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Literatur

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Dieser Artikel beschäftigt sich mit dem Begriff „Literatur“ und seiner Geschichte. Für die literarischen Gattungen und die Literaturen der verschiedenen Nationen und Sprachen siehe die Linksammlung am Artikelende.

Literature = Learning, Gelehrsamkeit. Titelblatt der englischen Memoirs of Literature (1712)

Literatur, der in erster Linie im sekundären Diskurs über Literatur beheimatete Begriff für den Gegenstand der Literaturdiskussion: Bis in das 18. Jahrhundert, solange die Literaturdiskussion sich als die wissenschaftsinterne Diskussion der „Gelehrsamkeit“ definierte, der Bereich der „Gelehrsamkeit“; seit dem 19. Jahrhundert - seitdem die Literaturdiskussion den Austausch über die sprachliche Überlieferung der Nationen zu ihrem Hauptanliegen machte - regulär als die sprachliche Überlieferung definiert, zu ordnen nach den "Literaturen" einzelner Nationen, Regionen und Sprachen, zu unterteilen nach den zentralen literarischen Gattungen im Wechsel der Epochen. In der neuen Definition der wichtigste Diskussionsgegenstand im Austausch über nationale Kultur. Im Feuilleton, dem breitesten öffentlichen Diskussionsfeld, der Diskussionsgegenstand zwischen der bildenden Kunst, der ernsten Musik sowie dem Film - den Bereichen, die so die Grundannahme, als Kunst tiefere Bedeutung gewinnen; in derselben Fixierung Gegenstand einer spezifischen Interpretationspraxis, einer Diskussion der „literarischen Qualitäten“ der einzelnen Werke sowie ihrer Positionierung in der Literaturgeschichte.

Definition: Der Gegenstand der Literaturbesprechung

Der Prozeß, in dem die Dramen, Romane und Gedichte im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert "Literatur" wurden, muß unter unterschiedlichen Perspektiven gesehen werden. Die „Literatur“ im heutigen Wortsinn wurde in einem breiten Geflecht ineinanderwirkender Interessen gebildet.

Nationale Poesie wird Literatur, wo Gelehrsamkeit Literatur war, 1650-1800

Das Wort „Literatur“ ist primär ein Wort des sekundären Diskurses (es findet sich auf Titelseiten von Literaturzeitschriften, in den Bezeichnungen von Lehrstühlen und universitäten Seminaren, in den Titeln von Literaturgeschichten, in Wortfügungen wie "Literaturpapst", "Literaturkritiker", "Literaturhaus", "Literaturpreis"). Das literarische Rezensionswesen, die Literaturgeschichtsschreibung, etikettieren ihren Besprechungsgegenstand als „Literatur“, und legen im selben Moment effektiv fest, was jeweils „Literatur“ ist. Zwischen 1730 und 1770 wandten sich deutsche literarische Journale bahnbrechend der nationalen der Dichtung zu - im territorial und konfessionell zersplitterten Sprachraum ein überregional und mit größeten Freiheiten besprechbares Thema. Die Gelehrsamkeit (die „res publica literaria“) gewann mit Rezensionen der „belles lettres“, der „schönen Literatur“ ein wachsendes Publikum. Aus dem modischen Ausnahmefall des Rezensionswesens wurde im Verlauf des 18. Jahrhunderts der Regelfall; ausführlicher hierzu das Stichwort Literaturgeschichte.

Zu Beginn des 19. Jahrhunderts mußte im Deutschen das Wort „Literatur“ neu definiert werden. „Literatur“ war, besah man die Praxis der Literaturbesprechung, nicht der Wissenschaftsbetrieb selbst, sondern eine textliche Produktion mit privilegierten Feldern. „Literatur“ wurde in der neuen Definition:

  • Im „weiten Sinn“ der Bereich aller sprachlichen Überlieferung
  • Im „engen Sinn“ der Bereich der Werke, die als künstlerische Leistungen tiefere Bedeutung gewinnen

Nach der neuen Definition war es als gegeben anzunehmen, daß sich die Literatur primär national entwickelte, sprachgebunden in den einzelnen Sprachen, die nur im Ausnahmefall in Übersetzungen voneinander erfuhren. Die Literaturgeschichte wurde als Geschichte der Literaturen das Interessenfeld der von nun an in nationale Disziplinen institutionalisierten Literaturwissenschaft.

Die Definition Literatur als „Gesamt der sprachlichen Überlieferung“ erlaubt es den Wissenschaften, weiterhin in „Literaturverzeichnissen“ ihre eigenen Arbeiten als „Literatur“ zu listen (Fachliteratur). Die Definition im „engen Sinn“ war dagegen gezielt arbiträr und zirkulär angelegt. Es blieb darüber zu streiten, welche Werke als künstlerische Leistungen anzuerkennen wären.

Große Dichtung gegenüber Trivialliteratur: Die Macht der Marktreform, 1680-1800

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Die englische Buchproduktion 1600-1800, Titelzählung nach dem English Short Title Catalogue. Die Statistik zeigt deutlich - eine Besonderheit des englischen Marktes - das Aufkommen der aktuellen politischen Berichterstattung mit der Revolution 1641/42. Die Höhepunkte der Presseaktivität liegen vor 1730 jeweils in politisch turbulenten Jahren. Als Phasen zeichnen sich die Bürgerkriegszeit mit abfallender Produktion, die Zeit der Kriege gegen die Niederlande (1670er) und der Großen Allianz (1689-1712) ab. Mitte des 18. Jahrhunderts setzt ein neues Wachstum mit bald exponentieller Kurve, hinter dem entscheidend der Aufstieg der Belletristik steht.

Der Gegenstand, der im 18. Jahrhundert Literatur wurde, war nur ungefähr vorformuliert. Es gab seit dem 17. Jahrhundert als kleines aber wachsendes Marktsegment die „belles lettres“, das Feld, das im Deutschen heute mit der Belletristik fortbesteht: ein internationales Feld (es gibt keine nationalen „Belletristiken“), und ein Feld ohne kritischen sekundären Diskurs (es gibt keine „Belletristikkritiker“). Zu den „belles lettres“ gehörten alle Publikationen des gehobenen internationalen Geschmacks: Memoires, Reiseberichte, aktuelle Wissenschaft allgemeineren Interesses, Poesie und Historien. Auf dem Gebiet der Historien lag dabei das Gelände des Romans. In der Poesie gab demgegenüber die europäische Oper den Ton an, umringt vom Oratorium, der Kantate und dem Lied. Unter 1.500-3.000 Titeln der jährlichen Gesamtproduktion, die um 1700 in den einzelnen großen Sprachen Französisch, Englisch und Deutsch auf den Markt kam, machten die "belles lettres" pro Jahr 200-500 Titel aus; 20-50 Romane waren etwa dabei, der Rest, das große Gebiet außerhalb der "belles lettres", bot wissenschaftliche Literatur und religiöse Textproduktion von Gebetbüchern bis hoch zu theologischer Fachwissenschaft, sowie, wachsend, politische Auseinandersetzung.

Die Literatur im heutigen Wortsinn wurde von der Gelehrsamkeit gezielt gegenüber den skandalösesten Bereichen des kleinen belletristischen Marktes angeregt - mit größtem Einfluß agierte hier die deutsche Gelehrsamkeit vor ihrem Publikum. Als nationale Alternative einer sich nach Vorgaben der Gelehrsamkeit an Aristoteles bindenden Poesie war die Tragödie in Versen (wie sie angeblich in Frankreich und England zum Ruhm der Nation bestand) das erste Desiderat des neuen Austauschs (der Aufruf zur neuen Produktion erging offiziell mit Johann Christoph Gottscheds Vorrede zum Sterbenden Cato, 1731). Die Rückkehr zur aristotelischen Poetik blieb jedoch ein Desiderat. Mit dem bürgerlichen Trauerspiel eroberte ein neues Drama in Prosa Mitte des 18. Jahrhunderts die Literaturkritik. Der Roman, der mit Samuel Richardsons Pamela or Virtue Rewarded diesem neuen Drama die wichtigsten Vorgaben gemacht hatte, begann im selben Moment die Literaturrezension als Leistung der neuen Poesie zu beschäftigen.

Die neuen Werke, die mit den 1730ern geschaffen wurden, um öffentlich als bessere diskutiert zu werden, verdrängten nicht die bestehende belletristische Produktion - der gesamte Markt der Belletristik wuchs mit dem ihm entgegengebrachten Interesse beginnend mit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts zum Massenmarkt. Die Besprechung suchende Produktion versetzte jedoch die Literaturdiskussion in die Lage, nach Belieben bestimmen zu können, was öffentlicher Beachtung wert sein sollte und was nicht. Jederzeit kann eine mißbräuchliche Benutzung hoher Literatur (der Schlüsselroman war bis 1750 das Medium intimster Angriffe) als skandalöser Mißbrauch des öffentlichen Interesses aus der Literaturdiskussion und damit gleichzeitig aus der öffentlichen Wahrnehmung herausgedrängt werden. Das Ergebnis war eine Ausdifferenzierung des belletristischen Sektors in eine hohe, gesellschaftliche Diskussion suchende und eine breite, sich kommerziell verkaufende undiskutierte Produktion (Trivialliteratur). Die Suche nach Verantwortung zog in die Literaturdebatte ein. Der sekundäre Diskurs löste Pseudonyme auf und nannte die Autoren dezidiert bei ihren bürgerlichen Namen, er diskutierte, welche Stellung die Autoren in der Nationalliteratur gewannen und legte damit das höhere Ziel der Verantwortung fest, und er schuf besondere Diskurse wie die psychologische Interpretation, um selbst das zu erfassen, was der Autor als Aussagen, die ihm unbewußt unterlaufen sein mochten, zu verantworten hatte. Rechtliche Regelungen des Autorstatus und des Urheberschutzes griffen in denselben Prozeß ein.

Geschichten der deutschen Literatur offenbaren die Einschnitte des hier knapp skizzierten Geschehens, sobald man die besprochenen Werke auf der Zeitachse verteilt: Mit den 1730er beginnt eine kontinuierliche und wachsende Produktion deutscher Dichtung. Die zeitgenössische Diskussion schlägt sich in Wellen zu besprechender Werke nieder. Vor 1730 liegt eine Lücke - die Lücke des belletristischen Marktes, den die Gründungsväter der neuen Literaturdebatte als niedrig und unwürdig verabschiedeten. Mit dem „Mittelalter“ der „Renaissance“ und dem „Barock“ schuf die Literaturgeschichte|Literaturgeschichtsschreibung des 18. und 19. Jahrhunderts Einzelblöcke, die der Literatur der Gegenwart nachträglich eine (lückenhafte) Vergangenheit geben.

Frenzels Daten deutscher Dichtung, die wohl populärste deutsche Literaturgeschichte auf die Chronologie der von ihr gelisteten Werke hin befragt (y-Achse = besprochene Werke pro Jahr). Deutlich zeichnet sich mit dem Jahr 1730 das Aufkommen der für die Literaturbesprechung verfaßten poetischen und fiktionalen Literatur ab. Debatte um Debatte schlägt sie sich mit einer neuen Epoche nieder. Vor 1730 bleibt die Vergangenheit, mit der die deutsche Literatur seit den 1730ern ausgestattet wurde, bruchstückhaft.

Die Literatur als zentraler Gegenstand im nationalen Kulturbetrieb, 1770-1970

Der Streit in der Frage „Was ist Literatur?“, der mit dem 19. Jahrhundert aufkam, und der nach wie vor die Literaturwissenschaft beschäftigt, darf nicht als Beweis gesehen werden, daß die Literaturwissenschaft nicht einmal dies zuwege brachte: ihren Forschungsgegenstand klar zu definieren. Die Literaturwissenschaft wurde selbst die Anbieterin dieses Streits. Darüber, was Literatur sein soll und wie man sie adäquat betrachtet, muß tatsächlich gesellschaftsweit gestritten werden, wenn Literatur - Dramen, Romane und Gedichte - im Schulunterricht, in universitären Seminaren, im öffentlichen Kulturleben als Leistung der Nation gewürdigt wird. Jede Interessengruppe, die hier nicht eigene Perspektiven und besondere Diskussionen einklagt, verabschiedet sich aus einer der wichtigsten Debatten der modernen Gesellschaft.

Nach dem Vorbild der Literatur (als dem sprachlich fixierten nationalen Diskursgegenstand) wurden mit der Wende ins 19. Jahrhundert die internationaler verfaßten Felder der bildenden Kunst und der ernsten Musik definiert - Felder, die zu parallelen Marktdifferenzierungen führten: Auch hier entstanden „hohe“ gegenüber niedrigen Gefilden: Die hohen sollten überall dort liegen, wo gesellschaftsweite Beachtung mit Recht eingefordert wird. Der Kitsch und die Unterhaltungsmusik konnten im selben Moment als aller Beachtung unwürdige Produktionen abgetan werden. Die Literaturdebatte muß von allen Gruppen der Gesellschaft als Teil der größeren Debatte über die Kultur und die Kunst der Nation aufmerksam beobachtet werden: Sie nimmt mehr als andere Debatten Themen der Gesellschaft auf und sie gibt Themen an benachbarte Diskussionen weiter.

Dass sie zum Streit Anlaß gibt, ist das Erfolgsgeheimnis der Literaturdefinition des 19. Jahrhunderts: Literatur sollen die Sprachwerke sein, die die Menschheit besonders beschäftigen - das ist zirkulär und arbiträr definiert. Es liegt im selben Moment in der Hand aller, die über Literatur sprechen, festzulegen, was Literatur ist.

Ordnung und Fixierung gewann die Literaturdebatte nicht mit der Begriffsdefinition "Literatur", an der sich der Streit entzündet, sondern mit den Traditionen ihres eigenen Austauschs. Was als Literatur betrachtet werden will, muß sich für einen bestimmten Umgang mit literarischen Werken eignen. Die Literatur entwickelte sich im des 19. Jahrhundert zur säkularen Alternative gegenüber den Texten der Religion, die bislang die großen Debatten der Gesellschaft einforderten. Die Literaturwissenschaft drang mit ihrem Debattengegenstand - Dramen, Romane und Gedichte - in die Lücke, die die Theologie mit der Säkularisation zu Beginn des 19. Jahrhunderts ließ. Dabei bewährten sich bestimmte Gattungen, die "literarischen" besser als andere –

  • Literatur mußte, wollte sie Funktionen religiöser Texte übernehmen, öffentlich inszenierbar sein - das Drama war dies,
  • Literatur mußte intim rezipierbar sein - insbesondere die Lyrik gewann hier Rang als Gegenstand subjektiven Erlebens,
  • Literatur - weltliche Fiktionen und Poesie - mußte tiefere Bedeutung tragen können, wollte sie einen sekundären Diskurses rechtfertigen - daß sie das konnte zeichnete sich seit 1670 ab (seit dem Pierre Daniel Huet als Theologe darauf verwiesen hatte, daß man weltliche Fiktionen und damit den Roman mitsamt der Poesie ganz wie theologische Gleichnisse einer Interpretationspraxis auf der Suche nach "tieferen Bedeutungen" unterwerfen könnte; der Vorschlag blieb bis in die 1770er suspekt als fragwürdige Aufwertung von weltlichen Fiktionen),
  • Literatur mußte einen Streit über ihre Rolle in der Gesellschaft zulassen - das tat die sie, nachdem man Dramen, Romanen und Gedichten schon lange zugestand, daß sie Sitten gefährdeten (oder verbesserten),
  • Literatur mußte sich im Bildungssystem mit ähnlicher Hierarchie des Expertentums behandeln lassen wie Texte der Religion zuvor, wollte sie nicht ganz schnell beliebig zerredet werden - tatsächlich kann das Bildungssystem jedem Kind abverlangen, eine eigene Beziehung zur Literatur seiner Nation zu entwickeln; gleichzeitig bleibt enorme Expertise notwendig, um Literatur "fachgerecht" zu analysieren und zu interpretieren, Fachexpertise, die an universitären Seminaren so exklusiv verteilt wird wie in theologischen Seminaren zuvor.

Gegenüber der theologischen Textproduktion gewann die literarische endlich in dem Maße, in dem sie sich staatlich fördern ließ: Der Aufbau nationaler Philologien, die Einrichtung von Abteilungen in Kultusministerien, die den Schulunterricht planen, die Einrichtung einer eigenen Literaturpolitik mit internationalen, nationalen und städtischen Institutionen verlieh dem Austausch über Literatur institutionelle Fixierung. Das könnte den Schluß nahelegen, die Literatur sei ein von oben geschaffener, nationalstaatlicher Gegenstand. Sie ist ganz im Gegenteil unter den bestehenden Diskussionsgegenständen der erste, der sich pluralistisch definierte. Die Debatte der res publica literaria, die Literaturdebatte des 17. und 18. Jahrhunderts definierte sich als pluralistisch, überkonfessionell und politisch ungebunden - als eine Debatte unter gleichrangigen Teilnehmern, die einander allein im Blick auf erbrachte Leistungen begegnen wollten. Als die Wissenschaften mit dem Eintritt ins 19. Jahrhundert ganz neue Bedeutung gewannen, lag es nahe, daß man ihnen auch als Anbietern großer Diskussionen Vertrauen schenkte.

Als die Wissenschaften ihren ersten Besprechungsgegenstand - ihre eigene Arbeit - zugunsten des neuen - Poesie der Nation - aufgaben, öffneten sie die Literaturdebatte der Gesellschaft. Die Literaturdiskussion agierte fortan gegenüber mindestens drei Teilnehmern: gegenüber dem Publikum, das die Literaturdebatte verfolgt und vieldiskutierte Titel mit Bereitschaft kauft, die Diskussionen fortzusetzen; zweitens gegenüber den Autoren, die nun als die Verfasser von „Primärliteratur“ dem „sekundären Diskurs“ beliebig distanziert gegenübersetehen können (was nicht heißt, daß sie an ihm nicht teilnehmen dürfen). Eigene Organisationsformen kamen unter den Autoren zustande, da sie sich als Schrifststeller behandelt sahen. Im P.E.N.-Club orgnaisierten sie sich international. Zusammenschlüsse in stilbildenden Schulen kamen zuerst. Gruppen formierten sich wie die „Gruppe 47“, Strömungen wie der Naturalismus. Mit Manifesten wie dem surrealistischen konnten Autoren dem sekundären Diskurs Vorgaben machen. Autoren konnten gegen festgefahrene Literaturvorstellungen antreten, gesellschaftsweite Anerkennung einklagen, Literaturpreise annehmen oder wie Jean Paul Sartre den im verliehenen Nobelpreis für Literatur im öffentlchen Affront ausschlagen, Gelder der Literaturförderung beanspruchen, Literatur im "Widerstand" schreiben oder eine Öffentlichkeit aus dem Exil heraus aufbauen. Das alles bedeutete einen gewaltigen Unterschied gegenüber der Poesie- und der Romanproduktion des frühen 18. Jahrhunderts, die sich am ehesten noch in Moden und in intimen Zirkeln artikuliert hatte. Nicht weniger bedeutete es eine Pluralisierung des Austauschs über Literatur, der im 17. Jahrhundert (solange die Literaturdiskussion eine Diskussion wissenschaftlicher Schriften war) unter Kollegen und gegenüber Kollegen geführt worden war. Die Literaturberachtung kann sich von ihrem neuen Gegenstand nach Belieben distanzieren. Hier betrachten Wissenschaftler die Werke von Schriftstellern im Interesse der Öffentlichkeit.

München: der Max-Joseph-Platz, vor der Säkularisation der Platz des Franziskanerkolsters. Nach dessen Abriß neugegliedert: Rechts, düster: das neue Nationaltheater. Im Bildmittelpunkt, mit neuer Front und neuen Herrschaftsräumen: die Residenz (nicht erkennbar hinter den Fenstern des Neuanbaus, die Räume mit den neuen Bildprogrammen: im oberen Stockwerk neben der Antike die neue Deutsche Literatur von Goethe, Schiller und Bürger, unten die neuentdeckte mittelalterliche Literatur mit den großen Fresken zum Nibelungenlied).

Die Literaturkritik vermittelt zwischen Autoren und dem an ihnen interessierten Publikum und gewinnt selbst Dank des dritten Interessenten an ihrem Austausch organisatorische Festigung: Die Nation, der die Nationalliteratur in die Hände spielte, trieb die Institutionalisierung der Literaturwissenschaft voran. Lehrstühle wurden begründet, Forschung finanziert, Literaturwissenschaftler wurden damit beauftragt, Lehrpläne für die Schulen zu erstellen.

Die Literaturwissenschaft und der von ihr ausgebildete freiere Bereich der Literaturkritik in den Medien sind erheblichen Einflußnahmen der Gesellschaft ausgesetzt. Die Gesellschaft klagt neue Debatten ein, fordert neue politische Orientierungen, erzwingt Widerstand oder Anpassung. Es gibt in der Folge eine feministische Literaturwissenschaft wie eine marxistische, oder (scheinbar unpolitischer) eine strukturalistische und so fort. Eine Gleichschaltung der Gesellschaft, wie sie das Dritte Reich durchführte, greift konsequenterweise gezielt zuerst in den Literaturbetrieb ein. Die institutionalisierte Literaturwissenschaft läßt sich sehr schnell gleichsschalten, Lehrpläne werden bereinigt, Literaturpreise unter neuen Richtlinien vergeben. Die Geleichschaltung der Verlagswelt und der Autorenschaft ist die schwierigere Aufgabe der Literaturpolitik, der totalitäre Staaten zur Kontrolle der in ihnen geführten Debatten große Aufmerksamkeit schenken müssen.

Der Verlierer scheint im Kampf um gesellschaftliche Diskussionen die Religion gewesen zu sein. Die Literatur ist gerade an dieser Stelle eine interessant offene Konstruktion. Die Texte der Religion können dort, wo man Literatur diskutiert, jederzeit als die "zentralen Texte der gesamten sprachlichen Überlieferung" eingestuft werden. Aus der Sicht der Literaturwissenschaft liegen die Texte der Religion nicht außerhalb, sondern mitten im kulturellen Leben der Nation. Die Texte der Religion stehen zur Literatur als dem großen Bereich aller textlichen (nach Nationen geordneten) Überlieferung nahezu so ähnlich wie die Religionen selbst zu den Staaten, in denen sie agieren. Es ist dies der tiefere Grund, warum sich das Konzept der Literatur, wie es heute die Literaturwissenschaft beschäftigt, weitgehend ohne auf Widerstand zu stoßen, weltweit ausdehnen ließ.

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Literaturen: Das international fragwürdige Konzept

Die moderne Literaturdebatte folgt vor allem deutschen und französischen Konzepten des 18. und 19. Jahrhunderts. Deutsche Journale wie Lessings Briefe die Neueste Literatur betreffend wandten sich früh dem neuen Gegenstand zu. Sie taten dies gerade im Verweis auf ein nationales Defizit. Mit der französischen Revolution erreichte Frankreich das Interesse an einem säkularen textbasierten Bildungsgegenstand.

Wer sich durch die englische Publizistik des 19. Jahrhunderts liest, wird dagegen feststellen, daß das Wort „Literatur“ hier noch bis Ende des 19. Jahrhunderts synonym für die Gelehrsamkeit stehen konnte. An Themen des nationalen Austauschs fehlte es in Großbritannien nicht - die Politik und die Religion lieferten sie zur freier Teilnahme an allen Diskussionen. Die Nation, die die Kirche im 16. Jahrhundert dem Staatsgefüge einverleibt hatte, fand erst spät eine eigene der kontinentalen Säkularisation gleichkommende Debatte. Die wichtigste Geschichte der englischen Literatur, die im 19. Jahrhundert erschien, Hipployte Taines History of English Literature brachte die neue Wortverwendung als Anstoß von außen ins Spiel und machte verhältnismäßig spät klar, welche Bedeutung England in der neu zu schreibenden Literaturgeschichte selbst gewinnen konnte.

Das Konzept nationaler Literaturen wurde von Europa aus den Nationen der Welt vorgelegt. Es fand am Ende weltweit Akzeptanz. Der Buchmarkt gestaltete sich im selben Geschehen um: aus einem im frühen 18. Jahrhundert marginalen Feld des Buchangebots wurde die zentrale Produktion. Es drohen mit dem Konzept nationaler Literaturen allerdings fragwürdige Wahrnehmungen:

  • Wo von Literaturen gesprochen wird, ist in der Regel nicht geklärt, ob diese sich tatsächlich in den diskutierten Traditionen entwickelten. Die europäischen Literaturgeschichten hebeln gezielt konträre Traditionskonzepte aus: das der Poesie, das des in die Historie eingebetteten Romans, das der Belletristik, als eines Marktes, der sich offensichtlich als europäischer und heute weltweiter entwickelte. Man kann nicht von „nationalen Belletristiken“ sprechen - es fehlt im selben Moment eine Geschichte des größeren Marktes, der sich durchaus nicht in nationalen Linien entwickelte.
  • Wo von Literatur gesprochen wird, wird in der Regel unterstellt, dass sie sich als Feld der Texte tieferer Bedeutung und höherer sprachlicher, „literarischer“, Qualität entwickelte. Wo von Literatur der Zeit vor 1750 gesprochen wird, ist in der Regeln nicht thematisiert, dass die Literaturbegriffe, die dabei als zeitgenössische in Anschlag gebracht werden, genau dies nicht sind. Der in der Germanistik kursierende „Literaturbegriff des Barock“ ist nicht der „Literatur“-begriff des 17. Jahrhunderts, noch dessen „Poesie“-begriff noch irgendein vergleichbares mit einem Wort des 17. Jahrhunderts fassbares Konstrukt. Er entstand im 19. und 20. Jahrhundert in der Interpretation von Tragödien und Romanen des 17. Jahrhunderts als diesen angemessener Literaturbegriff. Wenn man diese Werke ihrerzeit für Literatur erachtet hätte, dann wäre dies der Literaturbegriff der Epoche, so könnte man es formulieren - doch tatsächlich gibt der von uns erzeugte "Literaturbegriff des Barock" heute Einblick in die eigene Begriffswelt des Barock.
  • Funktionen, die in unseren Gesellschaften Literatur einnimmt, nahmen vor 1750 andere Produktionsfelder ein. Literaturgeschichten pflegen dies im Blick auf die Bedeutung der Literatur, allenfalls als historische Anomalie wahrzunehmen. Die Literatur bestand, sie musste sich ihren Platz jedoch erst erobern - das verstellt weitgehend jeden Blick darauf, welche Rolle die Literaturbetrachtung bei der Ausbildung ihres Gegenstands spielte und in jedem Moment spielt, in dem sie Literaturgeschichte setzt.


Tendenzen: Der „Tod der Literatur“? Der „erweiterte Literaturbegriff“?

Datei:Books smoulder in a huge bonfire 1933.jpg
Auch eine Verfolgung von Literatur definiert, was Literatur ist. Bücherverbrennung 1933

Das Konzept nationaler Literaturen blieb nicht unumstritten. Sowohl die Schulen der textimmanenten Interpretation (wie der Strukturalismus), wie die Schulen der gesellschaftsbezogenen Literaturinterpretation (vom Marxismus bis zu den Strömungen Literatursoziologie) forderten in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts einen "weiten" Literaturbegriff ein. Das Konzept "Text" wie das Konzept "Sprache" schien als übergreifendes eine Ausdehnung der Literaturdiskussion auf beliebige Besprechungsgegenstände zu gestatten. In den Schulen gesellschaftsbezogener Literaturbetrachtung lag hier ein Desiderat, politische Texte, Werbung, Alltagstexte - die vielleicht viel mächtigeren und diskutierenswürdigeren Texte, kritisierbar zu machen. Eigenen Anschub erhielt die Auweitung des Literaturbegriffs durch das Aufkommen der Filmrezension, sie entwickelte sich entscheidend innerhalb der Literaturdiskussion. Darüber, wie sich der Besprechungsgegenstand der Literaturdebatte ändert, wird man nur bedingt Voraussagen machen können. Die Literaturdiskussion muß den Anschluß an Debatten der sie umgebenden Gesellschaft wahren, um von ihr gefördert zu werden, sie befindet sich auf der anderen Seite in Konkurrenz zu anderen Diskussionen. Mitunter eweisen sich thematische Übegriffe als interessante Option, da es gilt, fremde Interessenten auf die eigene Diskussion zu ziehen; mitunter ist eine Konzentration auf das Kerngeschäft spannender - dann, wenn die "literarischen Gattungen" gar keine schlechte Position in der gesellschaftlichen Achtung genießen. Diskussionen, die wie die Literaturdiskussion letztlich frei festlegen, was ihr Gegenstand ist, haben ihre eigenen Optionen, um ihr Überleben zu kämpfen. Warnrufe, das Ende der Literatur stehe bevor, ihr Tod, verdienen alles Mißtrauen - sie sind selbst Teil des Spiels mit der Aufmerksamkeit der diesen Austausch als Platform suchenden Gesellschaft.

Literatur

Die Literatur zirkulär-arbiträr definierende Titel

Die Autoren dieser Titel legen ein Corpus der in ihren Augen literarischer Werke fest, und versuchen dann in einer wissenschaftlichen und subjektiven Analyse dieser Werke auszumachen, was alle Literatur auszeichnet

  • René Wellek: Eintrag "Literature and its Cognates", in: Dictionary of the History of Ideas. Studies of Selected Pivotal Ideas, 1-4, ed. Philip P. Wiener (New York, 1973), 3: p.81-89.
  • P. Hernadi, What Is Literature?, (London, 1978). [Sammelband zum Begriff Literatur - enthält unter anderem von René Wellek: "What Is Literature?"]
  • Wolf-Dieter Lange: "Form und Bewusstsein. Zu Genese und Wandlung des literarischen Ausdrucks", in: Meyers kleines Lexikon Literatur (Mannheim, 1986). [Ist ein typischer Aufsatz zum Thema - Lange stellt Titel, die ihm Literatur sind zusammen und erkennt, daß Literatur schon immer besonders ausdrucksstark war (und darum, so seine Mutmaßung, auf den Schrei der ersten Menschen zurückgehe).]

Die Literatur historisch-deskriptiv definierende Untersuchungen

Literatur wird hier als der sich wandelnde Gegenstand der Literaturbesprechung gesehen

  • Roland Barthes: "Histoire ou Litérature?" in R. Barthes, Sur Racine (Paris, 1963), p.155, erstveröffentlicht in Annales, 3 (1960). [ Barthes verwies als erster darauf, daß das Wort "Literatur" noch im Blick auf die Zeit Racines nur "anachronistisch" zu verwenden sei - wurde darauf von René Wellek (1978) heftig angegriffen - das Wort habe es durchaus gegeben, wobei Wellek verschwieg, daß die Titel, die er dazu zitierte, sich nicht mit Literatur in unserem Sinne befaßten. Barthes starb 1980, Welleks Antwort blieb als korrekte Richtigstellung stehen.]
  • Jürgen Fohrmann: Projekt der deutschen Literaturgeschichte. Entstehung und Scheitern einer nationalen Poesiegeschichtsschreibung zwischen Humanismus und Deutschem Kaiserreich (Stuttgart, 1989). [Ist die erste germanistische Arbeit, die den Themenwechsel im Blick auf "Literaturgeschichten" skizzierte, und daran Überlegungen zum Aufbau der Germanistik im 19. Jahrhundert anknüpfte.]
  • Rainer Rosenberg: "Eine verworrene Geschichte. Vorüberlegungen zu einer Biographie des Literaturbegriffs", Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik, 77 (1990), 36-65. [Konstatiert die Bedeutungen der Begriffe "Poesie", "Dichtung", "Belles Lettres", "Schöne Wissenschften", "Schöne Literatur", "Literatur" für verschiedene Zeitpunkte - und beklagt, daß darin kein System erkennbar sei - verfaßt ohne den Denkschritt Fohrmanns, nachdem die Literaturwissenschaft hier Themen adoptierte und ihr altes Thema aufgab, um etwas neues zu besprechen.]
  • Richard Terry: "The Eighteenth-Century Invention of English Literature. A Truism Revisited", Journal for Eigtheenth Century Studies, 19.1 (1996). [Konstatiert einleitend, daß es nun spannend ist, zu erfassen, was all das war, was uns heute "Literatur" ist, und welche Rolle es spielte, bevor man anfing es als "Literatur" zu diskutieren. Gibt Überblick über Titel, die Details des Problems untersuchten.]
  • Olaf Simons: Marteaus Europa oder der Roman, bevor er Literatur wurde (Amsterdam, 2001). Bietet S. 85-94 einen Überblick über die Geschichte des Wortes Literatur und S.115-193 einen genaueren Blick auf die Literaturdebatte 1690-1720; im Zentrum mit der Positionsveränderung des Romanmarkts zwischen dem frühen 18. Jahrhundert und heute befaßt.]

Weiterführende Artikel


Literaturen

Nationen und Sprachen

Regionen, Kontinente

Ethnisch definiert

Universalkonzepte

Siehe auch die Artikel

Gattungen

Weitere Textsorten

Begriffe

Zudem


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