Struwwelpeter
Der Struwwelpeter ist die Titelfigur des gleichnamigen Kinderbuchs des Frankfurter Arztes Heinrich Hoffmann. Es ist das wohl erfolgreichste deutsche Kinderbuch. Das Buch wurde in zahlreiche Sprachen übersetzt.
Entstehung
1844 suchte der Arzt Heinrich Hoffmann nach einem Bilderbuch als Weihnachtsgeschenk für seinen damals dreijährigen Sohn Carl, fand aber nichts, was ihm für ein Kind dieses Alters passend erschien. Über die Ursprünge des Struwwelpeters schrieb Dr. Hoffmann 1971 in der Zeitschrift „Gartenlaube“:
- „Gegen Weihnachten des Jahres 1844, als mein ältester Sohn drei Jahre alt war, ging ich in die Stadt, um demselben zum Festgeschenke ein Bilderbuch zu kaufen, wie es der Fassungskraft des kleinen menschlichen Wesens in solchem Alter entsprechend schien. Aber was fand ich? Lange Erzählungen oder alberne Bildersammlungen, moralische Geschichten, die mit ermahnenden Vorschriften begannen und schlossen, wie: 'Das brave Kind muss wahrhaft sein‘; oder: 'Brave Kinder müssen sich reichlich halten‘ usw.“
Hoffmann kam schließlich mit einem leeren Schreibheft zurück und beschloss, selbst für seinen Sohn ein Bilderbuch zu schreiben bzw. zu zeichnen. Das Geschenk hatte die erhoffte Wirkung und erzielte schließlich in Hoffmanns Bekanntenkreis großes Aufsehen:
- „Das Heft wurde eingebunden und auf den Weihnachtstisch gelegt. Die Wirkung auf den beschenkten Knaben war die erwartete; aber unerwartet war die auf einige erwachsenen Freunde, die das Büchlein zu Gesicht bekamen. Von allen Seiten wurde ich aufgefordert, es drucken zu lassen und es zu veröffentlichen. Ich lehnte es anfangs ab; ich hatte nicht im entferntesten daran gedacht, als Kinderschriftsteller und Bilderbüchler aufzutreten.“
Es war schließlich der befreundete Verleger Zacharias Löwenthal (später Carl-Friedrich Loening), der Hoffmann zur Veröffentlichung bewegen konnte. 1845 erschien das Buch zum ersten Mal im Druck unter dem Titel „Drollige Geschichten und lustige Bilder für Kinder von 3-6 Jahren“, aber seit der 4. Auflage schließlich unter dem Titel „Struwwelpeter“. Seit 1858 erschien das Buch mit veränderten Darstellungen.
Inhalt
In dem Buch erzählt Hoffmann Geschichten von Kindern, die nicht brav sind und nicht auf ihre Eltern hören und denen deshalb allerlei grausames Unheil widerfährt: So wird der „bitterböse Friederich“, der Tiere quält, entsprechend bestraft („Da biss der Hund ihn in das Bein, recht tief bis in das Blut hinein“); Paulinchen verbrennt, weil sie mit Streichhölzern spielt; die Kinder, die den Mohren verspotten, werden noch viel schwärzer eingefärbt; der Fliegende Robert wird vom Wind fortgetragen, weil er beim Sturm aus dem Haus geht; oder dem Konrad werden vom Schneider die Daumen abgeschnitten, weil er daran nuckelt.
Namen wie Zappelphilipp, Suppenkaspar oder Hans-Guck-in-die-Luft sind in die deutsche Umgangssprache aufgenommen worden. Textpassagen wie „Konrad" sprach die Frau Mama, „ich geh aus und Du bleibst da.“ sind heute ebenfalls Gemeingut.
Überlieferung
Das Urmanuskript des Buches „Drollige Geschichten und lustige Bilder“, welches den „Struwwelpeter“ enthält, liegt im Germanischen Nationalmuseum.
Psychologische Interpretation
In neuerer Zeit wurde der Struwwelpeter von der klinischen Psychologie und der Jugendpsychiatrie entdeckt, weil er offensichtlich eine psychische Störung beschreibt, die im Kindesalter besonders manifest wird: Die Aufmerksamkeitsstörung (ADHS), mit oder ohne Hyperaktivität: Der Zappelphillipp als Vertreter der Aufmerksamkeitsstörung mit Hyperaktivität und den verträumten Hans-Guck-in-die-Luft als den Gegentyp, der häufig auch als „Träumerle“ beschrieben wird, ohne Hyperaktivität aber mit deutlich reduzierter Aufmerksamkeit. Man nimmt an, dass Hoffmann selbst unter einer Aufmerksamkeitsstörung litt. Jedenfalls waren ihm als Arzt vergleichbare Störungen nicht unbekannt.
„Suppenkaspar“
Der „Suppenkaspar” ist eine der pointiertesten, und wahrscheinlich bekannteste der Kapitel des „Struwwelpeters“. Sie erzählt in wenigen Versen die Geschichte eines Jungen, der die Nahrungsaufnahme verweigernt und daran innerhalb weniger Tage verhungert.
Auf geschickte Weise verbindet Hoffmann zwei hochaktuelle Themen des frühen 19. Jahrhunderts. Zum einen nimmt er bahnbrechend die Thematik der bürgerlichen Erziehung auf. Erstmals kommt diese Thematik überhaupt in die Wahrnehmung breiter Bevölkerungsschichten. „Erziehung“ als Charakterbildung des Menschen mit seiner immanenten Problematik des Formens war bis in das 19. Jahrhundert hinein eine Thematik adeliger Schichten. Aber selbst dort war Erziehung in erster Linie Ausbildung, durch professionelle Erzieher zu besorgen, wenn auch auf eine breite Charakterbildung ausgelegt. In bürgerlichen Schichten dagegen war bis in das Biedermeier hinein „Erziehung“ in erster Linie Berufsausbildung. Nicht umsonst erschöpft sich die auf „bürgerliche“ Ideale ausgerichtet Erziehung des Hohenzollerschen Königshauses auf handwerkliche Berufsvorbereitung. Selbst „fortschrittliche“ Bildungstheoretiker wie Rousseau sahen Erziehung als einen Aufgabenbereich der außer Haus erfüllt wird – Rousseau selbst z. B. ließ seine Kinder bis zu seinem Tod in Erziehungsanstalten und Waisenhäusern erziehen.
Mit seinem Suppenkaspar bringt Hoffmann die Erziehungsproblematik des selbst-erziehenden Bürgerhauses erstmals auf die literarische Ebene.
Das zweite Thema das pointiert verarbeitet wird, ist die plötzliche Möglichkeit einer Verhaltensweise, die wir heute als Anorexie bezeichnen. Erst bedingt durch die landwirtschaftlichen Revolutionen des 19. Jahrhunderts kann das Thema der freiwilligen Essensverweigerung überhaupt Bedeutung gewinnen. Bis zur Jahrhunderwende waren Hunger und Hungersnöte dermaßen Teil des Jahres- und Lebenslaufes, dass die Verweigerung der Nahrungsaufnahme vielleicht etwas Absurdes, niemals jedoch eine psychische Verirrung hätte seine können. Der „Suppenkaspar“ ist wahrscheinlich der Literatur erster Anorexiker – und der Freudsche Hintergrund als Erziehungsproblematik wird sogleich mitdiskutiert. Hoffmann, der selbst als leitender Arzt der Frankfurter „Anstalt für Irre und Epileptische“ im Feld der Jugendpsychatrie arbeitete, hat hier möglicherweise Krankheitsfälle aus der eigenen Praxis verarbeitet.
Es gilt heute als wahrscheinlich, dass der Suppenkaspar einen realen Hintergrund besitzt. Am Jakobifriedhof in Leoben befand sich bis vor wenigen Jahren das Grab eines im Jahre 1834 verstorbenen neujährigen Jungen, das mit „Suppenkaspar“ beschrieben war. Als Todesursache findet sich in den Kirchenbüchern „verweigert Nahrungsaufnahme“. Ob Hoffmann jemals selbst auf seinen Reisen das Grab gesehen hat, ist unklar – möglicherweise beruht seine Inspiration auf dem Hörensagen. Das Grab des „Suppenkaspars“ ist mit der teilweisen Einebnung des Friedhofs beim Ausbau der B116 1984 leider eingeebnet worden.
„Struwwelhitler“
Die bitterböse englische Parodie „Struwwelhitler - A Nazi Story Book by Doktor Schrecklichkeit“ von Robert und Philip Spence aus dem Jahr 1941 wurde aus Anlass des 60. Jahrestages des Zusammenbruchs des Hitler-Regimes 2005 neu veröffentlicht. Das Buch enthält die ursprünglichen englischen Texte und die deutschen Übersetzungen. „Struwwelhitler“ erschien während des zweiten Weltkrieges im Verlag der illustrierten englischen Zeitung Daily Sketch und war ein Beitrag zum Daily Sketch War Relief Fund, der die britischen Truppen und die Opfer des deutschen Luftkriegs unterstützte.
Literatur
- Ursula Peters: „Drollige Geschichten und lustige Bilder, Heinrich Hoffmanns Urmanuskript des „Struwwelpeter“, in: „monats anzeiger. Museen und Ausstellungen in Nürnberg“, August 2003, S. 2-3;
- Robert und Philip Spence: „Struwwelhitler - A Nazi Story Book by Dr. Schrecklichkeit“, Autorenhaus Verlag, Berlin 2005, ISBN 3-932909-30-5
Weblinks
- http://www.sagen.at/texte/maerchen/maerchen_deutschland/hoffmann/maerchen_struwwelpeter.htm -- E-Text auf SAGEN.at: Der Struwwelpeter
- http://projekt.gutenberg.de/hoffmanh/struwwel/struwwel.htm -- E-Text beim Projekt Gutenberg-DE: Der Struwwelpeter
- http://www.struwwelpeter.com/SP/inhalt.html -- Einige Geschichten des Struwwelpeters
- http://www.esslinger-verlag.de/weiter/struwwelpeter.php – Entstehungsgeschichte des Struwwelpeters, aus „Gartenlaube“ 46/1878