Ökosystem
Ökosystem (griechisch οἶχος = oikós: "Haus"; und σύστημα sýstema: „das Zusammengestellte, Verbundene“) ist ein Fachbegriff der ökologischen Wissenschaften, mit dem die räumliche und/oder funktionale Wechselwirkung von Lebewesen und Lebensraum untereinander und miteinander gefasst werden soll[1]. Je nach angewandtem erkenntnistheoretischen Ansatz unterscheiden sich dabei die Ansichten über "Wesen" und abgemessene Beschreibung eines Ökosystems.
Spricht man von dem Ökosystem, bezeichnet es alle auf der Erde vorfindbaren Ökosysteme, d.h. die gesamte Biosphäre. Im allgemeinen Sprachgebauch wird 'Ökosystem' oft als Synonym für einen (ökologisch 'wertvollen') Ausschnitt der Erdoberfläche gebraucht [2].
Begriff
Der Begriff "ökologisches System" wurde 1928 von dem Münchner Biologen und Limnologen Richard Woltereck eingeführt. [3] 1935 verkürzte der britischen Biologe und Geobotaniker Arthur George Tansley den Begriff zu "ecosystem" (Ökosystem). Er beschrieb damit ein teilweise Beobachter-konstruiertes, gedankliches Isolat (mental isolate).
Beschreibung
Systemeigenschaften Zur Beschreibung der Eigenschaften von Ökosystemen werden oft folgende Begriffe eingesetzt:
- offen
- Ökosysteme sind offene Systeme, die hochwertige Energie und Materie aufnehmen sowie Entropie und umgewandelte Materie abgeben;
- dynamisch
- Ökosysteme befinden sich meist nicht in einem Gleichgewicht, sondern es finden auf verschiedenen räumlichen und zeitlichen Skalen Sukzessionsvorgänge statt. Daneben gibt es langfristige Selbstorganisations- und Anpassungsprozese, die ein Ökosystem fortwährend verändern können;
- komplex
- Ökosysteme haben unterschiedlichste Elemente und Strukturen; diese sind durch ein Netzwerk ökologischer Wirkungs- und Wechselwirkungsbeziehungen miteinander verbunden.
In einem Ökosystem laufen unterschiedliche Interaktionen zwischen den Lebewesen untereinander und den abiotischen Standortfaktoren im Geotop ab. Biotische und abiotische Bestandteile beeinflussen sich gegenseitig (Wechselwirkungen) und verändern sich durch Sukzession und Evolution.
Grenzziehung
Eine allgemeingültige Definition für die Systemgrenzen von Ökosysteme gibt es nicht, sie orientieren sich meist an einem charakteristischen Übergangsbereich wie Waldrändern, Seeufern und Meeresküsten. Welche Kontraste die Grenzziehung entscheiden, hängt von der Fragestellung und der Bewertung der Faktoren ab, etwa der Gewichtung der Biozönose gegenüber dem 'nackten' Biotop. Bei der Einordnung in einzelne Ökosysteme besteht gegenüber recht unscharfen Zusammenfassungen wie Wald und Tiefsee oft ein an optisch dominanten (meist pflanzlichen) Lebewesen ausgerichtete Einteilung, z.B. Mangroven- und boreale Nadelwälder. Häufig werden die Ökosysteme auch an rein anorganischen, vor allem klimatischen und karthografischen Merkmalen festgemacht, beispielsweise Wüsten, Regenmoore, die Antarktis, das Ökosystem Stymfalia, die Pampa und Flaschengärten.
Funktionsprinzipien von Ökosystemen

Die Lebewesen der Biozönose beeinflussen den Stoffkreislauf und werden beeinflusst durch die abiotischen Faktoren (Standortfaktoren). Die Organismen können grob unterteilt werden nach ihrer trophischen Funktion im System als
- Primärproduzenten, die organische Stoffe aus anorganischen Stoffen und Energie (Sonnenlicht, chemische Energie) aufbauen, dies sind in erster Linie Pflanzen und autotrophe Bakterien,
- Konsumenten, die sich von den Produzenten, anderen Konsumenten oder von Destruenten ernähren. Es handelt sich insbesondere um Tiere einschließlich des Menschen. Konsumenten geben dabei Kohlenstoffdioxid und mehr oder weniger nahrhafte und energiereiche organische Substanz ab (Urin, Kot, Körperabrieb, Haare und Leichen).
- Destruenten, welche die (meist abgestorbenen) Produzenten und Konsumenten sowie deren Ausscheidungen abbauen und zuletzt mineralisieren, also wieder in abiotische Stoffe zurückführen. Dies sind insbesondere Bakterien und Pilze, aber auch Bodenwürmer (z. B. Nematoden und Oligochaeten) und Protozoen.
Durch das Ökosystem ist ein Fluss von Substanzen (z. B. Wasser), ja auch von einzelnen Elementen (C, N, P, etc.) verfolgbar und - mit großem Aufwand - bezifferbar und in Form von Stoffflussdiagrammen darstellbar. Gleiches gilt für den Energiefluss. Ein erheblicher Teil der Substanz in einem Ökosystem bewegt sich in Kreisläufen. Allerdings hängt dies von der Art des Ökosystems ab. So ist der Kreislaufanteil in einem Wald hoch, insbesondere für die Elemente, die nicht am Austausch mit der Atmosphäre teilnehmen (wie O, H, C und z. T. N). Dagegen ist das Ökosystem eines Flusses entscheidend geprägt vom ständigen Substanzdurchsatz.
Ökosysteme beeinflussen sich gegenseitig durch Substanz- und Energiefluss über ihre Grenzen hinweg. Es wird versucht, die Grenzen eines Ökosystems dort festzulegen, wo der wechselseitige Übergang an Einflüssen ein Minimum zeigt. Welche Einflüsse jedoch im Rahmen einer solchen Abgrenzung für wie wichtig gehalten werden, unterliegt v.a. dem Erkenntnisinteresse des Beobachters. Relativ gut begrenzbar sind z. B. Seen. Dennoch ist der Einfluss des gesamten Einzugsgebietes zu berücksichtigen. Da sich in diesem Gebiet andere benennbare Ökosysteme befinden (Wälder, Weiden, Siedlungen, Fließgewässer), kann sich die theoretische „Grenze“ des Ökosystems „See“ mit diesen anderen Ökosystemen überschneiden. Denkbar ist auch hier eine Zusammenfassung aller einzelnen Bestandteile des Einzugsgebiets zu einem Ökosystem. Ein solches Vorgehen kann beispielsweise sinnvoll sein, wenn Nährstoff-Flüsse untersucht werden sollen.
Letztlich beeinflussen alle Ökosysteme der Biosphäre einander, oft durch abiotische Faktoren wie den globalen Luft- und Wasserkreislauf. Z. B. beeinflussen marine Ökosysteme durch ihren Stoff- und Energiehaushalt die Atmosphäre und damit auch terrestrische Ökosysteme. Ein Beispiel globaler Wechselbeziehungen ist die Zunahme des Treibhauseffekts und der dadurch verursachte Klimawandel. Es ist jedoch schwierig, aus dieser Erkenntnis praktischen Nutzen zu ziehen, da meist die relative Stärke der Wechselwirkungen bekannt sein muss.
Entwicklung von Ökosystemen
In einer stark vereinfachten Sichtweise kann die Entwicklung vieler Ökosysteme nach folgendem Muster beschrieben werden:
- Der Ausgangspunkt einer Primärsukzession sind sehr einfache, vergleichsweise unbelebte Systeme. Beispiele sind frisch aufgewehte Dünen, von einem Gletscher hinterlassener Mergel in einer Moräne oder ein gerade entstandener Tümpel.
- Werden nun gleichartige Ausgangsbedingungen und unveränderte äußere Einflüsse angenommen, ist oft eine typische Abfolge von Entwicklungsschritten zu beobachten (Sukzession). Während einer Primärsukzession intensivieren sich Energie- und Stoffumsätze; das Arteninventar verschiebt sich mehrfach. Ökologische Nischen werden zunehmend durch einwandernde Arten ausgefüllt. Es stellt sich eine zunehmend komplexe Vernetzung der Beziehungen zwischen den Artpopulationen ein (siehe auch: Populationsökologie oder Demökologie).
- Bleiben die äußeren Einflüsse weiterhin unverändert, kann es zur Ausbildung eines vergleichsweise stabilen "End"-Zustandes kommen, dem Klimaxstadium. Es gibt jedoch auch Beispiele für Ökosysteme mit endogenem, mehr oder weniger zyklischem Zusammenbruch (Beispiel aus Nordamerika).
Mosaik-Zyklus-Konzept
Eine wichtige Dynamisierung des Begriffs des Klimaxstadiums nimmt das Mosaik-Zyklus-Konzept vor. Durch die sich verändernden Umwelteinflüsse oder durch zufällige Ereignisse wie Waldbrand, Windwurf oder Baumfall treten häufig verschiedene Stadien eines Ökosystems nebeneinander auf. So kann zum Beispiel ein Waldbrand durch Blitzschlag im "Klimaxstadium" eines Waldes unbewachsene Flächen (Sukzessionsflächen) schaffen. Kleinräumig bleiben so Pionierarten vertreten, die in der Lage sind, unbesiedelte Flächen zu besiedeln.
Außerdem gibt es in Teilen bzw. in manchen Arten von Ökosystemen nicht immer ein dauerhaft stabiles Klimaxstadium. Auch ohne veränderte Umwelteinflüsse kann es eine beständige Abfolge von Entwicklungsstadien geben, die nach Überschreitung des ökologischen Maximums wiederholt ablaufen kann, zum Beispiel bei der Silbergrasflur (siehe Pflanzensoziologie) und in Wüsten. Das Mosaik-Zyklus-Konzept definiert daher das Klimaxstadium als einen Zustand, in dem über längeren Zeitraum die Sukzession fortwährend abläuft.
Eine im englisch-sprachigen Raum bekannte Variante sind die von C.S. Holling eingeführten, heute Holling-Zyklen genannten Phänomene zyklischen Ökosystem-Zusammenbruchs (vgl. Spruce Budworm Disease).
Moderne Auffassungen zur Ökosystementwicklung
Während die oben dargestellte Sichtweise oft beobachtbare Regelmäßigkeiten wiedergibt, betont die aktuelle ökologische Forschung weniger die absolute Regelhaftigkeit der Sukzessionsvorgänge oder die Stabilität eines idealisiert zu denkenden Klimaxstadiums. Als Problem erweist insbesondere eine voraussetzungsarme empirische Bestimmung von Klimaxstadien in einer dynamischen Umwelt.
Stattdessen wird betont, dass die äußeren Einflüsse realer Ökosysteme nie exakt gleich bleiben. Waldökosysteme benötigen beispielsweise mehrere hundert bis mehrere tausend Jahre, um in ein Klimaxstadium zu gelangen. In einem solchen Zeitraum muss jedoch auch ohne menschlichen Einfluss mit einer Klimaänderung gerechnet werden (vgl. Kleine Eiszeit). Weiterhin kann es zur evolutionären Veränderung von Arten kommen, welche einen Einfluss auf den Ablauf der Sukzession und/oder deren teil-stabile Zustände hat.
Erkennbare Klimaxstadien bilden sich insbesondere dann aus, wenn Mechanismen der Selbstregulation eine relative Stabilität von Artenzusammensetzung und ökosytemaren Prozessen fördern. Es stellen sich dann dynamische Gleichgewichte ein. Eine weitere Sukzession (Sekundärsukzession) erfolgt, wenn äußere Einflüsse oder innere Veränderungen eine Stärke gewinnen, die mehr durch die Selbstregulation kompensiert wird.
Einteilung von Ökosystemen
Ökosysteme lassen sich hinsichtlich ihrer
- Struktur (Habitatsgrößen, Körpergrößen als Raumbedarf; Trophieniveaus) und ihrer
- Dynamik (Energiefluss, Stoffkreisläufe, Sukzession) betrachten und unterteilen.
Diese Einteilungen überlagern sich dabei.
Wesentliche Merkmale und Regulatoren eines Ökosystems sind jedoch Stoff- und Energiekreisläufe (Trophieniveau) sowie der Raumbedarf bzw. ihre Verteilung. Durchgesetzt hat sich eine grobe Unterteilung, die in Fachkreisen verfeinert behandelt werden. Wenn Ökosysteme nur hinsichtlich ihrer geografischen Verteilung, also ihres Ortes, und nicht hinsichtlich ihrer systematischen Zusammenhänge betrachtet werden, spricht man von Ökotopen.
Übersicht über die Ökosysteme (Ökotope)
- terrestrische Ökosysteme
- alle Klimazonen: Moore, Sumpf
- arktische Klimazone
- antarktisches Landeis
- Tundra
- Borealer Nadelwald (Taiga)
- gemäßigt-ozeanische Zone
- sommergrüner Laubwald, Laubmischwald, Mischwald, Bergmischwald, siehe auch: Waldgesellschaften Mitteleuropas
- gemäßigter Regenwald
- gemäßigt-kontinentale Zone
- alpine Zone
- subalpiner Nadelwald
- alpine Stufe
- nivale Stufe
- mediterrane Zone
- Tropen
- Wüsten
- Savanne
- tropischer Trockenwald
- trockener Monsunwald
- Savannenwald
- Dornwald
- tropische Hochgebirge
- äquatoriale Zone (Tropen)
- tropischer Regenwald
- aquatische Ökosysteme
Gefährdung von Ökosystemen und Kommentar
- Der Begriff Klimaxstadium (vgl. Clements) ist aus der aktuellen akademischen Fachliteratur in der Ökologie weitgehend verschwunden. In angewandten Wissenschaften wie der Forstwissenschaft, die ein hinreichend einheitliches Erkenntnisinteresse (und einen hinreichend einheitlichen Zeithorizont) mitbringen, wird jedoch weiterhin mit Gewinn von Klimaxstadien gesprochen.
- Die Entwicklung von Ökosystemen ist auf Grund ihrer Komplexität gar nicht oder nur in sehr groben Zügen vorherzusagen. Auch kleinere Veränderungen der Umweltbedingungen haben stets Veränderungen der Ökosysteme zur Folge, auch wenn diese nicht sichtbar oder praktisch nicht messbar sind. Die meisten dieser steten Veränderungen haben gemeinhin angenommen keinerlei Einfluss auf die Fähigkeit ökologischer Systeme, menschlichen Nutzungsansprüchen zu entsprechen. Langfristig betrachtet kann man jedoch nicht von einer gleichbleibenden Systematik sprechen. Auch ist zu bedenken, dass die Nutzbarkeit eines Ökosystems durch stete Einflüsse herabgesetzt werden kann, was lediglich bei einer kurzzeitigen Betrachtung nicht erkennbar ist.
- Durch die Beeinflussung des Menschen gibt es wahrscheinlich kein unbeeinflusstes Ökosystem mehr. Die Ökologie teilt daher die Ökosysteme auch nach Graden ihrer menschlichen Beeinflussung (Hemerobie) ein.
- Materielle Nutzungen eines Ökosystems (z. B. Entnahme von Biomasse) oder strukturelle Veränderungen (z. B durch Erdbewegungen) führen regelmäßig zu einer Zurücksetzung der ökologischen Sukzession. Viele in Mitteleuropa als schützenswerte „Natur“ betrachtete Ökosysteme (Trockenrasen, Heiden, Binnendünen) sind das Ergebnis einer historischen Übernutzung („ Raubbau“).
- Für terrestrische Ökosysteme und deren Biodiversität stellt in Mitteleuropa die Intensivierung der landwirtschaftlichen Nutzung von Gunstflächen bei gleichzeitiger Nutzungsaufgabe von marginalen Flächen ein großes Problem dar. Hinzu kommt die flächendeckende atmosphärische Stickstoff-Düngung, die konkurrenzschwache Pflanzenarten Nährstoff-armer Standorte benachteiligt. Spezialisierten Tierarten geht damit ihr pflanzliches Substrat verloren.
Siehe auch
- Biosphäre
- Systemtheorie
- Biologische Kybernetik
- Nahrungskette
- Artenvielfalt
- Resilienz (Ökosystem)
- Ökosystemischer Ansatz nach Bronfenbrenner
Weblinks
- Stoffkreisläufe
- DFG Science TV: "Natur am Start" - Leben im Tagebau: Von der Mondlandschaft zum Ökosystem – Video-Serie zur Entstehung eines Ökosystems
Quellenangaben
- ↑ Schaefer, M. (1992) Wörterbuch der Biologie, 3. Auflage, Gustav Fischer Verlag, UTB 430, S. 231: Ökosystem (ecosystem): Beziehungsgefüge der Lebewesen untereinander (Biozönose) und mit ihrem Lebensraum (Biotop)."
- ↑ Beispiel
- ↑ Richard Woltereck (1928): Über die Spezifität des Lebensraumes, der Nahrung und der Körperformen bei pelagischen Cladoceren und über 'Ökologische Gestalt-Systeme'. Biologisches Zentralblatt 48, S. 521–551.