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Sozialdarwinismus

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Unter Sozialdarwinismus versteht man eine heute wissenschaftlich diskreditierte gesellschaftswissenschaftliche Theorie, welche die durch den britischen Naturforscher Charles Darwin bekanntgewordene Evolutionstheorie aus der Biologie auf gesellschaftliche, wirtschaftliche und politische Phänomene überträgt. Sie trägt allerdings größtenteils lamarcksche und nicht darwinistische Züge, weswegen die Bezeichnung heute als irreführend angesehen wird.

Ihre Grundthesen waren auch bereits vor Erscheinen von Darwins bahnbrechenden Arbeiten im Umlauf. Sie erhielten durch ein Missverstehen seines Werks jedoch erstmals eine scheinbar seriöse wissenschaftliche Legitimation. Darwin selbst hatte durch gelegentliche unpräzise Formulierungen in seinen Werken allerdings manchen Missverständnissen Vorschub geleistet.

Einer der frühen Vertreter des Sozialdarwinismus war der britische Philosoph und Soziologe Herbert Spencer. Er ging davon aus, dass menschliche Gesellschaften wie (nach damaligem Glauben) biologische Arten einem Entwicklungsprozess unterliegen, in dem Erfolg und Überleben der Stärksten einer Generation - der von ihm geprägte Begriff war "survival of the fittest" - zur permanenten Verbesserung der Gruppe führt. Der Begriff des Stärksten konnte hier sowohl im direkten Sinne als auch metaphorisch zum Beispiel im Sinne kultureller Überlegenheit verstanden sein.

Obgleich Darwin der Arbeit Spencers wie dem Begriff "survival of the fittest" nicht öffentlich widersprach, ergeben sich zwischen seiner und Spencers Auffassung deutliche inhaltliche Differenzen: Während Darwin in revolutionärer Weise auf den von ihm vorgeschlagenen Mechanismus der natürlichen Selektion zurückgriff, dachte Spencer in älteren, lamarckschen Kategorien, die mit einer zielgerichteten, teleologischen Naturauffassung einher gingen. Letztlich lassen sich seine Vorstellungen auf die "Great Chain of Being" zurückführen, eine große Kette von Lebewesen, die zwischen den "niedrigsten" zu den "höchsten" Lebensformen bestehen sollte, aber nicht evolutionär, sondern idealistisch gedacht war.

Beide, Spencer und Darwin, griffen zudem auf die Bevölkerungslehre von Thomas Robert Malthus zurück, nach der ein potentiell exponentielles Wachstum von (menschlichen) Populationen zusammen mit der Begrenztheit an Ressourcen einen "Kampf um das Dasein" (englisch: Struggle for Life) notwendig macht; Darwin nutzte Malthus' Modell allerdings nur als Sprungbrett für seine eigenen, biologisch motivierten und untermauerten Schlussfolgerungen.

Die Gesellschaftstheorie des Sozialdarwinismus und die biologische des Darwinismus stehen in keiner besonders engen Beziehung zueinander, da sie sowohl bezüglich der Evolutionsmechanismen als auch hinsichtlich der Frage der Zielgerichtetheit entschieden differieren. Abgesehen davon wurden von rassisch motivierten Sozialdarwinisten die anderen Bestandteile der durch Darwin respektabel gemachten Evolutionstheorie, insbesondere die Abstammungslehre, abgelehnt oder gar nicht erst reflektiert, so etwa bei Ludwig Gumplovicz.

Wirkung

Die Theorie wurde vor allem im angelsächsischen Raum und insbesondere in den USA auf ökonomischer Ebene zur Rechtfertigung des uneingeschränkten Kapitalismus herangezogen: Die Klasseneinteilung der Gesellschaften des Industriezeitalters konnte dadurch als notwendiger Bestandteil eines natürlichen Entwicklungsvorganges angesehen werden, staatliche Maßnahmen zur Elendsminderung wurden folglich als künstlicher Eingriff in die natürlich gewachsene Ordnung abgelehnt. Als Grundlage dieser Anschauung diente eine als selbstverständlich angenommene streng kausale Beziehung zwischen wirtschaftlichem Erfolg und als angeboren angenommenen Eigenschaften wie Fleiß, Intelligenz und anderen Charaktermerkmalen. Im engeren Sinne bezieht sich der Begriff Sozialdarwinismus auf diese Form.

Auf gesellschaftlicher Ebene wurde der Sozialdarwinismus zur Rechtfertigung von Imperialismus und Rassismus herangezogen und führte in Deutschland nicht zuletzt durch Vermittlung des einflussreichen deutschen Biologen Ernst Haeckel zu Bestrebungen, geistig Behinderten oder schwer Erbkranken zur Vermeidung der genetischen "Degeneration" das Lebensrecht abzusprechen. Dies führte in der Zeit des Nationalsozialismus schließlich zum Genozid, der massenhaften Ermordung "menschenunwerten Lebens" oder "minderwertiger Rassen" wie der jüdischen Bevölkerung Deutschlands und weiter Teile des restlichen Europas. Die Begründung, soweit eine solche versucht wurde, ruhte auf der als natürlich angesehenen Vormachtstellung einer ethnischen Gruppe über eine andere, die nicht als Folge gesellschaftlicher Umstände, sondern als Folge einer grundsätzlicheren Überlegenheit der mächtigeren Gruppe gedeutet wurde.

Nicht überraschend wurde der Sozialdarwinismus aus sozialistischer Sicht überwiegend abgelehnt; schon seine Theoretiker Karl Marx und Friedrich Engels gingen davon aus, dass sich sozialdarwinistische "Grundlagen" wie etwa die Vorstellungen von Malthus nicht auf die Natur übertragen lassen (Marx an Engels 1862). Sie hielten Darwins Werk stattdessen für die Übertragung ihrer gesellschaftlichen materialistischen und historischen Vorstellungen auf die Natur, mit der Darwin auch die Teleologie "kaputt gemacht" habe (Engels an Marx 1859).

Kritik

Heute gilt der Sozialdarwinismus als diskreditiert. In der Biologie selbst hat sich die Einsicht durchgesetzt, dass evolutionäre Vorgänge nicht von einer Höherentwicklung begleitet werden, ja dass eine objektive Einteilung der Lebensformen in höhere und niedrigere Gruppen unmöglich ist. Genetische Untersuchungen haben die Existenz eines biologisch begründbaren menschlichen Rassenbegriffs, auf dem Rassentheorien und die nationalsozialistische Ideologie vom "Herrenmenschen" beruhten, ad absurdum geführt. Zudem muss der Begriff "survival of the fittest" als irreführend gelten, da nicht Überleben an sich, sondern die Zeugung möglichst vieler überlebens- und fortpflanzungsfähiger Nachkommen Grundlage biologischen Erfolges ist. Dazu zeigt sich, dass sowohl die von Sozialdarwinisten abgelehnte genetische Vielfalt als auch die Existenz altruistischer Verhaltensweisen in der Natur weitverbreitet sind und sich meist positiv auf die evolutionäre Fitness einer Art auswirken.

Schließlich gilt schon die unreflektierte Übernahme einer an der Tier- und Pflanzenwelt orientierten Theorie zur Beschreibung menschlicher Beziehungen als ungerechtfertigt. Von philosophischer Seite aus hat sich darüberhinaus grundsätzlicher Widerstand gegen die Gleichsetzung eines biologischen Ist-Zustandes mit einem moralischem Soll-Zustand erhoben. Der im Rahmen des Biologismus manchmal noch anzutreffende Versuch, aus der Natur Werte für die menschliche Gesellschaft abzuleiten, gilt heute als naturalistischer Fehlschluss ("naturalistic fallacy").

Sozialdarwinistisches Gedankengut wird daher heute mehrheitlich als amoralisch und antisozial angesehen, weil von allen moralischen Kategorien bei der Beurteilung einer Handlung abgesehen und eine Verbesserung sozialer Verhältnisse durch Eingriffe von außen ablehnt wird.

Von Teilen der Gesellschaft wird in der Theorie des Neoliberalismus, die in der zwischenmenschlichen und -staatlichen Konkurrenzsituation einen Schlüssel zu wirtschaftlichem Wachstum sieht, manchmal eine Wiederbelebung des Sozialdarwinismus gesehen. Befürworter des Wirtschaftsliberalismus lehnen diesen Vergleich als polemische Irreführung ab. Auch die Soziobiologie wird in diesen Zusammenhängen diskutiert.