Emergente Ordnung
Emergente Ordnung
Als Emergente Ordnung wird ein Soziales System bezeichnet, dessen Eigendynamik auf emergent (im Sinne von unvorhersehbar, aber auch nicht reduzibel) entstandenen Veränderungen basiert. Als stark emergent im Sinne von "unvorhersehbar" ist jeder Bewusstseinserweiterungsprozess zu bezeichnen, an dem Menschen mit Individualität beteiligt sind. Aber besonders im Sinne von "nicht reduzibel" ist dieses immer ein stark emergenter Vorgang, denn anders als z. B. bei einem Würfel, der zwar unvorhersehbar fällt, dessen Bewegungen aber zumindest theoretisch reduzibel wären (schwache Emergenz), ist es völlig unmöglich, nachträglich die einzelnen Bewusstseinschritte von Menschen mit Individualität nachzuvollziehen.
Eine Emergente Ordnung ist also die evolutionäre Erweiterung einer Grundordnung – in der heutigen Realität die Verfassung eines Staates. Die Erweiterung besteht darin, emergent entstandene neue Werte und andere Veränderungen systemimmanent zu akzeptieren, jedoch nicht durch z. B. demokratische Regeln, sondern durch Akzeptanz spontaner Einzelentscheidungen, wenn diese emergent entstandenen neuen Werte auf Kommunikationsfähigkeit und Individualität basieren und dadurch eine größere gesellschaftliche Breitenwirkung bekommen. Erst wenn diese spontanen Entscheidungen allgemein akzeptiert sind, werden sie z. B. demokratisch als "neue Grundordnung" festgelegt. Niklas Luhmann unterscheidet Systeme (Grundordnung) und Subsysteme. Letztere entstehen zwar emergent, sind jedoch immer auch gesellschaftlich determiniert. Vereinzelte Individualität wird dadurch zu einem Subsystem mit "gesellschaftlicher Individualität".
Voraussetzung für eine Emergente Ordnung ist die Doppelte Kontingenz. Sie beschreibt die zunächst scheinbare Unwahrscheinlichkeit von gelingender Kommunikation, wenn zwei Individuen ihre Handlungen jeweils von den kontingenten Handlungen des Gegenübers abhängig machen. Die Grundlage jedes Sozialen Systems ist also immer zunächst die Unberechenbarkeit (Kontingenz), die zwischen jeweils zwei Menschen auftritt. Diese Problematik vervielfacht sich dann in jedem Sozialen System. Wenn dann Individualität nicht gefördert wird, entstehen Gruppen mit Gruppenidentitäten, denen die einzelnen Mitglieder untergeordnet sind. Da dadurch gleichzeitig Kommunikation eher verhindert und durch das Vorhandensein kulturell determinierter Identitäten überflüssig wird, treten dann in Folge zwangsläufig unlösbare Aggressionspotentiale auf.
Der traditionelle Weg, ein Regulativ für diese entstehenden Aggressionen zwischen Gruppen (Clans, Stämme ff) zu schaffen, ist der Aufbau von "Kulturen" mit möglichst "auf ewig" festgelegten Normen und Werten – oft in Gestalt einer Religion. Talcott Parsons, der das Problem "Doppelte Kontingenz" formulierte, sieht hierin und folgend dann im Verfall von Kulturen in entgrenzten (neudeutsch "multikulturellen") Industriegesellschaften die Notwendigkeit für rein demokratische (vorhersehbare) Veränderungen.
Im Gegensatz hierzu erkennt Luhmann, dass diese Doppelte Kontingenz in der demokratisch überbauten entgrenzten Realität durch entstehende Individualität und Kommunikationsfähigkeit (siehe Systemtheorie) überwunden wird. Durch Beobachtung des Anderen sowie durch Versuch und Irrtum entsteht im Lauf der Zeit dann eine emergente Ordnung, die Luhmann "soziales System" nennt
„Soziale Systeme entstehen jedoch dadurch (und nur dadurch), daß beide Partner doppelte Kontingenz erfahren und daß die Unbestimmtheit einer solchen Situation für beide Partner jeder Aktivität, die dann stattfindet, strukturbildende Bedeutung gibt.“ [1] „Wir nennen diese emergente Ordnung soziales System“ [2]
Luhmann sieht gerade in der Unerklärbarkeit der Auflösung des Problems Doppelte Kontingenz die Erklärung für das Entstehen einer Emergenten Ordnung:
"Ein soziales System baut nicht darauf auf und ist auch nicht darauf angewiesen, dass diejenigen Systeme, die in doppelter Kontingenz stehen, sich wechselseitig durchschauen und prognostizieren können. Das soziale System ist gerade deshalb System, weil es keine basale Zustandsgewissheit und keine darauf aufbauende Verhaltensvorhersagen gibt." [3]
Eine Emergente Ordnung ist also gemäß Luhmann gleichzeitig Ziel und Voraussetzung für ein Soziales System, dass sich zunehmend entgrenzt und individualisiert und dann aus sich selbst heraus (emergent) mittels entstehender Kommunikationsbereitschaft stabilisiert.
Ein weiteres wichtiges Element einer Emergenten Ordnung ist dem folgend die Selbstreferenz sozialer Systeme, also die Entstehung neuer Ordnung aus dem System selbst heraus [4], oder einfacher formuliert: „Recht ist, was das Recht als Recht bestimmt.“ [5]
Luhmann unterscheidet analog zu der Evolution auch im Rechtssystem folgende Schritte einer Emergenten Ordnung:[6]
a. Variation: Hier entsteht eine unerwartete, überraschende Kommunikation zwischen verschiedenen sozialen Systemen. Dabei spielt die Emergenz eine große Rolle, die neue Probleme, neuartige Rechtskonflikte entstehen lassen, welche an die Richter herangetragen werden.
b. Selektion: Die Selektion ist eine Reaktion auf die Variation. Dabei entscheidet das Rechtssystem, ob es die neue Kommunikation (die neue Problemstellung) in das Rechtssystem einarbeitet oder nicht. Und wenn sie aufgenommen wird, mit welchem Code sie belegt werden soll (z. B. Internetgesetzgebung, Lückenfüllung durch richterliche Rechtsfortbildung).
c. Retention/Stabilisierung: Dieser durch die Selektion getroffene Entscheid muss danach in das System eingebaut und somit darin stabilisiert werden. Dabei ist wichtig, dass die Einheit des Systems erhalten bleibt.
Rudimentäre Emergente Ordnung:
In entgrenzten Gesellschaften (speziell: Industriegesellschaften seit ungefähr 1970, in denen Individualität gefördert und gefordert wird) sind seit einigen Jahrzehnten rudimentäre Ansätze zu Emergenter Ordnung nachweisbar, die zwar nicht vollkommen die Komplexität der Systemtheorie Luhmanns erklären, trotzdem sind sie für ein rudimentäres Verständnis, wie eine Emergente Ordnung entstehen kann, hilfreich. Rudimentär müssen diese Ansätze zu Emergenter Ordnung vor Allem dann genannt werden, wenn sie auf Empathie bzw. Empathiefähigkeit basieren. Empathie ist jedoch in der Systemtheorie keine notwendige Voraussetzung.
Andererseits geht Arno Gruen in An Unrecognized Pathology: The Mask of Humaneness[7], ohne die Systemtheorie Luhmanns damit grundsätzlich in Frage zu stellen, davon aus, dass Empathie immer die Voraussetzung für eine Emergente Ordnung sein wird. Allerdings ist zu beachten, dass Arno Gruen von einer "natürlichen" oder "angeborenen" Empathie ausgeht, die in der heutigen "Realität" von der "kognitiven" bzw. zwangsläufig "systemdeterminierten" Empathie unterschieden werden muss, von der Luhmann prinzipiell ausgeht.
Auch Wolfgang Schluchter sieht von anderer Seite – Max Weber – eine Entwicklung von Emergenter Ordnung, die auf Empathie bzw. Perspektivwechsel bzw. Perspektivenübernahme basiert: Max Weber spricht von „Einverständnishandlung“, Ego und Alter (siehe Doppelte Kontingenz bzw. Kommunikation) lernen aus der eigenen Perspektive, aber auch durch den Perspektivwechsel, also dadurch, dass sie sich auf den Anderen einstellen. Ego und Alter ermöglichen eine Emergente Ordnung, die, als unbeabsichtigte Folge absichtsvollen Handelns, von ihnen weder berechnet noch kontrolliert werden kann. Schluchter betont allerdings, dass Max Weber Ego und Alter als motivierte Akteure, als sprach- und handlungsfähige Subjekte ansieht. Im Gegensatz dazu würden (gemäß Schluchter) in der Systemtheorie diese Fähigkeiten nicht berücksichtigt. [8]
Max Scheler (1874-1928) sieht die Ursache für Verständigung in dem Phänomen "Einfühlungsvermögen", das allerdings in Schelers Sinnverwendung seit 1994 als Gefühlsansteckung bezeichnet werden muss, um die Doppeldeutigkeit dieser Bezeichnung zu klären (Theodor Lipps verwendete 1906 das Wort "Einfühlungsvermögen" synonym zum heutigen Wort Empathie), während Scheler zur gleichen Zeit das gleiche Wort synonym zum heutigen Begriff Gefühlsansteckung gebrauchte, Näheres dazu siehe da).
Beispiele rudimentärer Emergenter Ordnung:
1. Emergente Ordnung als Erweiterung von Demokratien:
Eine Emergente Ordnung basiert auf der individuellen und selbstverantwortlichen Entscheidung, bestehende Gesetze, Traditionen, Normen, Regeln ff (die vorherige Ordnung) in Frage zu stellen, in der Regel durch Nichtbeachten und anders Handeln. Diese Nichtbeachtung kann (gemäß der bestehenden Ordnung) abgelehnt oder bestraft, aber auch toleriert werden, das Risiko trägt das Individuum zunächst selbstverantwortlich.
Allerdings kann einerseits das Beispiel dieses Individuums von anderen Individuen nachgeahmt werden, andererseits kann das Verhalten immer öfter toleriert werden und -wenn es von Seiten der Justiz aus relevant ist- kann dieses auch von Richtern gesetzwidrig entschieden werden. Hilfreich ist hierbei die völlige Entscheidungsfreiheit der unteren Justizebene, also der Amtsrichter, in Deutschland. In höheren Ebenen können gesetzwidrige Entscheidungen der Amtsrichter dann zu einer Gesetzesänderung führen und sind dann die neue gesetzlich festgelegte Ordnung bzw. Recht.
Der erste Schritt (Variation, s.o.) entsteht also emergent, der vorläufig letzte Vollzug (Retention/Stabilisierung, s.o.) jedoch auf der Basis der (demokratisch) erstellten Grundordnung. Diese Veränderung ist nicht emergent, sondern vorhersehbar.
Beispiele für Gesetz- und andere Veränderungen auf emergenter Basis aus der Zeit nach ca. 1970 in der westlichen Welt sind vor Allem moralisch geprägte frühere Gesetze (Homosexualität, Abtreibung, Eherecht und Unehelichkeit ff) und auch zivilrechtliche Änderungen (Wohngemeinschaften, Straßenverkehr, Internetrecht usw.).
Viele gesellschaftliche Veränderungen entstehen (ohne Inanspruchnahme des Rechtssystems) oft durch bloße Akzeptanz des Verhaltens von Individuen, die sich nur "anders" verhalten (z. B. WGs, "Punks" ff). Hierfür ist bislang überwiegend die Fähigkeit zu einer gesellschaftlichen Empathie ausschlaggebend.[9]
Emergente Ordnung in Zweierbeziehungen:
Von verschiedener Seite (u. A. Karl Lenz)[10] werden Zweierbeziehungen als kleinste Soziale Systeme mit Emergenter Ordnung genannt, zumal hier die Doppelte Kontingenz wirklich als Ursprung jedes sozialen Systems erlebt werden kann.
Auch und besonders Zweierbeziehungen können oder müssen sogar in kulturell entgrenzten Gesellschaften eine eigene Ordnung entstehen lassen, die nicht auf Tradition, sondern auf Individualität basiert und sich über emergente Handlungen der beiden Individuen dynamisch verändert. Hier ist besonders deutlich -weil für Viele direkt erlebt und nachvollziehbar-, wie eigenständige Entscheidungen eines Partners vom anderen Partner akzeptiert werden und in der folgenden Zeit dann neue Vereinbarung werden können, die die bestehende Grundordnung der Beziehung erweitert.
Allerdings ist besonders hier zu beachten, dass Zweierbeziehungen nur sehr rudimentäre Soziale Systeme sind und hier die gesamte Komplexität "Soziales System" , die Luhmann beschreibt, nicht erklärt wird. Wie oben erwähnt, geht ja Luhmanns Systemtheorie davon aus, dass auch Individualität ausschließlich systemdeterminiert ist, es also "freie Individualität" nicht gibt. Das betrifft auch Zweierbeziehungen.
Auch ist besonders hier zu beachten, dass in Zweierbeziehungen eine emergente Veränderung in der Regel auf beiderseitiger Empathie aufbaut und Kommunikation bzw. beiderseitige Information überwiegend als Ich-Botschaft verstanden wird. Beides ist in der Systemtheorie nicht Voraussetzung. Auch dem widerspricht Arno Gruen, der aus psychologischer Sicht Empathie als Grundvoraussetzung für alle Soziale Systeme - nicht nur in Zweierbeziehungen - nachweist und umgekehrt Probleme aller Sozialen Systeme in fehlender natürlicher Empathie begründet sieht (z. B. Gruen, "Falsche Götter")[11].
Unter Beachtung dieser Voraussetzungen können Zweierbeziehungen aber tatsächlich als – wenn auch zwangsläufig nur rudimentäre – kleinste Emergente Ordnungen in übergeordneten Sozialen Systemen betrachtet werden. Sie sind dann kleinste "Subsysteme" (gem. Luhmann, s.o.).
Einzelnachweise
- ↑ Niklas Luhmann: Soziale Systeme. 1984, S. 154.
- ↑ Niklas Luhmann: Soziale Systeme. 1984, S. 157.
- ↑ Niklas Luhmann: Soziale Systeme. 1984, S. 157.
- ↑ Niklas Luhmann: Soziale Systeme. 1984, S. 233 ff.
- ↑ Niklas Luhmann: Das Recht der Gesellschaft. 1993, S.143
- ↑ Niklas Luhmann: Das Recht der Gesellschaft. 1993.
- ↑ The Journal of Psychohistory. 30, 2003, S. 266-272
- ↑ Wolfgang Schluchert, „Grundlegungen der Soziologie, Band 2“, 2007, Seite 235
- ↑ Ernest Mandel: Macht und Geld. 1993, S. 264.
- ↑ Karl Lenz: Soziologie der Zweierbeziehung. 2006.
- ↑ Arno Gruen: Falsche Götter. 1997, S. 14 f.
Literatur
- Niklas Luhmann: Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie. Suhrkamp, Frankfurt am Main 2008, ISBN 978-3-518-28266-3.
- Ernest Mandel: Macht und Geld. Neuer Isp-Verlag, Karlsruhe 2000, ISBN 978-3-929008-73-9.
- Karl Lenz: Soziologie der Zweierbeziehung. Eine Einführung. 2. Auflage. VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden 2003, ISBN 978-3-531-33348-9.
- Arno Gruen: Verratene Liebe - Falsche Götter. Deutscher Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main 2006, ISBN 978-3-423-34342-8.