Zum Inhalt springen

Genetische Epistemologie

aus Wikipedia, der freien Enzyklopädie
Dies ist eine alte Version dieser Seite, zuletzt bearbeitet am 29. Dezember 2009 um 00:45 Uhr durch Erik Warmelink (Diskussion | Beiträge) (Wahrnehmung: -/- "re" (Teil von "ref"?)). Sie kann sich erheblich von der aktuellen Version unterscheiden.

Als genetische Epistemologie bezeichnet man eine von Jean Piaget (1896–1980) entwickelte Erkenntnistheorie. Diese versucht, den Wissenserwerb, das Anwachsen wissenschaftlicher Erkenntnis und deren phylo- und ontogenetische Entstehungsbedingungen in methodischer Anlehnung an die Biologie empirisch zu erklären.[1]

Dabei untersuchte Piaget die Ontogenese der kognitiven Fähigkeiten bei Kindern nicht als Ersatz für verlorengegangenes historisches Wissen über die Entstehung von Wissen, sondern als notwendige Ergänzung dazu. Da die kognitiven Prozesse, die bei der Entstehung historischer Werke wirksam waren, selten dokumentiert sind, sei es wie in der Evolutionsbiologie nötig, darüber mittels der Ontogenese Aufschluss zu bekommen.[2] Zunächst nahm Piaget an, dass die kognitiven Mechanismen der Kinder denen der Erwachsenen sowie denen der gestandenen Wissenschaftler der Vergangenheit und Gegenwart gleichen. Gegen Ende seines Lebens entwickelte er mit Rolando Garcia die Hypothese der funktionellen Invarianz der kognitiven Mechanismen.[3]

Implizierte Erkenntnistheorie

Interaktionismus

Aus der Perspektive des Säuglings ist die Ausgangslage des Erkennens durch einen „Adualismus“[4] gekennzeichnet. Damit ist nicht gemeint, dass ein Säugling von dem Bewusstsein durchdrungen ist, dass er und die äußere Realität in Wirklichkeit eins seien. Im Gegenteil: Piaget bezeichnet den Anfang der kognitiven Entwicklung als adualistisch, weil seine Untersuchungen nahe legen, dass es beim Säugling noch „kein bewußtes Subjekt“ und noch „keine völlig ausgebildeten Objekte“ gibt.[5] Piaget ist jedoch der Auffassung: „es gibt sowohl das Objekt als auch die objektiven Strukturen bereits vor ihrer Entdeckung.“[6] Somit stellt sich die Frage, wie sich diese Entdeckung gestaltet, also wie ein Subjekt, das weder von sich noch von den Gegenständen weiß, sich die Objekte sowie die objektiven Strukturen in Erfahrung bringt. Dass die Entdeckung nicht unmittelbar vonstatten geht, wie wenn ein Gegenstand nach der Enthüllung in vollem Umfang ans Licht tritt, versteht sich aus der langen Dauer der Genese der kognitiven Fähigkeiten. Die Entdeckung beruht stattdessen auf einer Vermittlung zwischen Innen und Außen. Diese Vermittlung bleibt allerdings nicht immer gleich; die genetische Epistemologie zeigt, dass die vermittelnden Instrumente auch einem kontinuierlichen Wandel unterzogen sind.[7] Wenngleich es keine unveränderlichen Instrumente des Austausches mit der Außenwelt gibt, besteht dennoch die Möglichkeit, eine allgemeine Form des Erkenntnisprozesses anhand funktioneller Invariante herauszustellen. Auf die adualistische Ausgangslage des Säuglings zurückkommend, gibt es aus der Sicht eines Erkenntnistheoretikers zwei Pole: die Wirklichkeit mit Gegenständen und objektiven Strukturen einerseits und ein erkennendes Subjekt andererseits. Entscheidend für die Vermittlung zwischen den Polen sind Piaget zufolge nicht die Gegenstände, sondern die Aktivität des Subjekts. Da „das Subjekt die Wirklichkeit nur mit Hilfe seiner Handlungen oder Einwirkung [...] kennenlernen kann“,[8] muss das Subjekt mit ihr agieren, um Information über Gegenstände und Sachverhalte zu gewinnen. Dies bedeutet unter anderem, dass Gegenstände, die keiner Einwirkung ausgesetzt sind, nicht zum Gegenstand der Erkenntnis werden. Ferner werden die Ergebnisse dieser Einwirkung nur in dem Maße zu Kenntnis genommen wie der Entwicklungsgrad der inneren Strukturen, der Pläne,[9] imstande ist, sie zu verwerten.

Den Prozess der Verwertung vergleicht Piaget mit dem Einverleiben der Verdauung und verwendet dafür den Begriff Assimilation. Da der Plan nicht nur für die Verwertung der Ergebnisse einer Einwirkung zuständig ist, sondern auch die Einwirkung selbst reguliert, ist er allein ausschlaggebend für die Qualität der Erkenntnisse. Somit kommt es, je nach Adäquation der Pläne, zu „deformierende[r] Assimilation“[10] oder „konservierende[r] Assimilation“.[11] Indes stellt der Plan keine starre Struktur dar; er ist auch im Wandel begriffen. Einerseits modifiziert er sich während der Assimilation, um sich besser an die Gegebenheiten anzupassen – dies nennt Piaget Akkommodation, andererseits befindet er sich in dem „genetischen Zirkel“:[12] Assimilation findet an Plänen statt, während die Pläne selbst aus Assimilation hervorgehen.

Wahrnehmung

Entgegen der weit verbreiteten Meinung, dass die Augen wie Fenster seien, deren Läden man nur aufschlagen brauche, um das präformierte Bild der Außenwelt hineinströmen zu lassen, ist nach Piaget Wahrnehmung eine Konstruktion. Sie ist dabei in zweierlei Hinsichten eine Konstruktion: zum einen hinsichtlich der Entstehung, denn die Größen- und Formkonstanz, Raum und Objektpermanenz sind beispielsweise nachweisbare Stationen in der Entwicklung der visuellen Wahrnehmung; zum anderen hinsichtlich des Funktionierens, denn jede Wahrnehmung wird augenblicklich nach Regeln konstituiert.

Die spontane Konstruktion der Wahrnehmung erfolgt nach „Kompositionsprinzipien“[13], die Feldeffekten, d.h. einer „Verformung der Teile mit Funktion des Ganzen“[14] gleichkommen. Sie bewirken eine systematische Verzerrung in der Bildung des Wahrnehmungsbildes. Das liegt daran, dass der Blick nur der Reihe nach einen Punkt anvisieren kann, den er systematisch vergrößert, während er zugleich die umgebenden Elemente verkleinert. Dazu spielt die Auswahl der anvisierten Punkte einer Figur eine Rolle, denn obwohl die „Figur als solche […] die Wahl eines optimalen Fixierungspunktes [bewirkt], der so wenig Deformation wie möglich verursacht“,[15] Wegen der Fokussierung des Blickes auf einen Punkt und der damit einhergehenden Auswahl weist also das Wahrnehmungsfeld eine systematische Deformation auf. Die systematische Natur dieser Deformation macht die Verzerrung dieses Feldes zugänglich für Wahrscheinlichkeitsrechnungen. Daher nennt Piaget solche Kompositionen „Wahrscheinlichkeitskombinationen“ bleibt sie nur ein Ausschnitt der möglichen Punkte.[16] Zuweilen nennt er sie auch „irrational“[17], denn, wie die Wahrnehmungstäuschungen zur Genüge zeigen, gehorchen die Kompositionen den Gesetzen der Logik nicht.

Dass die Wahrnehmungstäuschungen trotz der Entrüstung der Logik in ihrer Wirkung das ganze Leben hindurch kaum nachlassen, zeugt einerseits von deren Unabhängigkeit von der Logik, andererseits von den statischen Kompositionsgesetzen. Das heißt allerdings nicht, dass man sich mit der Verzerrung abfinden müsste. Das Wahrnehmungsfeld ist nämlich deshalb dem Gegenstand nicht adäquat, weil der Blick von sich aus zwar den optimalen, aber nur kleinen Ausschnitt der möglichen Fixierungspunkte anvisiert. Dies nennt Piaget „Zentrierung“. Das Mittel zur Beseitigung der Deformation scheint auf der Hand zu liegen: Man lenke den Blick systematisch auf die übrigen Punkte, bis der Gegenstand vollständig erschlossen sei. Der Haken dabei wäre jedoch, dass jeder Blick erneut eine Verzerrung durch Feldeffekte aufweisen würde, so dass man anstelle eines adäquaten Wahrnehmungsbildes nur eine deformierte Ansicht gegen eine andere tauschen würde.[18] Die Bedingung also dafür, dass ein aktives Abfahren einer Figur mit dem Blick zum Ausgleich einer Deformation beiträgt, ist, dass die Wahrnehmungsbilder nicht diskret bleiben, sondern dass sie aufeinander wirken. Das gewährleistet die „Wahrnehmungsaktivität“.[19]

Indes bleibt die ursprüngliche Wahrnehmung durch die Wahrnehmungsaktivität nicht unverändert; Piaget ist der Auffassung, dass die Rückstrahlung der Wahrnehmungsaktivität die ursprüngliche Wahrnehmung bereichert. Dies geschieht, indem die perzeptive Aktivität „Wahrnehmungsschemata[-pläne]“, die Piaget zufolge eine Verlängerung der im Handeln bereits wirksamen, koordinierenden Aktivität ist,[20] erarbeitet, die es erlauben, Elemente des sinnlichen Gehalts der Wahrnehmung, von Piaget als „figurale“[21] bezeichnet, aufzugreifen und ihnen eine Bedeutung zu verleihen. Diese Konstruktion ist im Grunde ein Akt des Erkennens in der Wahrnehmung.

Nach dem produktiven Akt des Erkennens gewinnen die figuralen Elemente fortan „Indiz“-Charakter[20], dennoch nicht in dem üblichen Sinn, dass sie eine innere Repräsentation eines außenstehenden, präformierten Gegenstandes seien, sondern indem sie auf ihren sinnstiftenden Plan hindeuten. Indes ist die Beziehung Zeichen–Plan reziprok: die figuralen Elemente weisen als Zeichen auf den Plan, während die Assimilation an den Plan sie in ein Netz „virtuelle[r] Beziehungen“[20] einlässt, die ihnen erst eine Bedeutung zuweisen. Piaget illustriert das Verhältnis zwischen Indiz und Plan am Beispiel eines Würfels[22]: Diesen kann man nur aus einem Blickwinkel betrachten. Durch die Assimilation an den Plan eines Würfels wird diese Ansicht der Gesamtheit der möglichen Perspektiven auf den Würfel zugeordnet, somit wird sie erst zu einer Perspektive dieses Würfels. Indes ist sie pars pro toto Zeichen für den ganzen Würfel – es gibt momentan in der figuralen Wahrnehmung nur diese Ansicht – geworden, denn sie impliziert durch die Assimilation an den Plan die ganzen Perspektiven, die jederzeit aktualisiert werden könnten. Piaget äußert sich zu dem Komplex aus Zeichen, Wahrnehmungsplan und perzeptiver Aktivität folgendermaßen:[23]

„Sie [die Wahrnehmung] ist das Zeichen eines Wahrnehmungsschemas[-plans], das die Bedeutung des wahrgenommenen Objekts ausmacht, eine Bedeutung, die die sinnlichen Elemente übersteigt, da sie sich an die virtuellen Beziehungen anlehnt, die die perzeptive Aktivität im Hinblick auf die betrachtete Wahrnehmung ausbilden könnte.“

Repräsentation

Im Gegensatz zu traditionellen Repräsentationstheorien des Erkennens, bei denen die Repräsentation als Abbild sich zwischen die Außenwelt der Gegenstände und die Innenwelt der Vorstellungen schaltet, kommt ihr in der genetischen Epistemologie eine wichtige, dennoch dem Erkennen nebensächliche, Rolle zu. Für Piaget bietet die semiotische Funktion, sei es in der Sprache als Zeichen oder in der bildlichen Vorstellung als Symbol - das im Unterschied zum Zeichen dem bezeichneten Gegenstand ähnelt -, lediglich ein Hilfsmittel an, das schon Erkanntes repräsentiert. Somit ist sie für die Manipulation, flexible Anwendung und Speicherung des Wissens, also für die Handhabe und Verfügbarkeit der Erkenntnisse, unentbehrlich; sie jedoch nicht für den Erkenntnisakt selbst notwendig.4

Die semiotische Funktion hat ihren Ursprung in der Nachahmung und ist im Grunde eine Internalisation externer motorischer Imitationen. Mit dem französischen Ausdruck intérioriser bezeichnet Piaget jedoch zwei unterschiedliche Funktionen, so dass . Furth vorschlug: „Wir können »interiorise« (interiorisieren) für die funktionelle Dissoziation zwischen allgemeinen Erkenntnisplänen und externem Inhalt gebrauchen und »internalise« (internalisieren) für die realen Abschwächungen imitativer Bewegungen, die Piaget zufolge zu inneren Bildern oder zu innerer Sprache führen.“[24] Entsprechend dem figurativen und dem operativen Aspekt einer Repräsentation, gibt es zwei Quellen, aus denen sie sich speist: einerseits, wie bei der Wahrnehmung, entspringt das Figurative der akkommodativen Aktivität, anderseits bekommt sie eine Bedeutung durch Anlehnung an den operativen Erkenntnisakt. Demnach entsteht eine Repräsentation, indem internalisierte figurative Elemente das Material bereitstellen, das erst durch die Assoziation mit einem Plan eine Bedeutung bekommt. Die Repräsentation bildet dabei den Signifikator, während der Plan als Signifikant fungiert.

Denken

Der Terminus Operation dient als Synonym für Denken bei Piaget, und Denken ist nach ihm Verhalten. Im Unterschied zum sensomotorischen Verhalten jedoch, das in mit dem Körper ausgeführten Akten manifestiert, ist Denken Piaget zufolge interiorisiertes Verhalten.[25] 2

Die deduktive Natur der Mathematik und Logik macht noch einen weiteren Unterschied zum sensomotorischen Verhalten ersichtlich: das Resultat eines Denkaktes liegt nicht außerhalb des Denkens. Um den Erfolg oder Misserfolg einer materiellen Handlung zu beurteilen, bedarf es der Rückmeldung der Sinne, dahingegen ist das Ergebnis eines Denkaktes unmittelbar einsichtig, weil es im Denken schon vorweggenommen wird. Kybernetisch gesprochen, bilden die logisch-mathematischen Operationen somit vollkommene Rückkoppelungen.

Jeder Akt hat nach Piaget zwei Aspekte: einerseits weist er bestimmte Besonderheiten auf, welche die Adaptation der Ausführung an die herrschenden Bedingungen widerspiegeln; abgesehen von den Besonderheiten jedoch, gibt es anderseits einen Aspekt, der sich auf ähnliche Situationen übertragen lässt. Der letzte Aspekt ist der generalisierbare Teil des Verhaltens, der interiorisiert wird, und bildet die Grundlage des Denkens. Die Interiorisierung bewirkt demnach die Ablösung der generalisierbaren Form vom besonderen Inhalt. Mit Hilfe der nachstehenden Mechanismen gipfelt diese Entwicklung der kognitiven Strukturen in den allgemeinen Formen der Mathematik und Logik.[26] Einerseits ist dies möglich, weil das Objekt des Denkens den Denkstrukturen innewohnt. Indem das Denken die Resultate der Einwirkung an seine Pläne assimiliert, konstituiert es Objekte des Denkens. Somit transformiert das Denken die Dinge der Welt in Dinge des Denkens, mit denen es einsichtig hantieren kann. Andererseits hängt dies mit dem Hauptmerkmal der Operationen, nämlich der Reversibilität, zusammen. Insofern eine Transformation und ihre Umkehrung zeitgleich in eine Operation vereint werden, befreit sie sich von der Bindung der materiellen Handlungen an der Kausalität sowie dem Nacheinander der Zeit.

Objektivität

Die Objekttreue aller Erkenntnisse hängt voll und ganz von den Plänen ab. Die Objektivität der Repräsentation der Wirklichkeit ist wie die Pläne selbst, von denen sie abhängt, einem Wandel unterzogen, den man auch in der kognitiven Entwicklung untersuchen kann. In der Tat ist nach Piaget die Objektivität „ein Prozeß und kein Zustand“.[8] Darüber hinaus zeigt er , dass der Prozess aus zwei komplementären Mechanismen besteht, nämlich „Dezentrierung“ einerseits und „approximierende Rekonstruktion“ andererseits.[8] Diese Mechanismen greifen ineinander über, lassen sich aber getrennt darstellen.

Dezentrierung

Aus dem einfachen Grund, dass wir Piaget zufolge die Umwelt nur kennen lernen können, indem wir aktiv auf sie einwirken, ist eine subjektive Beteiligung am Erkennen nicht nur nicht auszuschließen, sondern sie bildet die Grundvoraussetzung eines jeden Erkennens. Damit geht es in der Frage nach der Objektivität nicht danach, ob das Subjekt am Entstehen der Kenntnisse der Umwelt beteiligt ist, sondern inwiefern diese Beteiligung deformierend wirkt.

Vor diesem Hintergrund gewinnt das Begriffspaar Zentrierung-Dezentrierung einen bestimmten Sinn. Die Zentrierung drückt aus, dass der Mensch nur über begrenzte Mittel, also die sich entwickelnden Instrumente des Austausches, verfügt, um in Kontakt mit der Umwelt zu treten. Demzufolge spiegelt sich die Unzulänglichkeit dieser Instrumente in seiner Erfahrung der Umwelt wider. Diese einseitige Aufnahme der Umwelt nennt Piaget egozentrisch, denn die Umwelt wird unbewusst nach dem eigenen Entwicklungsstand erfasst:[27]

„Der Egozentrismus ist also einerseits das Primat der Bedürfnisbefriedigung über die objektive Feststellung [...]. Andererseits ist der Egozentrismus eine Deformation der Wirklichkeit in Funktion der Handlung und des eigenen Gesichtspunktes. In beiden Fällen ist er natürlich unbewußt, denn er ist ja im wesentlichen eine Vermischung von Subjektivem und Objektivem.“

Piaget hat den Begriff Egozentrismus zum Anfang seiner kognitiven Forschungen verwendet; in späteren Phasen hat er ihn durch Zentrierung zunehmend ersetzt.[28]

Die Dezentrierung als Gegenbegriff zur Zentrierung bezeichnet den Prozess, der den mit der Zentrierung einhergehenden Egozentrismus abbaut und letztendlich überwindet. Demzufolge muss die Dezentrierung das Bewusstseinsdefizit, das zur Vermengung von Subjektivem und Objektivem führt, beheben, der Selbstbefriedigung des Assimilationsprozesses durch verstärkte Akkommodation entgegenwirken und die unbewusste Befangenheit in dem eigenen Standpunkt aufheben.

Die Dezentrierung verläuft nicht geradlinig, sondern zyklisch. Piaget scheint zwischen einer linearen und einer zyklischen Entwicklung mehrmals hin und her geschwankt zu haben, ehe er sich in den späteren Arbeitsphasen festgelegt hat.[29] Zu Beginn eines neuen Stadiums der kognitiven Entwicklung kommt eine Zentrierung auf, die gegen Ende einem dezentrierten Zustand ausweicht. Der allgemeine Duktus dieser Entwicklung ist von der Peripherie, d. h. vom erzielten Resultat des Handelns, zum Zentrum der Aktivität, also eine Bewusstwerdung der verborgenen Beteiligung des Erkennenden am Entstehen des Handlungsziels.[30] Ferner, obwohl sich der Zyklus auf jedem neuen Stadium wiederholt, zeichnet sich über die gesamte Entwicklung vom sensomotorischen bis zum formal operationellen Stadium ein Fortschritt in der Dezentrierung ab. Piaget vergleicht den Fortschritt der Dezentrierung deshalb mit einer Spirale.[31]

Zwei Mechanismen sind beteiligt an der spiralischen Entwicklung der Dezentrierung: reflektierende Abstraktion und Äquilibration. „Abstraktion“ in Piagets Terminus technikus „reflektierende Abstraktion“ bezieht sich auf die Fähigkeit, Strukturen aus einem Gesamtgeflecht von Plänen zu isolieren. „Reflexion“ hingegen hat eine zweifache Bedeutung: Einerseits die optische Bedeutung einer Projektion, denn die herausgelöste Struktur wird auf eine neue Ebene projiziert; andererseits der geistige Sinn einer gedanklichen Bearbeitung, denn das schon vorhandene Geflecht der Pläne wird im Lichte des Neuen in eine reichere Struktur höherer Stufe integriert. Die reflektierende Abstraktion hebt somit einen kognitiven Inhalt von einer Stufe auf eine höhere und gibt ihm dabei eine neue Form; sie verfährt dabei konservierend.

Die durch die reflektierende Abstraktion verursachte Umkrempelung innerer Pläne ist nicht ohne Folgen. Ihre Auswirkung nach innen auf die anderen Pläne und nach außen auf deren Verhältnis zur Außenwelt müssen erneut ins Gleichgewicht gebracht werden. Dafür ist die Äquilibration zuständig.

Approximierende Rekonstruktion

Dieser Terminus soll zunächst zum Ausdruck bringen, dass im Zuge der Dezentrierung eine Transformation der Wirklichkeitsrepräsentation stattfindet.[8] Die Transformation hat ihren Ursprung in der gegenseitigen Assimilation von Plänen, somit geht eine Reorganisation oder Neukomposition der ursprünglichen Repräsentation ausschließlich aus inneren Strukturen hervor. Die Rekonstruktion ist jedoch nicht willkürlich bezüglich der Erfahrung; sie entsteht in Einvernehmen mit der Erfahrung. Folglich in dem Maße, wie die gegenseitige Assimilation der Pläne fortschreitet, können sich die Pläne umso besser an die Gegebenheiten6 akkommodieren, so dass sukzessive Konstruktionen eine immer besser werdende Annäherung an die Wirklichkeit bieten. Mit anderen Worten, die sukzessiven Entwürfe, die endogenen Ursprungs sind, versuchen den empirischen Gegebenheiten optimal Rechnung zu tragen, so dass deren Kompositionen immer besser die äußeren Gegenstände und Sachverhalte approximieren.

Spezielle genetische Erkenntnistheorie

Die entwicklungspsychologischen Untersuchungen, denen die Kinder unterzogen werden, zielen auf den Erwerb von etabliertem Wissen unterschiedlicher Fachbereichen ab. D. h. sie setzen die geltende wissenschaftliche Repräsentation der Wirklichkeit als Bezugsrahmen immer voraus und untersuchen lediglich die Konstruktion derselben bei Kindern. Derart psychologischer Untersuchungen bezeichnet Piaget als spezielle genetische Erkenntnistheorie, und sie gehören epistemologisch zu der Kategorie der Adäquationstheorien, da die Repräsentation, die als objektive Wirklichkeit gilt, die präformierte Grenze eines Annährungsprozesses bildet.

Allgemeine genetische Erkenntnistheorie

Während die spezielle genetische Epistemologie ein objektives Referenzsystem voraussetzt, ist es zugleich offensichtlich, dass dieses System selbst ein Produkt des Erkennens ist. Dass es keine Erkenntnisse außerhalb des Erkennens gibt, muss jedoch einer allgemeinen genetischen Erkenntnistheorie Rechnung tragen; ihr obliegt es deshalb, das vermeintlich unveränderliche Referenzsystem in die genetisch-historischen Prozesse des Erkennens einzubeziehen. Also aus der Warte der allgemeinen genetischen Erkenntnistheorie gibt es im Gegensatz zu der speziellen genetischen Epistemologie keine objektive, unveränderliche Realität.[32]

Da das Wachstum des gesamten Wissensschatzes auf dem Fortschritt der einzelnen Wissenschaften beruht, bedient sich die allgemeine genetische Epistemologie einer Verallgemeinerung der Methode der speziellen genetischen Erkenntnistheorie, um die allgemeinen Evolutionsgesetze des anwachsenden Gesamtwissens herauszustellen.[33]

Selbstverständlich bleiben auch die Ergebnisse dieser Methode relativ zum Entwicklungsstand der Erkenntnisse. Wenngleich eine Extrapolation der Evolutionsgesetze in die Zukunft deswegen ausgeschlossen ist, kann man Piaget zufolge im Nachhinein die Evolutionsgesetze, die bis in die Gegenwart am Werk sind, ermitteln.

Zirkel des Erkennens

Die Abhängigkeit einer Wahrheit vom Niveau des Denkens, die aus dieser Verallgemeinerung der Erkenntnistheorie resultiert, trägt der Zirkularität jedes Erkenntnisakts Rechnung. Diese besteht darin, dass jede neue Erkenntnis nur aufgrund von Vorwissen gewonnen werden kann:[34]

„Die psychologischen Erklärungen beziehen sich früher oder später auf diejenigen der Biologie, diese beruhen ihrerseits auf denjenigen der Physik und der Chemie, die physikalischen Erklärungen stützen sich auf die Mathematik, und die Mathematik und die Logik können sich nur auf die Gesetze des Geistes berufen, die das Untersuchungsobjekt der Psychologie bilden.“

Wenngleich der Zirkel des Erkennens einen absoluten Anfang des Erkennens unmöglich macht, bedeutet es Piaget zufolge nicht, dass Erkennen auf einen Zirkelschluss hinaus läuft. Er stellt sich vor, dass das Wissensvorschub nach und nach eingeholt wird, indem die Erkenntnisse der unterschiedlichen Wissenszweige zunehmend ein selbst stützendes Gesamtsystem bilden:[35]

„Je mehr sich dieser Kreis [...] ausdehnt, desto mehr gestatten die beobachteten Konvergenzen in wachsendem logischen Zusammenhang die Gewißheit zu finden, dass der Kreis kein Zirkelschluss ist.“

Werke Piagets

  • Biologie und Erkenntnis. Über die Beziehung zwischen organischen Regulationen und kognitiven Prozessen, übersetzt von Bärbel Erdmann, Frankfurt am Main 1974 (frz. Biologie et connaissance, Paris 1967)
  • Abriß der genetischen Epistemologie, übersetzt von Fritz Kubli, Einführung von Fritz Kubli, Stuttgart 1980 (frz. L’Epistémologie génétique, Paris 1970)
  • Biologische Anpassung und Psychologie der Intelligenz, übersetzt von Luc Bernard, 1. Auflage, Stuttgart 1975 (frz. Adaptation vitale et psychologie de l’intelligence, Paris 1974)
  • Einführung in die genetische Erkenntnistheorie, übersetzt von Friedhelm Herboth, 6. Auflage, Frankfurt am Main 1996

Literatur

Einführende Werke
  • Furth, Hans G.: Intelligenz und Erkennen. Die Grundlagen der genetischen Erkenntnistheorie Piagets, übers. Von Friedhelm Herboth, Frankfurt am Main 1981.
  • Kesselring, Thomas: Entwicklung und Widerspruch. Ein Vergleich zwischen Piagets genetischer Erkenntnistheorie und Hegels Dialektik, 1. Aufl., Frankfurt am Main 1981.
  • Scharlau, I.: Jean Piaget zur Einführung, 1. Aufl., Hamburg 1996.
  • Steinberg, L. & Meyer, R.: Childhood, New York 1995.
  • von Glasersfeld, Ernst: Konstruktion der Wirklichkeit und des Begriffs der Objektivität, in: Gumin, Heinz und Meier, Heinrich (Hrsg.): Einführung in den Konstruktivismus. (=Veröffentlichungen der Carl Friedrich von Siemens Stiftung, Bd. 5.), München 1992.
Erkenntnistheoretischer Diskurs
  • Engels, Eva-Marie: Erkenntnis als Anpassung?: eine Studie zur evolutionäre Erkenntnistheorie, 1. Aufl., Frankfurt am Main 1989.
  • Glasersfeld, Ernst von: Radikaler Konstruktivismus: Ideen, Ergebnisse, Probleme, 1. Aufl. [Nachdr.], Frankfurt am Main 1998.
  • Scharlau, I.: Erkenntnistheorie als Wissenschaft: Streitpunkte zwischen Husserl, Gurwitsch, Merleau-Ponty und Piaget, München 1998.
  • Zeil-Fahlbusch, E.: Perspektivität und Dezentrierung. Philosophische Überlegungen zur genetischen Erkenntnistheorie Jean Piagets, Würzburg 1983.

Einzelnachweise

  1. Jean Piaget: Abriß der genetischen Epistemologie, übers. von Fritz Kubli, Einführung von Fritz Kubli, Stuttgart 1980 (frz. L’Epistémologie génétique, Paris, 1970), S. 26
  2. Jean Piaget: Gesammelte Werke. Studienausgabe. Einführung von Hans Aebli, Bd. 8, Stuttgart 1991, S. 18ff.
  3. Jean Piaget, Rolando Garcia: Psychogenesis and the history of science (frz.: Psychogenèse et histoire des sciences, Paris 1983) Übersetzt ins Englische von Helga Feider, New York 1989
  4. Piaget, J., Abriß der genetischen Epistemologie, übers. von Fritz Kubli, Einführung von Fritz Kubli, Stuttgart, 1980.(frz. L’Epistémologie génétique, Paris, 1970). S. 33.
  5. Ebd., S. 31 f.
  6. Ebd., S. 132.
  7. Vgl. ebd., S. 32.
  8. a b c d Piaget, Jean, Abriß der genetischen Epistemologie, S. 129.
  9. Auf Grund einer Unterscheidung, die Piaget 1966 trifft, schlägt Furth vor, das französische schéme mit Schema und Plan wiederzugeben; das erste bezeichnet das Ergebnis der Symbolfunktion, das zweite das Ergebnis einer Operation. Vgl. Furth, Hans.G., Intelligenz und Erkennen. Die Grundlagen der genetischen Erkenntnistheorie Piagets, übers. Von Friedhelm Herboth, Frankfurt am Main, 1981, S.151.
  10. Piaget, Jean, Abriß der genetischen Epistemologie, übers. von Fritz Kubli, Einführung von Fritz Kubli, Stuttgart, 1980 (frz. L’Epistémologie génétique, Paris, 1970), S. 86.
  11. Ebd., S. 86.
  12. Ebd., S. 85.
  13. Piaget, J., Gesammelte Werke. Studienausgabe. Einführung von Hans Aebli, Bd.8, Stuttgart, 1991, S. 171.
  14. Ebd., S. 165.
  15. Piaget, J., Gesammelte Werke. Studienausgabe. Einführung von Hans Aebli, Bd.,6, Stuttgart, 1991, S. 37.
  16. Piaget, Jean, Gesammelte Werke. Studienausgabe. Einführung von Hans Aebli, Bd.8, Stuttgart, 1991, S. 173.
  17. Ebd., S. 174.
  18. Jean Piaget: Gesammelte Werke. Studienausgabe. Einführung von Hans Aebli, Bd.8, Stuttgart, 1991, S. 162
  19. Jean Piaget: Gesammelte Werke Band 8, a.a.O., S. 175
  20. a b c Jean Piaget: Gesammelte Werke Band 8, a.a.O., S. 178
  21. Furth, Hans.G., Intelligenz und Erkennen. Die Grundlagen der genetischen Erkenntnistheorie Piagets, übers. Von Friedhelm Herboth, Frankfurt am Main, 1981
  22. Jean Piaget: Gesammelte Werke Band 8, a.a.O., S. 179
  23. Jean Piaget: Gesammelte Werke Band 8, a.a.O., S. 178f
  24. Furth, Hans.G., Intelligenz und Erkennen. Die Grundlagen der genetischen Erkenntnistheorie Piagets, übers. Von Friedhelm Herboth, Frankfurt am Main, 1981, S. 120
  25. Furth, Hans.G., Intelligenz und Erkennen, a.a.O., S. 120
  26. Piaget, J., Biologie und Erkenntnis. Über die Beziehung zwischen organischen Regulationen und kognitiven Prozessen, übers., von Bärbel Erdmann, Frankfurt am Main, 1974 (frz. Biologie et connaissance, Paris,1967). S.214f.
  27. Piaget, J., Nachahmung, Spiel und Traum. Die Entwicklung der Symbolfunktion beim Kinde. Stuttgart 1969 (frz. La formation du symbole chez l’enfant. Imitation, jeu et reve – image et representation. Neuchatel und Paris, 1945) in: Kesselring, T., Entwicklung und Widerspruch. Ein Vergleich zwischen Piagets genetischer Erkenntnistheorie und Hegels Dialektik, erste Auflage, Frankfurt am Main, 1981, S. 161
  28. Kesselring, T., Entwicklung und Widerspruch, a.a.O., S.158ff.
  29. Kesselring, T., Entwicklung und Widerspruch, a.a.O., S. 179ff.
  30. Kesselring, T., Entwicklung und Widerspruch, a.a.O., S. 130ff.
  31. Piaget, J., Abriß der genetischen Epistemologie, Stuttgart 1980, S. 107
  32. Piaget, J., Gesammelte Werke Band 8, a.a.O., S. 50
  33. Piaget, J., Gesammelte Werke Band 8, a.a.O., S. 51
  34. Piaget, J., Gesammelte Werke Band 8, a.a.O., S. 47
  35. Piaget, J., Gesammelte Werke Band 8, a.a.O., S. 46