ausbildung derzeit weitere 5 Jahre (60 Monate), die jedenfalls 9 Monate Praxis bei Gericht und 36 Monate praktische Verwendung bei einem Rechtsanwalt im Inland zu umfassen haben; die restlichen 15 Monate können beispielsweise durch Assistententätigkeit, Doktoratsstudium (maximal 6 Monate) oder Tätigkeit bei einer Behörde oder EU-Institution substituiert werden, wobei die Gesamtdauer von 60 Monaten nicht unterschritten werden kann. Nach einem Großteil dieser Zeit sollte man die Rechtsanwaltsprüfung an einem der vier Oberlandesgerichte ablegen, um nach Ablauf in die Liste der Rechtsanwälte bei der Rechtsanwaltskammer[10] eingetragen werden zu können.
Juristenausbildung in der Schweiz
Die Schweiz besitzt neun juristische Fakultäten.[11] In der Schweiz wurde bis zum Jahr 2003 das Studium mit dem Lizentiat, sog. lic.iur., abgeschlossen. Durch die Bologna-Reform wurde die Titelvergabe dem internationalen Studium angepasst.
Kritik an der derzeitigen Juristenausbildung
Seit geraumer Zeit wird in Deutschland Kritik an der universitären Ausbildung im Bereich der Rechtswissenschaft insbesondere dahingehend geübt, dass diese die Studierenden nicht in zureichender Weise auf das juristische Staatsexamen vorbereite. Dies zeige sich vor allem in der Existenz privatwirtschaftlicher Repetitorien, bei denen die meisten Studenten Kurse zur Vorbereitung auf das Staatsexamen buchen. Worin die Gründe hierfür zu suchen sind, ist umstritten. Vorwürfen, die entsprechenden universitären Lehrveranstaltungen zur Examensvorbereitung entbehrten zureichender pädagogischer Qualität, wird von Seiten der rechtswissenschaftlichen Fakultäten mit dem Argument entgegengetreten, die Repetitorien würden die Examensangst der Studierenden ausnutzen und Einzelwissen „pauken“, wo Grundlagenwissen eine bessere Vorbereitung auf das Examen darstelle.[12] Die Universität biete die insoweit zur Examensvorbereitungen notwendigen Veranstaltungen selbst an. Nach wie vor besuchen jedoch trotzdem ca. 70 % der deutschen Jurastudierenden neben dem Studium ein oder mehrere Repetitorien.
Weiterhin bemängeln Kritiker, dass die Kenntnisse in Ökonomie und insbesondere Volkswirtschaftslehre bei Juristen im Studium kaum vermittelt werden. Allerdings sind gerade gesetzgeberische Entscheidungen keineswegs dem Juristen vorbehalten, sondern werden in der Demokratie von den Parlamenten vorgenommen. An einigen Fachhochschulen und Universitäten ist als Reaktion auf diesen Mangel in einem ersten Schritt der Studiengang des Wirtschaftsjuristen entstanden, der allerdings nur für eine Tätigkeit in einem Unternehmen befähigt.
Kritisiert wird auch, dass die Rechtsdogmatik im Studium einen zu breiten Raum einnehme. Die Exegese anderer Quellen, wie die Digestenexegese, träten zu weit in den Hintergrund. Das gleiche gelte für die Grundlagenfächer wie die Rechtsphilosophie, die Rechtsgeschichte oder die Rechtssoziologie im Jurastudium nur am Rande behandelt werden, was ein kritisches, die Gesetze reflektierendes Studium erschwere, werfen sie doch Fragen auf, ohne die eine wissenschaftlich-korrekte Auslegung und Einordnung von Rechtsnormen schwer möglich ist. Im Gegensatz zu gerichtlicher Rechtsanwendung muss Rechtswissenschaft gerade eine Reflexion über den Gesetzestext hinaus leisten, nur so können der Entstehungsprozess, die gesellschaftliche Funktion (wie die Sozialkontrolle bei Strafrechtsnormen) und historische Bezüge erfasst und dargelegt werden.[13] Dem lässt sich jedoch entgegenhalten, dass die Rechtswissenschaft im Schwerpunkt die Wissenschaft vom geltenden Recht ist. Als solche hat sie aber nur dann Legitimation und Überzeugungskraft, wenn sie dem Gesetz – und dem darin ausgedrückten demokratisch gebildeten Willen – verpflichtet ist und möglichst keine eigene Wertung, auch nicht Ergebnisse gesetzesferner Reflexion, hinzufügt. Die damit angesprochene zentrale Bedeutung der Dogmatik des Rechts schließt es keineswegs aus, auch die geschichtliche Entwicklung der Rechtsnormen in Betracht zu ziehen, wie das Beispiel v. Savignys zeigt.
Auch hinsichtlich des berufpraktischen Teils, welcher im Rahmen des Referendariats vermittelt werden soll, besteht zahlreiche Kritik. In Anbetracht dessen, dass die meisten ausgelernten Juristen später Anwälte werden, ist es schwer verständlich weshalb ein Durchlaufen einer Gerichtsstation und einer Behördenstation grundsätzlich für jeden Referendar erforderlich ist und nicht eine Verfestigung der anwaltlichen Tätigkeiten stattdessen über einen längeren Zeitraum trainiert werden kann. Insofern ist eine breite Ausbildung gegeben, welche letztlich aber nur einen kleinen Einblick in die nach dem Examen folgende Arbeit geben kann und einer tatsächlichen Berufsvorbereitung, wie dies etwa bei einer frühzeitigen Spezialisierung gegeben wäre, wohl so nicht gerecht werden kann.
Grenzen und Defizite der Rechtswissenschaft
Versteht man die Rechtswissenschaft als Wissenschaft vom geltenden Recht, so konzentriert sie sich dabei im wesentlichen auf die Interpretation von Gesetzen und der aus den Gesetzen abgeleiteten Rechtsprechung und will daraus eine Erkenntnis über das geltende Recht gewinnen. Dies findet seine Grenzen zum einen in der Menge der Rechtsnormen und zum anderen in der fehlenden Kenntnis der tatsächlichen Wirkungen der Rechtsnormen.
In einem modernen, hochkomplexen Staat gibt es jedoch eine nicht mehr überschaubare Menge von Rechtsnormen (vgl. auch Staatsrecht, Völkerrecht). Es gibt in Deutschland mehr als 5000 Gesetze und Verordnungen des Bundes, zu denen die Gesetze und Verordnungen der 16 Bundesländer und die Verordnungen und Satzungen der Bezirke, Kreise, Verwaltungsgemeinschaften und Gemeinden hinzukommen, ganz zu schweigen von dem nicht zu quantifizierenden Volumen an Verwaltungsrichtlinien (wie z. B. die TA Luft, die TA Lärm) und den von Ausschüssen und Verbänden geschaffenen Normen, die faktisch ebenfalls Gesetzeskraft haben (wie z. B. die VOB, die DIN-Normen, die zahlreichen Richtlinien und Empfehlungen der Bundesanstalt für Straßenwesen (BASt) und der Forschungsgesellschaft für Straßen- und Verkehrswesen (FGSV) für den Straßenbau, die LAGA usw.). Zudem regeln viele dieser Normen sehr spezifische und hochtechnische Sachverhalte und sind nur noch von Spezialisten, aber nicht mehr von durchschnittlichen Juristen oder gar von Laien zu verstehen. Obendrein wenden sich zahlreiche dieser Normen an den fachtechnischen Spezialisten, dem die Gedankengänge eines Juristen fremd sind, was zu erheblichen Verständigungsproblemen zwischen dem Spezialisten und dem Rechtswissenschaftler führen kann. Diese Normen sind häufig keineswegs eindeutig, widerspruchsfrei oder lückenlos, was nicht selten aber nicht bei der reinen Lektüre, sondern erst in der praktischen Anwendung erkennbar wird. Zudem gibt es Normen, die scheinbar eine sinnvolle Regelung enthalten, in der Praxis aber ihr Ziel weitgehend verfehlen und dafür erhebliche negative Auswirkungen entfalten (z. B. das Vergaberecht, das die Korruption kaum verhindert, aber die Vergabe erheblich teurer und langwieriger gemacht hat).
Die Rechtswissenschaft vermag die Auswirkungen der Rechtsnormen in der Realität nur durch die Sicht der staatlichen Rechtsprechung zu erkennen, da sie so gut wie keinerlei rechtstatsächliche Forschungen betreibt. Aber nur ein vergleichsweise winziger Teil der alltäglichen Rechtsanwendung führt zu Auseinandersetzungen vor Gericht. Über einen großen Teil des rechtlich relevanten menschlichen Verhaltens wird nicht gestritten, auch wenn das Verhalten nicht mit der juristischen Theorie übereinstimmt. Ein anderer beträchtlicher Teil wird aufgrund der wirtschaftlichen oder sozialen Machtverhältnisse außergerichtlich geregelt. Schließlich gibt es große Bereiche der Wirtschaft, in denen Streitigkeiten bewusst von staatlichen Gerichten ferngehalten und allenfalls von Schiedsgerichten entschieden werden, die weder ihre Verfahren noch ihre Entscheidungen publik machen. Das Studium der Rechtsprechung vermittelt somit nur einen winzigen Ausschnitt aus der Wirklichkeit der Rechtsanwendung. Obendrein gibt es Urteile, die logisch und richtig und sinnvoll erscheinen, in der Praxis aber keineswegs das beabsichtigte Ziel erreichen, sondern im Gegenteil negatives und eigentlich nicht schutzwürdiges Verhalten legalisieren (z. B. die Stärkung des Auskunftsrechts des Aktionärs, die kaum einem einzelnen Aktionär geholfen hat, dafür aber die Versuche bestimmter Juristen ermöglicht, die Beschlussfassung auf der Hauptversammlung mit endlosen, oft unerheblichen Fragen zu torpedieren).
Versteht man unter dem geltenden Recht nicht nur die Summe der Normen, die das menschliche Verhalten in einem bestimmten Gebiet zu regeln beabsichtigen, sondern auch ihre Rechtsfolgen, also die tatsächlichen Auswirkungen dieser Normen bzw. die Art und Weise, wie diese Normen von den Betroffenen verstanden und angewendet werden, muss man zu dem Ergebnis kommen, dass die Rechtswissenschaft nur die Oberfläche des geltenden Rechts zu erkennen vermag und gelegentlich auch falsche Schlüsse daraus zieht.
Siehe auch
Literatur
- Barbara Lange: Jurastudium erfolgreich. Planung, Lernstrategien, Zeitmanagement 5. Auflage, Carl Heymanns Verlag, Köln 2006.
- Fritjof Haft: Einführung in das juristische Lernen: Unternehmen Jurastudium 6. Auflage, Gieseking-Verlag, Bielefeld 1997.
- Hermann Stephan: Rechtsstaat ohne Menschlichkeit? – Der Zufallsfaktor Angst bei den juristischen Examina, In: Gilbert H. Gornig/Urs Kramer/Uwe Volkmann (Hrsg.): Staat – Wirtschaft – Gemeinde. Festschrift für Werner Frotscher zum 70. Geburtstag Duncker & Humblot, Berlin 2007.
- Benedikt Vallendar: Vom Nebengleis auf die Überholspur. Über Jura als Nebenfach. In: Justament 4/2007, S. 15 (online).
Einzelnachweise
- ↑ Vgl. den Vortrag „Die Wertlosigkeit der Jurisprudenz als Wissenschaft“, 1848
- ↑ a b Reinhard Richardi (Bearbeiter): Münchener Handbuch zum Arbeitsrecht. Hrsg.: Reinhard Richardi, Hellmut Wißmann, Otfried Wlotzke, Hartmut Oetker. 3. Auflage. Band 1. C.H. Beck, München 2009, ISBN 978 3 406 55553 4(?!), § 6 Staatliche Rechtsetzung und Rechtswissenschaft Rn. 35.
- ↑ Bundesverfassungsgericht, Beschluss vom 26. Juni 1991, Az.: 1 BvR 779/85 = BVerfGE 84, 212, 226 f. = NJW 1991, S. 2549 (2550) - Zulässigkeit und Grenzen der Aussperrung; auch a. a. O.: „Zudem war der Beschluß des Großen Senats auf so erhebliche Kritik gestoßen, daß der unveränderte Fortbestand dieser Rechtsprechung nicht gesichert erscheinen konnte.“
- ↑ Wikiversity: Liste der juristischen Fakultäten in Deutschland – Kursmaterialien
- ↑ Wikiversity: Liste juristischer Fachhochschulen in Deutschland – Kursmaterialien
- ↑ Vereinbarung zur Akkreditierung
- ↑ Bachelor-Studium Wirtschaftsrecht auf der Wirtschaftsuniversität Wien
- ↑ Master-Studium Wirtschaftsrecht auf der Wirtschaftsuniversität Wien
- ↑ [1]
- ↑ Rechtsanwaltskammer
- ↑ Wikiversity: Liste der juristischen Fakultäten in der Schweiz – Kursmaterialien
- ↑ VGH Mannheim, Urteil vom 20. November 1990 - 9 S 170/90, Neue Juristische Wochenschrift (NJW), Verlag C. H. Beck, München, 1991, S. 3109-3112 (3110); Bernhard Großfeld: Das Elend des Jurastudiums, Juristenzeitung (JZ), Mohr Siebeck, Tübingen, 1986, S. 357-360 (358)
- ↑ Bernd J. Hartmann: Jurassic Park: Keine Zeit zum Nach-Denken. Juristische Ausbildung aus der Sicht eines Studenten, Juristische Ausbildung (Jura), Walter de Gruyter, Berlin, 1998, S. 54-56 (54), online beim Centrum für Hochschulentwicklung; Reinhard Mußgnug, Würzburger Thesen des Juristen-Fakultätentags zur Juristenausbildung, Juristische Schulung (JuS), C.H. Beck, München, 1995, S. 749-753 (751)
Weblinks
- Wikibooks: Regal:Rechtswissenschaft – Lern- und Lehrmaterialien
- Wiktionary: Rechtswissenschaft – Bedeutungserklärungen, Wortherkunft, Synonyme, Übersetzungen
- Wikisource: Jura – Quellen und Volltexte
- vifa-recht.de
- Linkkatalog zum Thema Rechtswissenschaft bei curlie.org (ehemals DMOZ)