Der Turm (Tellkamp)
Der Turm ist ein Roman von Uwe Tellkamp, der im Jahr 2008 im Suhrkamp-Verlag erschien. Die Erzählung beschreibt drei verwandte Charaktere aus bildungsbürgerlichen Villenvierteln Dresdens in den letzten sieben Jahren der Deutschen Demokratischen Republik bis zum Mauerfall. Der Roman enthält Aspekte des Gesellschafts- und des Schlüsselromans sowie des Historischen Romans. Er schildert dabei verschiedene Milieus der DDR und deren Zusammenhang wie Jugendbewegung, Bildungswesen, Militär, Gesundheitswesen, den Kreis der Literaturschaffenden sowie Nachbarschaft und Familie.
Handlung

Die Handlung des Romans spielt zwischen dem 4. Dezember 1982 und dem 9. November 1989 in der DDR, vor allem in Dresden. Im Zentrum stehen die bildungsbürgerlichen Bewohner des Villenviertels oberhalb der Elbe in Loschwitz-Weißer Hirsch rund um die Plattleite, im Buch die Turmstraße. Die Handlung, die sich auf fast 1000 Seiten erstreckt und kaleidoskopartig verschiedene Episoden mit Hunderten Figuren aneinanderreiht, wird aus der Sicht von drei Protagonisten dargestellt: des EOS-Schülers und späteren NVA-Unteroffiziers Christian Hoffmann, seines Vaters Richard Hoffmann (er ist Chirurg im Rang eines Oberarztes an der Medizinischen Akademie Dresden) und seines Onkels Meno Rohde, eines studierten Biologen, der als Lektor eines renommierten Verlages tätig ist.
Christian Hoffmann, zu Beginn der Romanhandlung 17 Jahre alt, will Arzt werden. Zu diesem Zweck muss er nicht nur ein exzellentes Abitur ablegen, sondern sich im Sinne des Sozialismus gesellschaftlich engagieren. Um seinen Studienplatz zu sichern, ist er de facto gezwungen, seinen Wehrdienst in der Nationalen Volksarmee durch Freiwilligen Wehrdienst auf drei Jahre zu verlängern. Einerseits empfindet er eine innere Distanz zum System der DDR (wie die meisten Angehörigen seines Milieus), andererseits aber will er nicht auffallen. Trotzdem neigt er zu „Dummheiten“. Bei einem Wehrkundelager wird bei ihm ein Roman aus der NS-Zeit gefunden, und er wird fast relegiert; während seiner NVA-Zeit macht er sich durch Äußerungen seinen Vorgesetzten gegenüber nach dem Unfalltod eines Kameraden strafbar, was ihm einen Aufenthalt im NVA-Militärgefängnis Schwedt Zwangsarbeit und eine Dienstverlängerung von zwei Jahren einbringt. Dennoch gelingt es Christian, der bei der NVA zunächst als „Muttersöhnchen“ gegolten hat, zum unauffälligen „Nemo“ („Niemand“) zu werden. Als er am 3. Oktober 1989 einen Polizeieinsatz unterstützen soll, bei dem seine Mutter verprügelt wird, verweigert er sich dem System, wird aber nur mit Urlaub „bestraft“.
Richard Hoffmann, Christians Vater, ist im Beruf erfolgreich. Am Beginn der Handlung feiert er seinen 50. Geburtstag und erhält dabei von den Gratulanten, d.h. seiner Familie und seinen Kollegen, Geschenke, die in der Mangelwirtschaft der DDR schwer erhältlich sind. Zum Verhängnis wird ihm später eine vor Jahrzehnten begangene Jugendsünde, die Denunziation seines Freundes Manfred Weniger beim Ministerium für Staatssicherheit. Diese macht ihn ebenso erpressbar wie seine Affäre mit Josta Fischer, einer Sekretärin in Richards Krankenhaus. Eine weitere Affäre mit Christians Freundin Reina zerrüttet seine Beziehung nicht nur zu seiner Frau Anne, sondern letztlich auch zu Christian. Von Manfred Weniger geschnitten und durch die prekärer werdende Versorgungslage in der DDR zermürbt, verfällt Richard Hoffmann in Depressionen, während seine Frau in der Oppositionsszene aktiv wird.
Meno Rohde, Sohn aus „rotem Adel“, d.h. von Kommunisten, die während der NS-Zeit in Moskau geschult wurden, und Bruder von Richard Hoffmanns Ehefrau Anne, arbeitet als Lektor: Einerseits muss er die Vorgaben der Kulturbürokratie beachten, andererseits steht er menschlich den Autoren nahe, die von der Zensur drangsaliert werden. Aus seiner Sicht wird der Kulturbetrieb der DDR genau beschrieben. Dass die Flucht in eine Nischengesellschaft keine Lösung ist, erkennt Meno genau; allerdings vermeidet auch er es, „Farbe zu bekennen“.
In Der Turm wird das bildungsbürgerliche Milieu, dem auch Uwe Tellkamp entstammt, genau und durchaus selbstkritisch beschrieben. Das Bürgertum werde durch die „süße Krankheit Gestern“ vergiftet, erkennt nicht nur Meno Rohde, sondern auch Hans Hoffmann, Toxikologe und Christians Onkel. Die Zeit scheint stillzustehen, wie bei einer „Schallplatte mit Sprung“ (Christians Wahrnehmung), obwohl alles auf die Wende am 9. November 1989 zuläuft.
Der „Bürgerliche Realismus“ der ersten Romanhälfte geht in der zweiten Hälfte in eine Art „Sozialistischen Realismus“ (allerdings ohne kommunistische Tendenz) über: Die Unzulänglichkeiten in der Produktion, in der Infrastruktur (Versorgung, Verkehr und Gesundheitswesen) und in der NVA rücken hier in den Vordergrund. Allerdings werden realistische Szenen oft durch märchenhaft-surrealistische Episoden abgelöst (z.B. die nächtliche Proust-Lektüre als „Zwangsarbeit“ für NVA-Arrestanten).
Interpretationen
Bedeutung des Titels
In einem Interview mit Volker Hage[1] beantwortet Uwe Tellkamp die Frage nach der Bedeutung des Romantitels: „Turm ist zunächst einmal die Bezeichnung für das Stadtviertel, in dem der Roman spielt. Dann ist an den Elfenbeinturm gedacht, auch an die ‚Turmgesellschaft‘ natürlich. Aber man kann ebenso an den Babylonischen Turm denken, der einstürzt, an die Sprachverwirrung, die am Ende der DDR vorherrschte, die Kakophonie.“
Einige Interpreten sehen einen Zusammenhang zwischen dem Nomen „Turm“ und dem Verb „türmen“: Das im Roman beschriebene Bildungsbürgertum versuche in eine Art „innere Emigration“ hinein- und damit aus der Realität der DDR-Gesellschaft herauszufliehen, was aber nicht gelingen könne, da schließlich jeder zumindest „einkaufen“ müsse.[2]
Entschlüsselung des Schlüsselromans
Nach Ansicht von Andreas Platthaus[3], Sabine Franke[4] und Beatrix Langner[5] handelt es sich bei Tellkamps Roman Der Turm um einen Schlüsselroman. Die drei Journalisten entschlüsseln die Namen einiger Romanfiguren, und zwar sei:
- Georg Altberg („der Alte vom Berge“) = Franz Fühmann
- Baron Arbogast = Manfred von Ardenne
- Bezirkssekretär Barsano = Hans Modrow
- Eduard Eschschloraque = eine Mischung aus Peter Hacks und Stephan Hermlin
- David Groth = Stefan Heym
- Jochen Londoner = Jürgen Kuczynski
- Philipp Londoner = Thomas Kuczynski
- Karlfriede Sinner-Priest = Carola Gärtner-Scholle
- Rechtsanwalt Sperber = Wolfgang Vogel
Mit der Beschreibung des wichtigen westdeutschen Kritikers Wiktor Hart ist ganz offensichtlich Marcel Reich-Ranicki gemeint, denn Wiktor Hart war sein Autoren-Pseudonym im Warschauer Ghetto. Auch endet der Abschnitt, die Schlussformel des Literarischen Quartetts abwandelnd, mit den Worten „Er hilft uns wirtschaften, wenn er lobt, er hilft uns wirtschaften, wenn er verreißt, wir sehen betroffen diese Frage offen, wenn er schweigt.“[6]
Dem Anwalt Joffe, der in Buch 1, Kapitel 34 (Die Askanische Insel) auftritt, liegt augenscheinlich der (Ost-)Berliner Anwalt Dr. Friedrich Wolff zugrunde. Im Roman moderiert Joffe die Fernsehsendung "Paragraph". Wolff war tatsächlich Moderator der DDR-Fernsehsendung "Alles was recht ist". Im Schriftlogo dieser Sendung verschmolzen die "S" von "Alles" und "was" zu einem auffälligen Paragraphen. Joffe ist zudem ein Nachname jüdischer Herkunft, womit Tellkamp ebenfalls einen Hinweis auf Wolff gibt, dessen Vater Jude war. Im Zusammenhang mit Joffe wird auch ein Hinweis auf die Verbindung zwischen dem literarischen Anwalt Sperber und dem realen Anwalt Vogel gegeben, wenn Joffe Meno Rohde die "Fernwärmeleitungen" (wohl ein Bild für die DM-Zahlungen aus der Bundesrepublik an Vogel) erläutert: "Sie haben die Rohre gesehen. Nun, das sind Fernwärmeleitungen. Sie lecken ein wenig, es weicht Wärme ab, das ist alles. Im Winter haben wir hier schneefrei - und deswegen auch manch seltenen Vogel zu Gast." [7]
Mit der Schriftstellerin Judith Schevola könnte Angela Krauß gemeint sein.
Nach der Logik dieser „Entschlüsselungen“ müsste Christian Hoffmann Uwe Tellkamps Alter Ego sein. Tatsächlich haben die Biographien beider Männer viele Berührungspunkte. Christian Hoffmann ist drei Jahre vor Uwe Tellkamp geboren; durch das Geburtsjahr 1965 kann Christians Dienstzeit bei der NVA trotz der Verlängerung im November 1989 enden. Vom Geburtsjahrgang her wäre Fabian Hoffmann, Christians Cousin, oder Christians Bruder Robert eher geeignet, als Tellkamps Alter Ego zu fungieren. Dass er selbst in Schwedt arrestiert gewesen sei, behauptet Tellkamp nicht. Erfahrungen des bei Drucklegung des Romans fast 40 Jahre alten Autors Tellkamp sind nicht nur in die Darstellungen Christian Hoffmanns, sondern auch in die seines Vaters Richard (Tellkamp war bis 2004 als Arzt tätig) und Meno Rohdes eingeflossen (nur ein reifer Mann, der den Literaturbetrieb von innen her kennt, kann diesen so kenntnisreich beschreiben, wie das im Roman geschieht). Uwe Tellkamp soll gesagt haben, er könne „allen Lesern, die behaupten, ich erzählte nur autobiographisch und Christian wäre mein Alter Ego, antworten: Wieso? Da habt ihr doch den Namen Tellkamp im Buch. Und der hat mit den Hoffmanns gar nichts zu tun.“[8] Tatsächlich findet sich im Roman anlässlich eines Stromausfalls in der Klinik Richard Hoffmanns die Bemerkung „...Tellkamp ist informiert...“.
Entschlüsselt werden nicht nur Figuren des Romans, sondern auch Handlungsorte:[9] Das „Tausendaugenhaus“ beispielsweise liege an der Hietzigstraße; der Zaun, der auf dem Cover des Romans abgebildet sei, gehöre zu dieser Villa. Vorbild für das Haus „Karavelle“ sei die Jugendstilvilla, in der Uwe Tellkamp aufgewachsen sei.
Generell trügt der Eindruck, man brauche nur Namen von Personen und Orten, die in dem Roman vorkommen, zu entschlüsseln und erhalte dadurch zuverlässige Informationen über die Realität der Jahre 1982–1989: Auf der nicht eingenordeten Landkarte, die auf den Innenseiten des Buchumschlags abgedruckt ist, ist die Semperoper mitten in die Elbe hineinplatziert worden, und Standseilbahn und Bergschwebebahn, in Wirklichkeit weniger als einen Kilometer voneinander entfernt, sollen demnach angeblich im Südwesten und im Nordosten Dresdens liegen. Weitere Veränderungen weist Andreas Platthaus nach.[8] Es zeigt sich also, dass Tellkamps „innere Wirklichkeit“ nicht mit der Topografie des realen Dresden identisch ist.
Literarische und künstlerische Vorbilder
Die folgenden Autoren und Musiker sollen nach Angaben von Interpreten die inhaltliche und formale Gestaltung des Romans beeinflusst haben:
- Johann Wolfgang Goethe: Die Vorstellung von einem Bildungsroman (ausgeführt in Wilhelm Meisters Lehrjahre) bildet die Grundlage für das Gesamtkonzept des Romans. In demselben Werk Goethes kommt eine „Turmgesellschaft“ vor. Der Begriff „pädagogische Provinz“ (Überschrift für den ersten Block in Tellkamps Roman) stammt aus Wilhelm Meisters Wanderjahre.
- E.T.A. Hoffmann: Das „Märchen aus der neuen Zeit“ mit dem Titel Der goldne Topf beginnt mit einer exakten, „realistischen“ Beschreibung Dresdens um 1800; die Handlung endet in der märchenhaften Welt von Atlantis. In seinem Roman ahmt Tellkamp das Spiel des Romantikers Hoffmann (zugleich der Familienname des Haupt-Clans in dem Roman!) mit dem Leser nach, den er ebenfalls oft im Unklaren darüber lässt, ob eine Begebenheit frei erfunden ist oder eine Grundlage in der Realität hat. In Tellkamps Roman wird in einer Episode die Aufführung einer dramatisierten Fassung des Goldnen Topfes im Dresden der 1980er Jahre erwähnt. Im Mai 1989 wurde in Dresden die Oper "Der Goldene Topf" von Eckehard Mayer uraufgeführt, Libretto von Ingo Zimmermann nach E.T.A. Hoffmann. Die gesamte DDR kommt Uwe Tellkamp im Nachhinein wie das Fürstentum vor, in dem der Fürst Paphnutius herrscht (in Klein Zaches, genannt Zinnober von E.T.A. Hoffmann).[10] Ingo Schulze bezeichnet E.T.A. Hoffmann in seinem Essay „Nachtgedanken“[11] als Begründer des „Mythos Dresden“. Wie stark Uwe Tellkamp dem Vorbild E.T.A. Hoffmann verpflichtet ist, wird in Tellkamps Essay Die deutsche Frage der Literatur[10] deutlich: „Vater aller besseren Literatur über das Problem [DDR] ist, meiner Ansicht nach, E.T.A. Hoffmann, bei dem die (Alb-)Träume in die Wirklichkeit wucherten. Je ferner dies Ländchen im Maelstrom aus Zeit und Geschichte sinkt, desto mehr wird es, glaube ich, Züge eines Turmbaus in Atlantis annehmen.“
- Wilhelm Hauff: Wie in dem Märchen Kalif Storch „verwandeln“ sich die Bewohner des Turmstraßenviertels bei dessen Betreten („mutabor“): Aus pflichtbewussten Bürgern der DDR werden Bildungsbürger, die aus der Gegenwart herausgefallen zu sein scheinen.
- Richard Wagner: Die „Ouvertüre“ des Romans ist der einer Wagner-Oper nachempfunden. Niklas Tietze legt regelmäßig Wagners Oper Tannhäuser auf. Tellkamp hat sich einmal als „Librettist Wagners“ bezeichnet.[12]
- Jules Verne: Die Hauptfigur in Jules Vernes Roman 20.000 Meilen unter dem Meer ist Kapitän Nemo. „Nemo“ ist der Spitzname Christian Hoffmanns in der zweiten Hälfte seiner NVA-Zeit. Auch Christians Onkel Meno wird von der betrunkenen Frau Honich „Nemo“ genannt[13]. Eine von Christians größten Krisen besteht darin, dass er es als Panzerkommandant nicht schafft, bei einem nächtlichen Manöver den Panzer wie ein U-Boot heil durch die Elbe zu fahren. Uwe Tellkamp bekennt, dass Jules Verne zu den Lieblingsautoren seiner Jugendzeit gehört habe.[14]
- Thomas Mann: Oft wird Der Turm mit Manns Roman Die Buddenbrooks verglichen, der ebenfalls eine ausführliche Familiengeschichte enthält. Christian Hoffmann empfindet sich während seiner Schulzeit als Geistesverwandter Tonio Krögers. Die Abschottung der Akademiker im Turmstraßenviertel auf den Bergen oberhalb der Elbe wird oft mit der Situation der Menschen auf Thomas Manns Zauberberg verglichen. Wie in Wälsungenblut wird von den „Türmern“ Hausmusik praktiziert, und der Protagonist spielt in beiden Werken Cello.
- Hugo von Hofmannsthal, Richard Strauss: Christian hat das Gefühl, dass im Turmstraßenviertel noch die „Marschallin“ aus der Oper Der Rosenkavalier lebe. Das entspricht einem doppelten Anachronismus: Anfang des 20. Jahrhunderts versuchte Hofmannsthal, das Wien des 18. Jahrhunderts in seiner Oper lebendig werden zu lassen, und diese Oper wird in der Endphase der DDR-Zeit „vergegenwärtigt“.
- Marcel Proust: Das Motiv der Suche nach der verlorenen Zeit durchzieht Tellkamps Roman. In einer Episode müssen die Angehörigen des Strafbataillons der NVA in einer Nachtschicht Prousts Mammutwerk lesen.
- Heimito von Doderer: Wie in dem Roman Dämonen gibt es auch bei Tellkamp einen „Countdown“: Ist es bei Doderer der 15. Juni 1927 (der Tag, an dem der Wiener Justizpalast brannte), so endet Tellkamps Roman am 9. November 1989, dem Tag des Mauerfalls.
- Hermann Hesse: Die Gesellschaft auf Tellkamps „Zauberberg“ gleicht Glasperlenspielern in Hesses gleichnamigem Roman.
- Günter Grass: Der gesamte Roman stellt eine Auseinandersetzung mit der in dem Roman Ein weites Feld (1995) geäußerten These dar, die DDR sei eine „kommode Diktatur“ gewesen. Mit seinen Figuren geht Tellkamp ähnlich wie Grass um: Er verwendet sie in den verschiedensten Werken wieder. In einem Interview mit der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“[15] vergleicht Tellkamp ausdrücklich die Wirkung seines Romanes auf die deutsche Öffentlichkeit mit der des Romans Die Blechtrommel von Günter Grass ab 1959.
- Durs Grünbein: Der ebenfalls in Dresden geborene Lyriker prägte den Begriff „Musennest“: „Dresden: aus diesem Musennest kommt der beleidigte Schönheitssinn, die frühkindliche Trauer.“[16]
Der Roman im Kontext von Tellkamps Gesamtwerk
Die Erzählung Der Schlaf in den Uhren und der Roman Der Turm
Die Erzählung Der Schlaf in den Uhren, die bereits 2004 veröffentlicht wurde und mit deren Vortrag Uwe Tellkamp den Ingeborg-Bachmann-Preis gewann, weist eine Vielzahl von Gemeinsamkeiten mit dem Roman Der Turm auf.
Fabian und Muriel sind offenbar dieselben Personen wie das Zwillingspaar Fabian und Muriel Hoffmann in Der Turm; auch die beiden anderen „Stimmen“ der Erzählung, Arno und Lucie Krausewitz, kommen in dem Roman vor. „Niklas Buchmeister“, der Bücher- und Schallplattenfreund, ist offenbar mit Niklas Tietze in Der Turm identisch. In einer frühen Fassung des ersten Kapitels des Romans ist noch der Name „Buchmeister“ zu lesen[17], wo in der Endfassung „Tietze“ steht.
Der Titel Der Turm. Der Schlaf in den Uhren für die Landkarte, die sich auf der inneren Umschlagseite des Romans Der Turm befindet, deutet darauf hin, dass der Stoff des Romans Der Turm durch einen zweiten Roman ergänzt werden soll. Hierfür spricht auch Tellkamps Äußerung in einem Interview mit dem „Spiegel“, wonach Der Turm „Teil eines größeren Romanprojekts“ sei.[18] Beatrix Langner bezeichnet den „Romanauszug“ genannten Text als „eine Vorstufe“ des Romans „Der Turm“[5].
Schwarzgelb als MDR-Beitrag und als Kapitel in Der Turm
Zum 800. Geburtstag der Stadt Dresden schrieb Uwe Tellkamp einen Text mit dem Titel schwarzgelb[19] Eine überarbeitete Fassung dieses Beitrags (wichtigster Unterschied: die Schwester an der Hand des Vaters ist nicht Muriel, sondern Anne) findet sich als gleichnamiges Kapitel in dem Roman. Die Verwendung des Namens „Muriel“ in der Erstfassung ist ein Hinweis darauf, dass die Szene ursprünglich in den geplanten Roman Der Schlaf in den Uhren eingebaut werden sollte.
Rezeption
Bis zum März 2009 wurden 450.000 Exemplare des Romans verkauft.[20]
Im Dresdner Stadtteil „Weißer Hirsch“ hat die Zahl der Touristen-Führungen nach der Veröffentlichung des Romans Der Turm stark zugenommen. Gästeführer tragen dabei lange Listen mit sich, mit deren Hilfe sie jedem Haus im Roman mit Seitenzahl ein echtes Gebäude mit Straßennamen und Hausnummer zuordnen können.[9]
Preise
Tellkamp erhielt für den Roman noch vor seinem offiziellen Erscheinen den Uwe-Johnson-Preis. Im Oktober 2008 wurde der Roman mit dem Deutschen Buchpreis ausgezeichnet. 2009 wurde Uwe Tellkamp mit dem Deutschen Nationalpreis ausgezeichnet.
Am 6. Dezember 2009 wurde Tellkamp für den Roman mit dem Literaturpreis der Konrad-Adenauer-Stiftung ausgezeichnet.
Begründungen für die Preisverleihungen
Der „Nordkurier“ in Neubrandenburg verlieh Uwe Tellkamp gemeinsam mit der „Mecklenburgischen Literaturgesellschaft“ den Uwe-Johnson-Preis 2008 mit der Begründung, der Roman entfalte ein „facettenreiches, in den Lebensläufen zahlreicher Figuren gebrochenes Panorama der letzten sieben Jahre der DDR“.[21]
„Uwe Tellkamps großer Vorwenderoman ,Der Turm’ entwirft in einer Fülle von Szenen, Bildern und Sprachformen das Panorama einer Gesellschaft, die ihrem Ende entgegentaumelt. Am Beispiel einer bürgerlichen Dresdner Familie erzählt er von Anpassung und Widerstand in einem ausgelaugten System. Der Roman spielt in den verschiedensten Milieus, unter Schülern, Ärzten, Literaten und Politkadern. Uwe Tellkamp schickt seinen rebellischen Helden Christian Hoffmann auf eine Höllenfahrt, aus seiner Enklave in den Militärdienst bis zum Strafvollzug der NVA. Den Lesern erschließen sich wie nie zuvor Aromen, Redeweisen und Mentalitäten der späten DDR. Unaufhaltsam treibt das Geschehen auf den 9. November zu“, lautet die Begründung der Jury-Mitglieder für die Verleihung des „Deutschen Buchpreises“ 2008 an Uwe Tellkamp.[22]
Bernhard Vogel, Vorsitzender der Konrad-Adenauer-Stiftung begründete die Auswahl Uwe Tellkamps als Preisträger des Literaturpreises der KAS 2009 mit der „außergewöhnliche[n] epische[n] und ästhetische[n] Qualität“ seines Buches „Der Turm“ und damit, dass sich der Roman gegen „ethische Indifferenz und politische Ostalgie“ stelle und für die „Freiheit und Würde des Menschen“ stehe.[23]
Literatur
Textausgaben
- Uwe Tellkamp: Vorabdruck des Kapitels Auffahrt. In: Lose Blätter, Heft 32/2005, S. 933-939; www.lose-blaetter.de
- Uwe Tellkamp: Der Turm. Geschichte aus einem versunkenen Land. Roman. Suhrkamp. Frankfurt am Main 2008. ISBN 3-518-42020-8
Sekundärliteratur
- Detlev Schöttker (Hrsg.): Dresden. Eine literarische Einladung. Wagenbach. Berlin 2006. ISBN 3-8031-1239-7
- Elmar Krekeler: Bei Uwe Tellkamp ticken die Uhren der DDR noch. In: Die Welt. 13. September 2008. [2]
- Helmut Böttiger: Weißer Hirsch, schwarzer Schimmel. In: Die Zeit. 18. September 2008. [3]
- Andreas Platthaus: Die Zeit ist des Teufels. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung. 20. September 2008. [4]
- Martin Ebel: Am Ende steht ein Doppelpunkt. Deutschlandradio. 21. September 2008. [5]
- Beatrix Langner: Utopia, zeitgeschwärzt. Erzählte Geschichte in Uwe Tellkamps Turmgesellschaft. Neue Zürcher Zeitung. 11. Oktober 2008. [6]
- Sabine Franke: Im Dresdner Musennest. In: Frankfurter Rundschau. 25. September 2008. [7]
- Wolfgang Harms: Turm mit Baumängeln. Tellkamps Epos vom Niedergang der DDR. Sächsische Zeitung. 13. Oktober 2008 [8]
- Karin Großmann: Als die Uhren stehen blieben. Sächsische Zeitung. 14. Oktober 2008. [9]
- Matthias Richter: Der Turm. Geschichte aus einem versunkenen Land. NDR. 14. Oktober 2008. [10]
- Martin Jankowski: Urst gut: Tellkamps Turm. Die Berliner Literaturkritik. Ausgabe 6/2008 (November/Dezember 2008). S.4ff. [11]
Weblinks
- Uwe Tellkamp: Kunst muss zu weit gehen. Dankesrede zur Verleihung des Uwe-Johnson-Preises, gehalten am 26. September 2008
- Buchpreisträger Tellkamp im Interview: Es ist nicht nur mein Preis. 14. Oktober 2008. Video (3:38 Minuten)
- Mit Uwe Tellkamp im Turm – Interpretation des Werks durch den Autor. Video (7 Minuten)
Einzelnachweise
- ↑ Am Ende herrschte Sprachverwirrung. „Spiegel online“ 17. Oktober 2008. http://www.spiegel.de/kultur/literatur/0,1518,584785,00.html
- ↑ Martin Ebel: Am Ende steht ein Doppelpunkt 21. September 2008. http://www.dradio.de/dlf/sendungen/buechermarkt/849296/
- ↑ Andreas Platthaus: Die Zeit ist des Teufels. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung. 20. September 2008. http://www.faz.net/s/Rub4A285C3CD96B4BD4B33430B85E00A3D4/Doc~E2EA05844A51F4E23AEB0B369D8E55588~ATpl~Ecommon~Scontent.html
- ↑ Sabine Franke: Im Dresdner Musennest. In: Frankfurter Rundschau. 25. September 2008. http://www.fr-online.de/in_und_ausland/kultur_und_medien/literatur/1601186_Im-Dresdner-Musennest.html
- ↑ a b Beatrix Langner: Utopia, zeitgeschwärzt. Erzählte Geschichte in Uwe Tellkamps Turmgesellschaft. In: Neue Zürcher Zeitung. 11. Oktober 2008.
- ↑ Tellkamp: Der Turm, S. 473
- ↑ Tellkamp: Der Turm, S. 469
- ↑ a b Andreas Platthaus: Zeitverschiebung: Uwe Tellkamps Dresden. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 6. Oktober 2008.
- ↑ a b Führungen durchs Dresdner Villenviertel sehr beliebt. Uwe Tellkamp plant Fortsetzung zu «Der Turm» PR-inside.com 22. Juni 2009
- ↑ a b Uwe Tellkamp: Die deutsche Frage der Literatur: Was war die DDR?. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung. 16. August 2007.
- ↑ http://www.ingoschulze.com/texte/nacht.html
- ↑ So eine Spirale willst du auch einmal schreiben. Ein Gespräch mit Uwe Tellkamp von Michael Braun. Frankfurter Rundschau. 7. Juli 2004. http://www.lyrikwelt.de/hintergrund/tellkamp-gespraech-h.htm
- ↑ Tellkamp: Der Turm, S. 925
- ↑ Uwe Tellkamp: Abenteuer in Digedanien. In: Märkische Allgemeine vom 14. Mai 2005
- ↑ Buchpreisträger Tellkamp im Interview: Es ist nicht nur mein Preis. 14. Oktober 2008. [1]
- ↑ Durs Grünbein: Das erste Jahr. Berliner Aufzeichnungen. Suhrkamp. Frankfurt am Main. 2001. S.88
- ↑ Uwe Tellkamp: Vorabdruck des Kapitels Auffahrt. In: Lose Blätter, Heft 32/2005, S. 933-939, hier: S. 936; http://www.lose-blaetter.de/pdf/Heft32.pdf
- ↑ Am Ende herrschte Sprachverwirrung. Spiegel online. 17. Oktober 2008. http://www.spiegel.de/kultur/literatur/0,1518,584785,00.html
- ↑ schwarzgelb. Beitrag zum 800. Geburtstag der Stadt Dresden, gesendet von MDR Figaro am 31. März 2006 http://www.mdr.de/mdr-figaro/literatur/2593200-hintergrund-2373754.html
- ↑ Uwe Tellkamp »Der Turm«. In SUPERillu vom 8. März 2009
- ↑ Uwe-Johnson-Preis an Uwe Tellkamp. In: Ruhr-Nachrichten vom 21. Juni 2008. http://www.ruhrnachrichten.de/nachrichten/kultur/buch/art601,312754
- ↑ Börsenverein des Deutschen Buchhandels: Uwe Tellkamp erhält den Deutschen Buchpreis 2008 für seinen Roman „Der Turm“ http://www.boersenverein.de/de/177061?meldungs_id=282085
- ↑ Uwe Tellkamp erhält Literaturpreis der Konrad-Adenauer-Stiftung. In: Freie Presse vom 28. Januar 2009 http://www.freiepresse.de/NACHRICHTEN/KULTUR/1441639.html