Schleudertrauma
Als Schleudertrauma (whiplash injury) werden Krankheitssymptome (Kopf- und Nackenschmerzen, Schwindel, Sprachstörungen, Gangunsicherheit und viele weitere) bezeichnet, die nach einer Beschleunigung und Überstreckung des Kopfes meist während eines Autounfalles, typischerweise eines Heckaufpralls – ohne direkte Schädigung von Schädel, Gehirn, Rückenmark und Halswirbelsäule – auftreten. Es ist die häufigste Komplikation nach Autounfällen und eine gefürchtete Ursache chronischer Behinderung, wobei bis heute der Grund für diese Chronifizierung, die bei einigen dieser Verunfallten auftritt, unbekannt, aber heftig umstritten ist.[1][2]. Die Cochrane-Vereinigung("Cochrane Collaboration"), ein internationales Netzwerk von Wissenschaftlern und Medizinern, welches sich den Grundsätzen der evidenzbasierten Medizin verpflichtet fühlt, definiert das Schleudertrauma als Akzelerations- Dezelerationsmechanismus mit Energieübertragung auf die Nackenregion als Folge von Heck- oder Seitenaufprall-Verkehrsunfällen, aber auch Tauchunfällen (Verhagen AP et al.: Conservative treatments for whiplash. Cochrane Database of Systematic Reviews 2007, Issue 1).
Der Begriff "whiplash" (Peitschenschlag) wurde erstmals 1928 von dem amerikanischen Orthopäden Harold Crowe eingeführt, um ein klinisches Bild nach indirektem Trauma der Halswirbelsäule im Zusammenhang mit Verkehrsunfällen zu beschreiben (Crowe HE Injuries to the cervical spine. Presented at the meeting of the Western Orthopedic Association, San Francisco 1928).
Klassifikation: Eine sehr gebräuchliche Einteilung der Schweregrade ist die sogenannte "Quebec- Klassifikation":
0 - keine Beschwerden, keine Symptome 1 - Nackenbeschwerden, Steifheit des Nackens 2 - Beschwerden und Muskelverspannung, Bewegungseinschränkung, Muskelhartspann 3 - Beschwerden und neurologische Befunde 4 - Fraktur(en) oder Dislokation(en)
(Spitzer WO et al Scientific monograph of the Quebec Task Force on Whiplash- Associated Disorders cohort study: redefining "whiplash" and its management Spine 20: 1S-73S, 1995). Allerdings erscheint der Vorschlag der schon oben zitierten schwedischen Arbeitsgruppe aus dem Jahre 2008, wonach die Stufen 1 und 4 überflüssig sind, sinnvoll insbesondere deshalb, weil es sich beim "Schleudertrauma" per definitionem um eine indirekte Schädigung handelt und eine Fraktur insoweit anderweitig zu klassifizieren ist(2); der Verzicht auf die Stufe "0" bedeutet ohnehin keinen Informationsverlust. Es ist unstrittig, dass nach einem Schleudertrauma die Beschwerden meist innerhalb von Tagen bis Wochen ohne Theapie abklingen. In ca 10% oder mehr entwickelt sich allerdings eine chronische Schleudertrauma- Krankheit(2). Um diese chronische "Schleudertrauma-Krankheit" (künftig in diesem Artikel als WAD - whiplash associated disorder(s)bezeichnet), deren genaue Ätiologie bis heute unbekannt ist, hat sich eine enorme Kontroverse gebildet. Die wissenschaftliche Literatur ist nicht frei von polemischen Auseinandersetzungen, im Verlauf welcher man sich einerseits Gefälligkeitsgutachten für die Versicherungsagenturen oder andererseits ökonomische Interessen bei der Behandlung von Unfallopfern, die keine seien, vorgeworfen hat.
Ätiologie (Ursachen)
Die häufigste Ursache eines Schleudertraumas ist ein Autounfall (Fahrzeug fährt von hinten auf). Den weitaus größten Teil machen dabei Auffahrunfälle aus, wobei auch die Insassen des vorderen Wagens gefährdet sind. Seitliche Zusammenstöße bergen ebenso ein großes Risiko, ein Schleudertrauma zu erleiden.
Symptome
Hauptsymptome beim einfachen Schleudertrauma sind die Auswirkungen der Muskelverspannungen der Hals- und Nackenmuskulatur, welche zu Kopf- und Nackenschmerzen führen. Häufig halten die Beschwerden länger an und können chronifizieren. Eine großangelegte Forschungsarbeit des Autoherstellers Volvo kam zu dem Ergebnis, dass 17 Jahre nach der stattgehabten Schleudertrauma-Verletzung noch 55 % der Verunfallten darunter leiden und 5-8 % unfallbedingt berufsunfähig werden.
Als Symptome werden oft angegeben:
- Vertigo (Schwindel)
- Benommenheit und quantitativ höhergradige Vigilanzstörungen
- Brennende oder stechende Schmerzen im Hinterkopf
- Hör- und Sehstörungen, Einschränkungen des Gesichtsfeldes
- Aufmerksamkeitsstörungen, Desorientierung
- Rasche Erschöpfbarkeit
- Schlafstörungen
- Schwächegefühl
- Schmerzen und/oder Missempfindungen in Gesicht und Armen
- Gangunsicherheiten
- Muskelfunktionsstörungen
- Spasmen
Auch ohne Symptome soll zum Ausschluss einer Wirbelkörperverletzung oder eines Schädel-Hirn-Traumas unbedingt ein spezialisierter Arzt aufgesucht werden.
Therapie
Neuere Studien haben gezeigt, dass eine längere Schonung der Halswirbelsäule (z. B. durch Tragen einer Halskrause) die Heilung eher verzögert.
Unfallmechanik - Biomechanik
Der Anstoß durch ein auffahrendes oder seitlich aufprallendes Fahrzeug führt zur Übertragung der Bewegung auf die Insassen. Dies geschieht nach einer kurzen Latenz, während welcher zuerst die Knautschzonen des Fahrzeugs verformt werden und das angestoßene Fahrzeug selbst entsprechend der Wucht des Aufpralls in Bewegung gesetzt wird. Diese Beschleunigung überträgt sich via Autositz auf die Insassen (vgl. Impulskraft o. Impulserhaltung).
Die Wirbelsäule wird dabei zuerst beim sogenannten Ramping (Aufsteigen des Oberkörpers an der Rückenlehne) langgestreckt. Der Kopf 'drückt' dabei nach unten dagegen (Trägheitsmoment). Dabei werden die Bandscheiben 'zusammendrückt' (gestaucht, Distorsion). Auf die dadurch bereits geschwächte Wirbelsäule wirken in der weiter einsetzenden Bewegung nach wenigen Millisekunden weitere starke Kräfte, welche die Verletzungsgefahr erheblich steigern, da eine so gestauchte und gestreckte Wirbelsäule viel verletzungsanfälliger gegen Seitenbewegungen ist. Erst jetzt nämlich wandelt sich die Aufprallbeschleunigung auch für die Insassen in eine Vorwärtsbewegung um. Dabei wird der Oberkörper der Insassen vom Sicherheitsgurt zurückgehalten, während der Kopf nach vorn schnellen will. Dies findet jedoch nicht in einer bisher angenommenen reinen Peitschenschlag-Bewegung (engl. whiplash) statt, sondern in einer Translationsbewegung, das heißt horizontalen Scherbewegung mit höchstem Verletzungsrisiko für alle Strukturen der Hals- (HWS) und Brustwirbelsäule (BWS). So sieht man bei Motorsport-Rennen, u.a. der Formel 1, seit einigen Jahren die schwarzen Aufsatzgestelle auf den Schultern der Fahrer, an denen der Helm mit Seilen befestigt wird, um dieser Translationsbewegung vorzubeugen und somit den Fahrer zu schützen (HANS-System).
Schutzsysteme im PKW
Um einem Schleudertrauma bei einem Verkehrsunfall vorzubeugen, ist es sehr wichtig, die Kopfstütze richtig einzustellen, ideal ist ein Abstand von weniger als 2 cm zwischen Kopfstütze und Kopf. Manche Fahrzeuge sind mit so genannten Aktiven Kopfstützen ausgestattet, die sich im Fall eines Heckaufpralls in die Richtung des Kopfes bewegen, um ihn früher aufzufangen. Das effizenteste Schleudertraumaschutzsystem am Automobilmarkt hat der schwedische Automobilhersteller Volvo entwickelt. Dieses System nennt sich WHIPS und verringert die Gefahr, ein Schleudertrauma zu erleiden, um nahezu 80 %. Es bekam auch zahlreiche Auszeichnungen von Verkehrssicherheitsbehörden.
Recht und "Unrecht"
Da nebst den Angaben des Patienten oftmals keine medizinisch nachweisbaren Läsionen oder Subluxationen vorhanden sind wurde häufig im Gerichtssaal anstatt am Patientenbett über die Diagnose 'Schleudertrauma' diskutiert. Bei der Diagnose "Schleudertrauma" sollte auf der einen Seite eine mögliche hypochondrische Symptomverstärkung beachtet werden und andererseits die subjektive Schilderung des Patienten angemessen ernsthaft bewertet werden. Eine kanadische Versicherungsstudie fand heraus, dass der Prozentsatz der Simulanten oder Aggravanten bei etwa 12 % liegen dürfte.
Mangels nachweisbarer Schäden wird den Kfz-Versicherungen bei Gerichtsverhandlungen häufig vorgeworfen, sie würden versuchen, durch Diskreditierung der Unfallopfer als Simulanten die Schädigung zu verharmlosen und sich so der Zahlungspflicht zu entziehen.
Ob ein geringfügiges Schleudertrauma im Rahmen eines Verkehrsunfalles entschädigungslos hinzunehmen ist, wird von den Gerichten uneinheitlich beurteilt: Während das Landgericht Augsburg annimmt, dass eine gewisse Harmlosigkeitsschwelle hinzunehmen ist [3], lehnt das Oberlandesgericht Schleswig eine solche Einschränkung ab [4].
Literatur
- Hans Schmidt, Jürgen Senn: Schleudertrauma - neuester Stand. Medizin, Biomechanik, Recht und Case Management. Expertenwissen für Juristen, Ärzte, Betroffene und Versicherungskaufleute. Zürich 2004, ISBN 3-033-00172-6,
- Renata Huonker-Jenny: Schleudertrauma, das unterschätzte Risiko. Kösel, München 2002, ISBN 3-466-30593-4
Einzelnachweise
- ↑ S. Carette: Whiplash Injury and Chronic Neck Pain. In: New Engl J Med 1994,30:1083-1084
- ↑ Jansen et al: Whiplash injuries: diagnosis and early management. The Swedish Society of Medicine and the Whiplash Commission Medical Task Force. In: Eur Spine J. 2008;17 Suppl 3:S 355-417
- ↑ LG Augsburg, Urt. v. 15.02.2000 - 4 S 4743/98
- ↑ OLG Schleswig, Urteil vom 29.06.2006 - 7 U 94/05