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Corpus Delicti (Roman)

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Corpus Delicti ist eine Novelle der deutschen Schriftstellerin Juli Zeh, die 2009 veröffentlicht wurde.

Inhalt

Der Roman bzw. die Novelle behandelt die Problematik einer Gesundheitsdiktatur in naher Zukunft am Beispiel einer Herrschaftsform, die einen Unfehlbarkeitsanspruch erhebt. Trotz der Tatsache, dass die Handlung in der Zukunft spielt, ist Corpus Delicti kein science fiction Roman im eigentlichen Sinne, sondern eine Zukunftsvision, die als Schlüssel zu der heutigen Gesellschaft zu verstehen ist. Juli Zeh greift Entwicklungen der heutigen Zeit auf, führt sie weiter und nimmt sie als Grundlage eines Staates, den sie METHODE nennt. Der Leser bekommt so die Möglichkeit, einen kritischen Blick auf die gefährlichen Trends der heutigen Zeit zu werfen und sich bewusst zu werden, wohin diese führen können. Somit ist Corpus Delicti eine Warnung: Die Novelle will den Leser wachrütteln und auf eben diese kritischen Entwicklungen der heutigen Gesellschaft aufmerksam machen. Der Leser soll an seine Mündigkeit erinnert werden und daran, dass er auch Eigenverantwortung wahrzunehmen hat.

Handlung

Mia Holl, eine der Protagonistinnen, trauert um ihren Bruder Moritz Holl, der sich vor kurzem im Gefängnis das Leben genommen hat. Moritz Holl wurde des Mordes angeklagt und verurteilt, beteuerte aber bis zuletzt seine Unschuld. Mia Holl vernachlässigt in ihrem Schmerz die obligatorischen Schlaf- und Ernährungsberichte, ebenso wie das tägliche Sportprogramm, welches Ihr von der METHODE vorgeschrieben wird. Die METHODE ist ein Rechtssystem, welches in der nahen Zukunft, in der Corpus Delicti spielt, die heutigen Grundsätze von Demokratie abgelöst hat. Sie hat den Anspruch auf absolute Perfektion und gilt als unfehlbar. Jeder Mensch muss in der METHODE das Bestmögliche für seinen Körper tun. Jeder Verstoß wird hart bestraft, weshalb Mia Holl bald ebenfalls vor Gericht landet. Mia, ursprünglich methodentreu, beginnt im Laufe des Prozesses (so lautet auch der Untertitel des Buches) immer stärker an der METHODE zu zweifeln und entzieht ihr letztendlich das Vertrauen.

Wichtige Charaktere

Mia Holl Mia ist die Hauptperson in dem Roman und die Figur, die die stärkste Wandlung vollzieht: aus der 30jährigen Biologin und Naturwissenschaftlerin, die als apolitische Konformistin mit mustergültiger Anpassung eigentlich die Personifikation der METHODE darstellt, wird eine Revolutionärin wider Willen. Eine herausragende Eigenschaft von Mia ist ihr naturwissenschaftlich analytisches Denken, das sie für jede Position problemlos Pro- und Contra-Argumente finden lässt; aber genau darin liegt der Grund ihrer Handlungsunfähigkeit, eine Schwäche, die ihr die ideale Geliebte, eine imaginäre Frau, die ihr Moritz kurz vor seinem Tod "geschenkt" hat, zu Beginn des Buches immer wieder vorwirft: wenn man für beide Seiten Argumente hat, fällt es einem schwer, sich für eine Seite zu entscheiden: als Naturwissenschaftlerin muss sie den DNA- Beweis anerkennen, als Schwester glaubt sie an die Unschuld ihres Bruders. Etwas allerdings unterscheidet Mia vom Großteil ihrer Mitmenschen, die im Grunde nichts Anderes als leere Hüllen ohne jegliche Emotion und Reaktion (corpus sanus sine mente sano) auf die METHODE sind: die ideale Geliebte, Mias "Beraterin" und Moritz Vermächtnis, spiegelt die Emotionen wieder, die sich in Mia – eigentlich in jedem vernunftbegabten Menschen - gegen ein System wie die METHODE regen sollten: Verzweiflung, Skepsis, Wut, Widerstand. Die ideale Geliebte weist Mia auf ihre Schwächen hin und hilft ihr, die Wahrheit zu realisieren und ihre Ambivalenz zwischen METHODEN-Treue und Überzeugung zu überwinden. Mia ist nach Moritz Tod einsam und auf sich gestellt; Moritz war für Mia der einzige Mensch, mit dem sich eine Auseinandersetzung lohnte. Freunde hat Mia nicht. Wie negativ und pessimistisch Mias Menschenbild ist, lässt ihr Satz erahnen: „Mittelalter“ ist keine Epoche, sondern der Name der menschlichen Natur. Mia traut den Menschen überhaupt nicht zu, sich aus ihrer selbstverschuldeten Unmündigkeit befreien zu wollen. Sie hält sie für Lebewesen ohne Seele, ohne Überzeugung, für die es sich zu kämpfen lohnt; Wesen, die sich lieber bequem und sicher auf vorgeschriebenen Pfaden bewegen als eigene Wege zu finden und Initiative zu ergreifen. Marionetten, die von der METHODE ohne große Anstrengung geführt und instrumentalisiert werden können. Die ideale Geliebte lässt Mia Moralvorstellungen entwickeln, die dazu führen, dass Mia sich für einen Recht auf Widerstand gegen die METHODE einsetzt. Sie entzieht der METHODE ihr Vertrauen. Dabei ist es nicht ihr Ziel, die METHODE zu stürzen, sondern auf Missstände und Fehler aufmerksam zu machen, die menschenunwürdiges Handeln legitimieren. Mias Widerstand gegen die Methode ist passiv, nicht aktiv. Mia will sich nicht zur Gallionsfigur einer Bewegung machen, die aus z.T. aus eigennützigen Motiven gegen die METHODE ist (dazu glaubt sie bis zuletzt viel zu sehr an sie), sondern betont immer wieder die individuellen Gründe ihres Standpunktes, den sie lange konsequent vertritt. Als Mia allerdings merkt, dass ihr Widerstand Wasser auf Kramers Mühle ist und seine Position mehr stärkt als schwächt, streicht sie innerlich die Segel und ergibt sich ihrem Schicksal, der METHODE. Mia wäre fast zur Märtyrerin geworden, die für ihre Überzeugung Folter, Leiden und Tod auf sich nimmt, wenn die METHODE nicht bis zum Ende ihr Spielchen mit Mia getrieben hätte.

Moritz Holl Individualist und sympathischer Anarchist, der sich der Überwachung durch die METHODE entzieht: ein Lebenskünstler, für den die Lebenswürze in den Halbtönen und Widersprüchen des Lebens liegt, die die Methode nicht zulässt. Allerdings ist Moritz kein direkter Methodengegner und darausfolgend auch kein Anhänger Methodenfeindlicher Organisationen, welche in dem Buch ebenfalls existieren (RAK - "Recht auf Krankheit"). Er will einfach nur seine Freiheit, denn diese ist für ihn das höchste Gut. Moritz, einer der wenigen Freidenker in der METHODE, tut sich schwer damit einen guten Gesprächpartner zu finden. Selbst Mia ist nicht eine Freidenkerin wie Moritz es ist. Auch Moritz Partnerinnen von denen er Mia erzählt sind für ihn zu kompliziert. Aufgrund dieser Problematik schafft sich Moritz die ideale Geliebte. Eine Geliebte die nut in seinen Gedanken existiert, die er somit allerdings auch frei nach seinem Willen formen kann. Eine Geliebte die denkt wie er - eine perfekte Gesprächspartnerin. Vor seinem Tod gibt Moritz die ideale Geliebte an seine Schwester Mia weiter.

Die ideale Geliebte Eine fiktionale Wegbegleiterin und Lebensberaterin von Mia, die von Moritz erfunden und im Gefängnis an Mia übertragen wurde. Die ideale Geliebte verkörpert die Ideologien und Werte von Moritz und hat somit den Auftrag auch nach seinem Tod dafür Sorge zu tragen, dass er und seine Freiheitsgedanken nicht vergessen werden und vor allem im Geiste von Mia weiterleben. Als die Metamorphose von Mia vollendet ist, sieht die ideale Geliebte ihre Aufgabe als gelöst und verlässt Mia. Die ideale Geliebte kann als das Gewissen Mia Holls betrachtet werden. Sie bewegt Mia, die zu Lebzeiten Moritz noch an der METHODE festhielt, sich langsam von ihr abzuwenden und das schlechte in der METHODE zu sehen. In Mia weiterlebend ist die ideale Geliebte also der Freigeist Moritz der nun in Mia weiter lebt.

Heinrich Kramer Kramer, Chefideologe der Gesundheitsdiktatur und Vorzeigeintellektueller, ist Mias Gegenspieler: er tritt als gepflegter, rational denkender Gentleman auf, der jedem, der es will oder auch nicht, die METHODE wohlwollend erklärt und näherbringt. Er verkörpert die Staatsraison. Er wird von Mia, in der er eine ebenbürtige Gegenspielerin sieht, weil sie genauso rational denkt wie er, und ihrer Geschichte wie eine Mücke vom Licht angezogen. Er misst sich an ihr und trainiert in den gegenseitigen Auseinandersetzungen seine Überzeugungskraft und seine Systemtreue. Mia wirft ihm vor, es sich trotz seiner Fähigkeit, rational zu denken, zu einfach zu machen und seine ganzen intellektuellen Fähigkeiten einseitig für das System einzusetzen. Er (nicht Mia) ist in Wirklichkeit der Fanatiker, der unter dem Deckmantel einer Übermoral im Sinne der METHODE sein Ziel blind und aggressiv verfolgt, keinerlei Selbstkritik übt und anderen Anschauungen gegenüber total intolerant ist. Wird im Buch doch nur von Kramer als Journalisten gesprochen, lässt besonders das Ende des Buches darauf schließen, dass Kramer großen Einfluss auf die METHODE hat, und letztendlich alle Fäden bei ihm zusammenlaufen. Als Staatsanwalt Bell das Urteil gegen Mia Holl aufhebt, lehnt Kramer in vertrauter Pose, mit überkreuzten Armen und zufriedenem Lächeln, an der Wand. Er wusste also schon über die Aufhebung des Urteils Bescheid, die vom Präsidenten des Methodenrats aufgegeben wurde.

Sophie, die Richterin Eine willensstarke, ehrgeizige, junge Richterin, die im Prozess gegen Mia Holl ermittelt. Ihr Handeln ist durch ihre Milde und durch ihre Hilfsbereitschaft zu Mia gekennzeichnet. Sie fungiert als Vermittlerin zwischen Bell und Rosentreter und entschärft die Verhandlungen jedes Mal zu Gunsten von Mia. Obwohl sie merkt, dass sich Mia im Laufe der Handlung auch gegen sie auflehnt und sie ihre Menschenkenntnis getäuscht hat, kann sie nichts gegen die Sympathie zu Mia ausrichten und wird schließlich wegen Befangenheit aus dem Verfahren ausgeschieden und an ein Amtsgericht in der Provinz versetzt.

Bell, der Staatsanwalt Besserwisserischer, strebsamer Staatsanwalt in Mias Verfahren, der ein starker Verfechter der Methode ist und Gegner mit harten Urteilen des Besseren belehren möchte. Bell steht seit seinem Studium stets in Konflikt zu Sophie, da er ein sehr radikales Denken hat und seine Meinung vehement vertritt.

Dr. Lutz Rosentreter Rosentreter ist der Vertreter des privaten Interesses und begleitet Mia während ihrem Strafprozess. Laut Mias Definition gehört er zwar zu der Sorte Mensch von angeblich liebenswerten Tölpeln, die ihr den letzten Nerv rauben und eindeutig der Kategorie "unprofessionell" angehören, doch ist er derjenige, der die Unfehlbarkeit der METHODE im Fall Moritz Holl widerlegt, dadurch eine Grundsäule der Staatsideologie sprengt und im ganzen Reich für Aufruhr und Widerstandsbewegungen sorgt. Auch Rosentreter ist im Herzen ein Systemgegner, da ihm aus immunologischen Gründen eine Beziehung zu seiner großen Liebe verwehrt wurde. Nun sucht er im Vorborgenen eine Lösung, um an der METHODE Rache zu üben und sieht so in diesem Prozess sein Lebensziel erfüllt.

Richter Hutschneider, Sophies Nachfolger Ein Mann von sechzig Jahren, der den Großteil seiner beruflichen Laufbahn bereits hinter sich hat, in einer bürgerlichen Familie lebt und seinen Lebensabend genießen möchte. Er vertritt im Fall Mia Holl nicht seine eigene Überzeugung, sondern möchte den Prozess möglichst schnell beenden und sich selbst nicht in Gefahr bringen oder in den Verdacht geraten gegen die METHODE zu agieren. Er übernimmt völlig gleichgültig das bereits vorher präparierte Urteil und stellt sich nicht die Frage nach der Moral.

Würmer, Moderator von "WAS ALLE DENKEN" (Polittalkshow) Er ist darauf aus eine ebenso steile Karriere in der METHODE wie sein Freund Kramer an den Tag zu legen und sich beruflich zu profilieren, egal mit welchen Mitteln. Man kann ihn auch als Kramers Schüler bezeichnen, da dieser sein großes Vorbild ist, das er zutiefst bewundert und von ihm lernen möchte. Da seine Karriere und Ansehen alles in seinem Leben sind und sein Job als Moderator seine Wünsche nicht erfüllt, vergisst er jegliche moralischen Wertvorstellungen und spielt im Prozess einen Zeugen, der aussagt, dass Mia und Moritz eine eigene Widerstandsgruppe gegründet haben.

Die METHODE

Legitimation Die METHODE legitimiert sich durch den "unbedingten, kollektiven Überlebenswillen" eines jeden biologischen Lebewesens. Sie garantiert seinen Bürgern körperliche und geistige Gesundheit, denn Gesundheit ist der störungsfreie Lebensfluss in allen Körperteilen, Organen und Zellen, ein Zustand geistiger und körpericher Harmonie. Wem Gesundheit gewährt ist, der besitzt optimale Leistungsfähigkeit und Kraft.

Leben in der METHODE Das Leben im Staat der METHODE ist bestimmt von obligatorischen Gesundheitskontrollen, wie Schlaf- und Ernährungsberichte, festgelegten Sportpensa und Maßnahmen wie Methodenlehre und Wiedereingliederung in die Gesellschaft nach einem "Fehlverhalten". Die persönliche Freiheit ist ebenso wie die der physischen Freizügigkeit auf ein Minimum eingeschränkt: Die Gerichte der Gesundheitskiktatur verurteilen jeden "Methodenfeind" zu empfindlichen Strafen und achten penibel auf das zukünfige Verhalten der potentiellen Gefahrenquelle. Der Gemeinschaftsgedanke wird von den Methodisten stark gefördert, um die Aufrechterhaltung der hygienischen Zustände zu gewährleisten.

Problematik

Gesundheitswahn Eine Gesellschaft, die körperliches Wohl mit Seelischem gleichstellt und dessen Erlangung als das höchste Ziel ansieht, lässt wenig Raum für Andersdenkende und Menschen, die ihrem Leben eine andere Priorität geben wollen als die größtmögliche Verlängerung ihres irdischen Daseins. Auch erfordert ebendiese Verlängerung der Existenz von jedem Einzelnen große Opfer und Einschränkungen, kann aber nur im Kollektiv erfolgreich sein. So zwingt der allgemeine Gesundheitswahn auch all jene in ein Lebensschema, das dem Ideal nahe kommt, ohne Raum für persönliche Freiheiten zu lassen.

Überwachungsstaat Der gläserne Bürger als Ideal eines totalen Überwachungsstaates birgt in sich viele Probleme. Die Offenlegung jeglicher persönlicher Daten vor Staat und Gesetz macht angreifbar. Die psychische Belastung und der ständige Leistungsdruck (zu Erfüllendes Sportprogramm, notwendige einwandfreie Blutwerte etc...) können zu ernsthaften seelischen Störungen führen, deren Behandlung langwierig ist. Die persönliche Freiheit tritt völlig in den Hintergrund und wird durch ihre Nichtbeachtung wertlos, was auch den Wert eines jeden Einzelnen als Individuum schmälert. Wichtig ist schließlich nicht, durch welche Charaktereigenschaften sich ein Mensch auszeichnet und dass er seinen Möglichkeiten entsprechend erfolgreich ist, sondern dass alle sein Leben betreffenden Fakten sicher geordnet und von Tadellosigkeit sind.

Unfehlbarkeit eines Staates Beschreibung folgt

Kritik am DNS- Verfahren Ich entziehe einer METHODE das Vetrauen, die lieber der DNA eines Menschen als seinen Worten glaubt. So schreibt Mia Holl in einem Kapitel des Buches. Moritz Holl, der sich selbst für unschuldig befand, wurde aufgrund einer DNA-Probe wegen sexuellen Mißbrauchs und Mordes verurteilt. Dass Moritz Holl als Kind an Leukämie erkrankt ist, eine Knochenmarkspende erhielt und somit eine neue DNA- die seines Spenders. Diese totale Rationalisierung, durch die ein einziger Beweis ausreicht und jemanden zu verurteilen, ist einer der Hauptkritikpunkte des Buches. Durch die Fehlbarkeit des DNA - Verfahrens wird auch die Unfehlbarkeit der METHODE in Frage gestellt. Sieht sich die MEHTODE selbst doch als unfehlbar, ist der Fall Moritz Holl ein eindeutiger Beweis dafür, dass dies nicht der Fall ist. Moritz wurde zu unrecht verurteilt und somit macht die METHODE sich zum Straftäter. Diese Rationalisierung prangert Juli Zeh an, die heutzutage durch Biometrische Reisepässe und Nacktscanner im Begriff ist sich anzubahnen.


Interpretation

In der Absicht, den Leser auf Missstände in der heutigen Gesellschaft aufmerksam zu machen, übt Juli Zeh in ihrer Novelle sowohl Kritik am Staat, wie am einzelnen Bürger. Sie warnt vor der zunehmende Tendenz, alles kontrollieren und regulieren zu wollen (Internet-Zensur, Erfassen von biometrischen Daten im Ausweis, online-Durchsuchungen, Bespitzelung in Betrieben, Nackt-Scanner, Rauch-Verbot). Dabei schiebt der Staat Argumente mit hohem ideellem Wert wie z.B. Sicherheit und Vorsorge vor, um die Einschränkung der bürgerlichen Freiheit zu rechtfertigen. Das Sicherheitsbedürfnis des einzelnen wird somit vom Staat bewusst missbraucht, damit eine möglichst lückenlose Überwachung des Bürgers durchgesetzt werden kann. So entwickelt sich langsam ein Überwachungsstaat, der seine Bürger zunehmend entmündigt und in dem Individualität unerwünscht ist. Wie in der METHODE wird unsere Demokratie klammheimlich von "diktatorischen Elementen" unterminiert. Dazu tragen aber auch die Bürger bei, deren zunehmendes Desinteresse an der Politik überhaupt erst ermöglicht, dass der Staat immer mehr Kontrolle gewinnt. Die Politikverdrossenheit und die Apathie des Volkes führt es in die selbstverschuldete Unmündigkeit zurück: der Wille unserer Gesellschaft geht - trotz Demokratie - immer weniger vom Volk aus. In Wirklichkeit tragen die Bürger Mitverantwortung, wenn sie den Staat den Körper derart in den Mittelpunkt stellen lassen (Fitness-Zentren, übertriebene Ernährungsoptimierung): es ist viel einfacher, seinen Körper zu trainieren und dem Norm-Mensch zu entsprechen als seinen Verstand und mündiges Denken. So macht sich in den Köpfen der Bürger eine Utopielosigkeit und ein inneres Vakuum breit, das den Entwicklungen des Staates nichts mehr entgegenzusetzen hat. Denn Individualität ist in einem Staat, der immer mehr Kontrolle gewinnt, viel zu anstrengend; da ist es einfacher sich an die Regeln und Normen zu halten.


Ein Vergleich mit Theodor Fontane und seinem Roman "Der Stechlin"

Die Einführung in den jeweiligen Text sowie die Erzählperspektive gleichen sich auffällig: Ein auktorialer Erzähler nimmt den Leser hoch über der aufgespannten Szenerie an die Hand und führt ihn in die Erzählung ein; er zeigt ihm dabei in einer immer mehr aufziehenden Kameraperspektive die den Handlungsort umgebende Natur und bleibt am Ende der Romaneinführung über einer der Hauptfiguren der Erzählung stehen. Hüben wie drüben verweilt zuvor der Erzähler kurze Zeit an einem See, der in beiden Texten merkwürdig unbelebt erscheint. „Alles still hier" bei Fontane, bei Zeh ist die Blickrichtung umgekehrt, und der See scheint in den Himmel zu blicken. Doch selbst wenn das Zitieren des fontaneschen Romans in Corpus Delicti nur Zufall sein mag, ist ein Vergleich der beiden Erzählungen und ihrer Verfasser durchaus Gewinn bringend, zumal da beide, Fontane wie Zeh, sich als Autoren ihre Zeit verstehen und auch ihre Texte als Produkt zeitgenössischen Lebens verstehen.

Die oft zitierte Aussage Fontanes über seinen Roman, dass „zum Schluss ein Alter (sterbe) und zwei Junge heiraten“, ansonsten aber nicht viel im Roman geschehe, kann vielleicht als Programm für die Aussage von Juli Zehs Novelle verstanden werden; zwar hört man in Fontanes Roman die drohenden Veränderungen schon am fernen Horizont als Gewitter aufziehen, doch im Grunde bleibt alles, wenn man Fontane wörtlich nehmen darf, beim Alten. Die Menschen scheinen weitestgehend zufrieden in ihrem andauernden Leben der Nichtveränderung. Sie finden sich in den gegebenen Situationen zurecht und finden ebenso Möglichkeiten, die Widrigkeiten des Lebens zu meistern, und finden (noch!) ein Auskommen untereinander. Ganz anders in Corpus Delicti: Juli Zeh zeigt in ihrem Text auf, was alles geschehen kann, wenn wir unsere Körper, unsere Lebensbedingungen und unsere sozialen Kontakte immer weiter verbessern wollen. Das ständige Streben nach physischer wie psychischer Perfektion lässt uns in einem ständigen Zustand der Grenzschreitungen schweben, was dem einzelnen Individuum kaum noch Möglichkeiten lässt, sich selbst auch einmal (scheinbar) unperfekt weiterentwickeln zu wollen. Physische Fitness neben psychischer Fitness scheinen das Diktat der derzeitigen Gesellschaftsentwicklung zu sein. Fehler werden nicht mehr akzeptiert, sie eventuell als (didaktisches) Potenzial zu nutzen, bleibt überhaupt nicht mehr die Zeit. Nichtperfektion erscheint dadurch immer als Mangel, ein dauerhaftes Fortschreiten scheint, um überhaupt Schritt halten zu können, notwendig zu sein. Vielleicht bedeutet das Zitieren des fontaneschen Textes auch einmal eine gesellschaftliche Entwicklung als abgeschlossen zu betrachten. Vielleicht soll uns als Leser deutlich gemacht werden, dass unsere derzeitige Lebensbedingung bereits eine Bereich erreicht hat, der als nahezu perfekt erscheint, und dass jegliches weiteres Streben diese Fastperfektion auch gefährden kann. Die Form der menschlichen Existenz, die in und um Schloss Stechlin noch unbeschwert, ja fast leicht erscheint, ist in Corpus Delicti mehr oder minder zu einer ständigen Anklage des Individuums verkommen. Der Mensch muss sich ständig rechtfertigen: gegenüber seinem eigenen Körper, gegenüber seinem eigenen Geist, gegenüber seinen sozialen Kontakten und vor allem gegenüber der Gesellschaft.

Beide Autoren, Fontane wie Zeh, verstehen sich als Gegenwartsautoren; beide besitzen ein ausgeprägtes Gespür für Tendenzen und Entwicklungen ihrer jeweiligen Zeit. Fontane wählt für seinen Roman einen Ort fern jeglichen Großstadtlebens, an dem die Zeit nahezu still zu stehen scheint (dass er es auch anders kann, zeigt er vor allem in seinem Berlinroman „Frau Jenny Treibel“). Zeh demhingegen drehte die Zeit um 50 Jahre nach vorne, um vor allem mögliche Auswirkungen gegenwärtiger Tendenzen aufzuzeigen. Beide Autoren zeigen in ihren Texten Diskurse und Paradigmen ihrer Zeit und setzen diese dadurch auch einer möglichen Kritik aus. Und Fontane wie Zeh verstehen es, aufzeigen, was geschehen könnte, wenn die Gesellschaft zu stark auf bestimmten Paradigmen besteht, beziehungsweise was ein eventueller Paradigmenwechsel mit sich bringen kann.


Literarische Kritik

Pressekritik

»Juli Zeh schildert die Entgleisung ins Brutale mit seltsamer Kälte. Sie ist eine analytische Apokalyptikerin in der Nachfolge Jewgenij Samjatins, Ray Bradburys und Philip K. Dicks. Als solche polemisiert sie gegen eine postutopische Epoche, die sich zu viel auf die Überwindung der Utopien zugutehält. Die literarische Form ist eine Gerichtstragödie in Prosa, ein Traktat in verteilten Rollen, ein Science-Fiction-Krimi und stetig sich beschleunigendes Debattierstück.« (Evelyn Finger, DIE ZEIT)

»Zum Glück hält sich Juli Zeh nicht lange mit der detailvernarrten Ausschmückung ihres Überwachungsstaates auf. Stattdessen konfrontiert sie ihre Leser geschickt und ziemlich spannend mit dem philosophischen Für und Wider ihrer aller Metaphysik beraubten Beinahe-Idealgesellschaft. Die Kunst dieser Autorin besteht gerade im scharfsinnigen Gedanken-Pingpong ihrer Versuchsanordnungen, in einem heiter-diskursiven Furor, wie man ihn sonst nur (hölzerner) von Bernhard Schlink kennt und wie ihn früher Friedrich Dürrenmatt beherrschte.« (Wolfgang Höbel, DER SPIEGEL)

Indem Juli Zeh eine Geschwisterliebe in den Mittelpunkt stellt, zitiert sie den „Antigone”-Stoff – auch Mia Holls Normenkonflikt besteht ja darin, dass sie die Totenehre des Bruders gegen die Staatsräson verteidigt. Zugleich verweist das Motiv auf den „Mann ohne Eigenschaften” von Robert Musil, der nur zu gut wusste, dass Krankheit nicht nur ein Defekt ist, sondern auch ein „Stimulanz des Lebens”. So scharfsinnig Juli Zeh das prekäre Verhältnis von Moral und Hypermoral verhandelt, so sehr offenbaren gerade die inständigeren Passagen die Schwäche des Buches. (Christopher Schmidt, Süddeutsche Zeitung)

»Juli Zeh verfügt über den Scharfsinn und die Belesenheit, um ihre Einsprüche gegen den Zeitgeist so zu verfassen, dass sie nicht verlegen machen, sondern Wucht entfalten. Der Juristin im Nebenberuf gelingt es mühelos, die analytische Darstellung in die literarische Form hineinzuholen - hier, in CORPUS DELICTI, geschieht das in der Kunstform der Utopie, die seit je dem Diskursiven gebührend Raum gibt. So gebiert Belletristik analytischen Verstand und umgekehrt: Erzählen und Argumentieren sind eins. Darauf kann man sich bei dieser Autorin verlassen.« (Christian Geyer, Frankfurter Allgemeine Zeitung)

Juli Zeh und Slut - Eine Schallnovelle

Zu "Corpus Delicti" ist ebenfalls eine Vertonung unter dem Namen "Corpus Delicti - Eine Schallnovelle" erschienen. Diese ist eine Zusammenarbeit von Juli Zeh und der Rockband "Slut". Ebenjene Band hat für die Vertonung sieben Stücke komponiert und Juli Zeh hat Teile des Romans daran angepasst, andere Teile aber auch neu entworfen oder gekürzt. Juli Zeh und "Slut" gehen mit diesem Programm im Herbst 2009 auf Tour.

Quellen

Evelyn Finger: Das Buch der Stunde [1] DIE ZEIT, 26.02.2009

Harro Albrecht: Ein bisschen Diktatur darf sein [2] DIE ZEIT, 19.03.2009

Wolfgang Höbel: Hexe im Tiefkühlfach [3] Spiegel Online, 21.02.2009

Evelyn Finger: Das Buch der Stunde http://www.zeit.de/2009/10/L-Zeh Die Zeit, 26.02.2009

Der Zeitungsartikel beschreibt und interpretiert abwechselnd den Verlauf des Buches, so dass man einen detaillierten und tiefgründigen Einblick in die Thematik erhält.

Ulrich Bauer: Lockere Dosierung http://www.stuttgarter-zeitung.de/stz/page/2237428_0_2147_-performance-von-julie-zeh-lockere-dosierung.html Stuttgarter Allgemeine, 14.10.2009

Bericht von dem Zusammentreffen mit Juli Zeh und der Band Slut, die gemeinsam die Novelle durch eine musikalische Umrahmung präsentiert haben.

Ruth Lisa Knapp: Die negative Utopie einer Gesundheitsdiktatur ist ganz aktuell (11.03.2009) http://deutsche-gegenwartsliteratur.suite101.de/article.cfm/juli_zeh_corpus_delicti_rezension_des_romans

Christopher Schmidt: Die Erfindung der Realität. Über Juli Zehs Theaterstück Corpus delicti (aus Heft Nr. 187, S.263-269, 9/2008) http://spritz.de/index.php?module=Pagesetter&func=viewpub&tid=4&pid=47

Larbig: Wenn Prävention Freiheit zerstört: Juli Zehs "Corpus Delicti. Ein Prozess"(5/2009) http://herrlarbig.de/2009/05/22/wenn-praevention-freiheit-zerstoert-juli-zehs-corpus-delicti-ein-prozess/

Juli Zeh- Corpus Delicti ( ein Prozess )

Corpus Delicti - Eine Schallnovelle: http://www.juli-zeh.de/corpus.php