Urheimat
Unter Urheimat versteht man das durch linguistische oder archäologische Methoden erschlossene, wahrscheinliche Gebiet, in dem eine bestimmte, meist ebenfalls erschlossene Protosprache, also die gemeinsame Urform einer Sprachfamilie, gesprochen wurde. Im weiteren Sinne versteht man unter Urheimat das Herkunftgebiet historisch belegter oder noch existierender Völker oder Volksgruppen.
Entstehung und Verwendung des Begriffs Urheimat
Der Begriff Urheimat wird heute als deutsches Fremdwort auch im Englischen gebraucht. Der Begriff ist im 19. Jahrhundert aufgekommen in der Diskussion um die Herkunft der Sprecher der rekonstruierten proto-indogermanischen Sprache. Da man sprachliche Vorformen auf verschiedenen Ebenen erschließen kann, gibt es auch zeitlich aufeinanderfolgende „Urheimaten“. So wurde bereits im frühen 18. Jahrhundert die Frage nach der Urheimat der Germanen diskutiert, wobei Leibniz sich 1710 in seiner Dissertatio de Origine Germanorum (S. 198 - 205) bereits gegen die Theorie einer skandinavischen Urheimat aussprach.
Während im deutschsprachigen Raum der Begriff "Urheimat" im wissenschaftlichen Kontext nur noch selten gebraucht wird, wird der Terminus in der englischen wissenschaftlichen Literatur heute auch auf die Frage der Herkunftgebiete nichtindogermanischer Völker bzw. Sprachgruppen angewendet.
Indogermanische Urheimat
In diesem Sinne haben Wissenschaftler versucht, die Urheimat der indogermanischen Sprache zu lokalisieren. Bei der Hypothesenbildung hat eine besondere Rolle gespielt, dass die indogermanische Protosprache Begriffe für Lachs und Buche kannte, was das mögliche Herkunftsgebiet einzugrenzen schien. Die ebenfalls vorhandenen Begriffe für Schnee, Kupfer bzw. Bronze sowie Rad und Nabe galten bei dieser Suche als weniger aussagekräftig wegen der großen Verbreitung (bzw. der Transportierbarkeit) dieser Dinge.
In der aktuellen Diskussion um die Urheimat der Indogermanen bzw. genauer: der Sprecher des Proto-Indogermanischen, spielen diese Argumente generell keine große Rolle mehr. Einerseits ist nicht nicht wirklich klar, welche Baumart das rekonstruierte indogermanische Wort *bhaghos ("Buche") ursprünglich bezeichnet hat. Das Ausbreitungsgebiet des Lachses wiederum ist zu groß, um sichere Schlüsse zu erlauben. Wenn heute überwiegend das Gebiet nördlich des Schwarzen Meeres als indogermanische Urheimat angenommen wird ("Kurgan-Hypothese"), dann spielen bei der Begründung archäologische Überlegungen eine weit größere Rolle als im 19. und in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. - Alternative Theorien über die indogermanische Urheimat beziehen sich auf das westliche Zentralasien, Anatolien, das Baltikum, den Balkan, Armenien oder Indien.
Indo-Iranianische Urheimat
Innerhalb des östlichen Indogermanischen bilden die iranischen und indo-arischen Sprachen (Sanskrit) eine klar unterscheidbare Einheit. Als Sprecher der proto-indoirnaischen Sprache gelten allgemein die Träger der Kultur des Andronovo Horizonts des späten dritten und frühen zweiten Jahrtausends vor Christus.
Balto-Slavische Urheimat
Unter Linguisten ist seit Jahrzehnten umstritten, ob es bei der Ausgliederung des Indogermanischen eine eigene balto-slawische Zwischenstufe gab (analog beispielsweise zur indoiranischen Stufe) oder ob diese beiden benachbarten Sprachfamilien, die sich unbestreitbar beeinflusst haben, seit dem Beginn ihrer Entwicklung getrennt waren. Soweit heute noch eine balto-slawische Zwischenstufe angenommen wird, wird deren Urheimat heute meist mit den östlichen Regionen der Kultur der Schnurkeramiker in Verbindung gebracht.
Die Lokalisierung einer slawischen Urheimat wird heute überwiegend mit anhand des Befundes der Hydronyme (Gewässernamen) vorgenommen, wobei die ältesten eindeutig als slawisch identifizierbaren Namen in der westlichen und westlichen Ukraine und im südlichen Weißrussland anzutreffen sind.
Westliches Indogermanisch ("Kentum-Sprachen")
Das westliche Indogermanisch teilt sich in die drei Sprachfamilien Italisch, Keltisch und Germanisch. Die keltische Urheimat wir meist im Kerngebiet der Hallstatt-Kultur bzw. der vorangegangenen Urnenfelderkultur im heutigen Österreich und Süddeutschland angenommen. Das italische Ausgangsgebiet muss aufgrund linguistischer Befunde Kontakt sowohl mit dem italischen als auch dem germanischen Sprachgebiet gehabt haben (vgl. Euler 2009: S. 24-27), es wird darum (noch vor der Einwanderung italischer Stämme nach Italien vermutlich im frühen 2. Jahrtausend vor Christus) etwa in Böhmen lokalisiert. Bei den Vorläufern der germanischen Stämme ist umstritten, inwiefern sich diese in Norddeutschland und dem südlichen Skandinavien oder doch etwas südlich davon, etwa im heutigen Niedersachsen, Sachsen-Anhalt und Thürigen, herausgebildet haben. Letzteres war bis etwa 1890 die Mehrheitsmeinung und wird heute wieder zunehmend vertreten, etwa durch Jürgen Udolph anhand des Befundes der Orts- und Gewässernamen. Dagegen gilt seit etwa 1890 nach einer ab 1885 entwickelten Theorie des deutschen Mediziners und Rassehistorikers Ludwig Wilser bei den meisten Prähistorikern Südskandinavien, Dänemark und Norddeutschland als die Urheimat der „(Proto-)Germanen“.
Semiten und Turkvölker
Daneben wird die arabische Halbinsel als Urheimat aller Semiten, Zentralasien als Urheimat aller Turkvölker angesehen. Für keine diese Lokalisierungen gibt es jedoch bisher unstrittigen Beweise.
Siehe auch
- Wiege Europas, Einfluss der griechischen Hochkultur auf die europäischen Kulturen.
- Germanische Substrathypothese, besondere Elemente der indoeuropäischen Sprachen im mittleren Europa.
- Kurgan-Hypothese, Übernahme von Sprachformen aus dem östlichen Europa (bis nach Zentralasien).
Literatur
- Wolfram Euler, Konrad Badenheuer: Sprache und Herkunft der Germanen - Abriss des Protogermanischen vor der Ersten Lautverschiebung, 244 S., ISBN 978-3-9812110-1-6, London/Hamburg 2009.
- James P. Mallory: In Search of the Indo-Europeans: Language, Archaeology, and Myth <Die Suche nach den Indogermanen: Sprache, ARchäologie und Mythos>, London 1989, Thames & Hudson.
- James P. Mallory: The homelands of the Indo-Europeans <Die Heimatgebiete der Indogermanen>, Hg.: Roger Blench und Matthew Spriggs, in: Archaeology and Language, Band I: Theoretical and Methodological Orientations, London 1997.
- Jürgen Udolph: Namenkundliche Studien zum Germanenproblem (Reallexikon der germanischen Altertumskunde; Bd. 9). DeGruyter, Berlin 1994, ISBN 3-11-014138-8
- Jürgen Udolph: Studien zu slavischen Gewässernamen und Gewässerbezeichnungen. Ein Beitrag zur Frage nach der Urheimat der Slaven. Winter, Heidelberg 1979, ISBN 3-533-02818-6