Gino Luzzatto
Gino Luzzatto (* 9. Januar 1878 in Padua; † 16. Juni 1964 in Venedig) war ein italienischer Wirtschaftshistoriker. Er gilt als einer der wichtigsten Vertreter der italienischen Wirtschaftsgeschichte.
Leben und Wirken
Gino Luzzatto wurde als fünfter und letzter Sohn des Giuseppe und der Amelia Salom geboren und begann sein Studium 1894 an der Universität Padua. Nach der Promotion wechselte er nach Florenz ans Istituto Superiore Giovanni Marinelli, wobei er sich besonders für die Untersuchungen des Geographen Pennesi zu den Entdeckungsreisen interessierte. Noch seine Doktorarbeit über einen Historiker des 17. Jahrhunderts [1] weist keine besondere ökonomische Zielrichtung auf.
Luzzatto wechselte an ein Gymnasium im süditalienischen Potenza, verfasste Untersuchungen zur neueren Geschichte, wie etwa zum Brigantentum in der Basilicata nach der italienischen Staatsgründung von 1860. Dennoch zeigt sich hierin schon das Ungenügen an der individualistischen, "heroischen" Geschichtsschreibung, die sich besonders auf die Taten Einzelner, auf die großen Staatsaktionen konzentrierte.
Karl Lamprecht hat Luzzatto dazu veranlasst, sich mit der Geschichte des Feudalismus, mit der Gesellschaft und weniger mit dem "Hof" zu beschäftigen. Dennoch lag ihm daran, bei der Abkehr von der politisch-dynastischen Geschichtsschreibung nicht in bloß statistisch fassbare Gesichtspunkte abzugleiten. Inidividuelle Entscheidungen, Situationsbedingtheit und Einmaligkeit der Konstellation waren ihm ebenso wichtig, wie der Blick für die überindividuellen Kräfte. Seine Polemik gegen den unkontrollierten, methodologisch nicht untermauerten Gebrauch der Statistik[2] machte ihn erstmals in weiteren Kreisen bekannt. Ohne die Bedeutung der zahlenmäßigen Erfassung historischer Zustände und Prozesse unterschätzen zu wollen, lehnte er doch die "Manie der Zahlen" ab.
1901 wechselte Luzzatto von Grosseto nach Urbino und schrieb sich dort für Jura ein, um sich methodisch zu schulen und eine Art Gegengewicht gegen die seinerzeit geläufigen Methoden zu entwickeln - ohne das Métier zu wechseln. 1910 ging Luzzatto nach Pisa, setzte aber seine Arbeiten an der Zeitschrift Le Marche fort, die vor allem von ihrem Herausgeber Amedeo Crivellucci auf Lokaluntersuchungen ausgerichtet wurde. Dort arbeitete Luzzatto bereits seit 1902 als einer der Ersten mit. Erstmals zeigten sich die Möglichkeiten und Interessen Luzzattos in seinen Untersuchungen zur "Unterwerfung " des ländlichen Adels und die Kommunen in den Marken[3]. Dieses Thema, die Konzentration von Markt und Handwerk in der Stadt, der erzwungene Umzug des feudalen Landadels in die Kommune und die Rechtsschöpfung aus eigener Kraft haben ihn immer wieder beschäftigt. Doch wandte er sich nach seinem Werk über die Servi weitgehend der Stadtgeschichte zu[4], zugleich von der Betrachtung der Dominanz der Curtes, der Betriebsgrundherrschaft ab.
Vielmehr sah er die städtischen Impulse als die stärkeren an, und darin wiederum die Rolle der Kaufleute als herausragend. Das zeigen insbesondere seine späteren Schriften zur Wirtschaftsgeschichte der Republik Venedig, die den Handel in den Mittelpunkt rücken. 1910 wurde er ans Istituto Superiore in Bari berufen. Seine 1914 publizierte Handelsgeschichte (Storia del Commercio) liegt schon genau auf der eingeschlagenen Linie. Das gilt ebenso für seine Studie über den kleinen Markenort Matelica [5]. Hierbei analysierte er eine Fiskalorganisation, zog daraus Rückschlüsse auf die politische Ökonomie und schließlich auf die Binnenstruktur der politischen Elite(n). Damit hatte er sich weit von der landläufigen Untersuchung der Rechtszustände etwa anhand von Gesetzestexten und Statuten entfernt, die Ansprüche stellen, meist ohne erkennen zu lassen, ob die angestrebten Zustände auch erreicht worden sind.
Luzzatto war schon 1906 in Pisa der Sozialistischen Partei beigetreten, konnte sich aber nie für ihren Kollektivismus und ihren Internationalismus erwärmen. Er blieb Individualist und glaubte an die Bedeutung des Einzelnen, war aber zugleich gemäßigter Patriot und trat für die Rechte der "vergessenen Klassen" ein. Nach 1918 gestand er, die materialistische Orientierung zu ausschließlich gesehen, darüber die Moral - die kollektive wie die individuelle - unterschätzt zu haben. Nicht umsonst sah er hinter den Kämpfen zwischen Ghibellinen und Guelfen mehr als nur den Kampf zwischen Papst- und Kaiserpartei.
Dabei glaubte Luzzatto an eine positive Wechselwirkung zwischen den Erfahrungen als Historiker und denen als politischer Mensch. So erkannte er, dass Protektionismus und Kolonialismus in Italien aufs Engste zusammenhingen. Sie schützten - ohne ökonomische Berechtigung - die heimischen Industrien und die Landwirtschaft, und dienten nur der Verbilligung von Rohstoffen. Dazu lenkten sie von sozialen Problemen ab, wobei Luzzatto nicht so sehr der Mezzogiorno (Süditalien) am Herzen lag, obwohl er in Bari gelebt hatte.
1919 wechselte er von Bari nach Triest, lehrte Wirtschaftsgeschichte am Istituto superiore di scienze economiche e sociali an der Universität Ca' Fòscari in Venedig, zwei Jahre später wurde er an die Universität berufen. In diesem Jahr setzte sich die Partei Mussolinis in den Besitz der Macht; die Faschisten Venedigs standen Luzzattos Institut feindlich gegenüber. Am 25. April 1928 wurde Luzzatto verhaftet und nach Mailand gebracht, jedoch im Mai wieder frei gelassen. Noch 1925 hatte er das Manifest Benedetto Croces gegen die Faschisten unterzeichnet, das in Il Mondo veröffentlicht worden war; 1931 unterzeichnete er den Treueid, den das Regime von den Hochschullehrern verlangte. 1930 leitete er die Nuova Rivista Storica. Doch bis zum Ende des Faschismus in Italien fühlte Luzzatto den Mangel an Inspiration durch das politische Leben, wenn er auch einer der führenden Köpfe der Gruppe Giustizia e Libertà war, und sein Haus am Campo San Gallo (über dem Cinema Olimpia) Gegnern der Faschisten offenstand. Luzzatto ahnte bereits im Januar 1938 in einem Brief an seinen Kollegen Corrado Barbagallo, dass es den Faschisten nicht nur um bloße Einschüchterung gehe, sondern, dass man einem lange vorbereiteten Plan zur Erreichung "konkreter Ergebnisse" gegenüberstehe.[6]
So belebte er etwas wieder, was er schon seit längerem betonte, die Bevorzugung des Einzelnen und Individuellen im Bereich der Quellen, also der Ratsbeschlüsse und Gerichtsurteile, der Testamente und Verträge gegenüber den internationalen Abmachungen und theoretischen Abhandlungen. Exemplarisch führte er dies in seinem Werk über die Anleihen der Republik Venedig [7] vor. Mit dieser Studie stand er in scharfem Gegensatz zu Fabio Bestas Untersuchungen, die nach alter venezianischer Tradition die Ausgewogenheit und Harmonie des Staats- und Finanzapparats aufzuzeigen suchten. Im Gegensatz dazu konnte Luzzatto (neben Bertelè, Cessi u.a.) zeigen, dass es gerade die Neigung des Adels, sich der Finanzierung der staatlichen Aufgaben zu entziehen war, die das System der Anleihen zur Finanzierung aufwändiger Staatsaufgaben (Krieg, Getreideversorgung) zum Zusammenbruch brachte. Ja, ein dauerhaftes, direktes Besteuerungssystem wurde durch ihre Verweigerungshaltung geradezu erzwungen. Er betrachtete den Gegensatz zwischen Standesinteressen und beginnendem Staat als eine Hauptwirkungskraft.
Bezeichnenderweise musste Luzzatto seine Studie über die Wirtschafts-Aktivitäten des venezianischen Patriziats [8]1937 in den französischen Annales veröffentlichen. Ab 1938 publizierte er unter dem Pseudonym Giovanni Padovan. Es ist bezeichnend für ihn, dass er sich vorwiegend mit dem 12. und 13. Jahrhundert befasste, als die Herrschaftsformen noch weniger aristokratisch, der Beitrag der kleinen Händler zum Gesamtreichtum der Stadt noch erheblich größer, als der des großen Kapitals war.
1938 wurde er aufgrund der faschistischen Rassengesetze zwangspensioniert, seinen Lehrstuhl erhielt Amintore Fanfani, den er selbst vorgeschlagen hatte. Er selbst kümmerte sich in diesen Jahren als ihr Vizepräsident um die jüdische Gemeinde. Mit dem Ende der Diktatur sollte Luzzatto zum 1. September 1943 erneut berufen werden, jedoch verhinderte dies die Republik von Salò, also die kurzlebige Wiederrichtung des faschistischen Regimes. So kam er bei seinem Kollegen Raffaele Ciasca unter, der Dozent für Wirtschaftsgeschichte an der Universität Genua war.
Im Juli 1945, nach Kriegsende, kehrte er an die Ca' Foscari zurück und wurde sofort zum Rektor gewählt. Von 1946 bis 1951 war er Finanzassessor für den Partito Socialista Unitario, bis 1958 Consigliere, und hatte dort Gelegenheit, sich am konkreten Fall mit den Themen zu befassen, die ihn schon so lange umtrieben. Doch war ihm diese Beschäftigung mit vergleichsweise "aktuellen" Fragestellungen nicht ganz so fremd, wie seine Arbeit über den Wirtschaftswandel der Lombardei von 1860 bis 1922 zeigt [9].
Seit 1947 korrespondierendes Mitglied der Accademia dei Lincei, wurde Luzzatto 1950 Vollmitglied (socio nazionale).
Als Luzzatto sich 1958 an die Wirtschaftsgeschichte der Republik Venedig heranwagte, war er fast achtzig Jahre alt. Sein Hauptinteresse hatte dabei nie der Produktion gegolten, auch nicht dem Konsum, sondern dem Handel - schon gar nicht dem Streit der Zünfte um Zuständigkeiten und Privilegien. Bei einer Arbeit mit so einem umfassenden Titel fällt dieser Mangel ungemein ins Gewicht, noch mehr angesichts der Tatsache, dass Luzzatto weniger den Statuten Glauben schenkte, als den tagtäglich entstandenen Relikten der Wirtschaftsrealität. Das versperrte ihm beispielsweise den sonst so präzisen Blick für die ökonomischen Zwänge und Motive, die hinter der Eroberung des oberitalienischen Festlands standen. Diese Eroberung war eben kein Bruch mit der bisherigen Vorgehensweisen - der hatte schon in den Jahrzehnten um 1350 stattgefunden - sondern war Folge des politischen und vor allem wirtschaftlichen Dilemmas der Jahrzehnte um 1400. Dennoch ist sein Werk grundlegend geworden.
Schriften
- Breve storia economica dell'Italia medievale. Dalla caduta dell'Impero romano al principio del Cinquecento. Turin 1993, ISBN 88-06-04572-5.
- I prestiti della Repubblica di Venezia. (Sec. XIII-XV). Introduzione storica e documenti, Padua 1929
- Storia economica d'Italia il Medioevo. Florenz 1967.
- Storia economica di Venezia dall' XI al XVI secolo. Venedig 1961.
- Storia economica dell'età moderna e contemporanea. Padua 1920.
- Studi di storia economica veneziana, Padua 1954
- Il debito pubblico della Repubblica di Venezia. Dagli ultimi decenni del XII secolo alla fine del XV, Mailand 1963
Literatur
- Marino Berengo: Profilo di Gino Luzzatto In: Rivista Storica italiana 76 (1964) S. 879–925. (Bei Storia di Venezia) PDF, 150 kb
- P. Lanaro: Gino Luzzatto. In: Dizionario Biografico degli Italiani, 66 (Onlinefassung bei Treccani.it) ital.
Weblinks
- Gino Luzzatto, profilo biografico
- Bibliographie
- Veröffentlichungen von Gino Luzzatto im Opac des Servizio Bibliotecario Nazionale
Einzelnachweise
- ↑ Cenni intorno alla vita e alle opere storiche di Girolamo Brusoni, in Ateneo veneto 21 (1893) 273-306 und 22 (1899) 6-26 und 226-244
- ↑ Un tentativo di storia psicologica, in: La Scienza sociale 6 (1903) 80-86
- ↑ Le sottomissioni dei feudatari e le classi sociali di alcuni comuni marchigiani (sec. XII e XIII), in: Le Marche 1 n.s. (1906) 114-145
- ↑ I servi nelle grandi proprietà ecclesiastiche italiane dei secoli IX e X, Pisa 1910
- ↑ Le finanze di un castello nel secolo XIII)
- ↑ Renzo Biondo, Marco Borghi: Giustizia e libertà e Partito d'azione. A Venezia e dintorni, Venedig 2005, S. 154.
- ↑ I prestiti della Repubblica di Venezia (sec. XIII - XV), Padua 1929
- ↑ Les activités économiques du patriciat vénitien
- ↑ L’evoluzione economica della Lombardia dal 1860 al 1922, in: in La Cassa di risparmio delle provincie lombarde nella evoluzione economica della regione: 1823-1923, Mailand 1923, 447-526
| Personendaten | |
|---|---|
| NAME | Luzzatto, Gino |
| ALTERNATIVNAMEN | Padovan, Giovanni (Pseudonym) |
| KURZBESCHREIBUNG | italienischer Wirtschaftshistoriker |
| GEBURTSDATUM | 9. Januar 1878 |
| GEBURTSORT | Padua |
| STERBEDATUM | 16. Juni 1964 |
| STERBEORT | Venedig |