Zum Inhalt springen

Völkermord an den Armeniern

aus Wikipedia, der freien Enzyklopädie
Dies ist eine alte Version dieser Seite, zuletzt bearbeitet am 27. Mai 2005 um 09:37 Uhr durch HaeB (Diskussion | Beiträge) (Literatur: +wikilink). Sie kann sich erheblich von der aktuellen Version unterscheiden.

Dem Völkermord an den Armeniern durch das Osmanische Reich Anfang des 20. Jahrhunderts fielen bis zu 1,5 Millionen Armenier zum Opfer. Bis heute teilt die türkische Regierung die Bewertung dieser Morde als Genozid nicht und schüchtert jeden, der den Völkermord zur Sprache bringt, mit massivem Druck ein.

Unter den Begriff fallen vor allem die Massenmorde von 1915 zusammen mit denen 189496, es kam aber auch dazwischen und danach immer wieder zu einzelnen Ausschreitungen gegen Armenier. Das Armenische verwendet für diese Vorgänge den Begriff „Aghet“ (wörtlich: „Tat des Fremden“).

Datei:Massengrab Armenier 1918.jpg
Offenes Massengrab getöteter Armenier, um 1918

Vorgeschichte des Genozids

Das im Zerfall begriffene Osmanische Reich versuchte in der Tanzimat-Periode (18391879), die staatliche Organisation unter anderem durch eine Europäisierung zu erneuern und gleichzeitig ausländische Einflüsse abzuwehren. Durch diesen Widerspruch kam es zu zunehmenden Spannungen zwischen der Staatsführung und Minderheiten im Reich. Die jungtürkische Bewegung im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts radikalisierte diese Widersprüche mit ihren Forderungen nach einem ethnisch homogenen Nationalstaat. Gleichzeitig bildete sich ein armenischer Nationalismus aus, der durch die Ungleichbehandlung der christlichen Minderheit der Armenier wie auch durch eine Unterstützung aus dem europäischen Ausland forciert wurde.

Zwischen 1894 und 1896 ließ Sultan Abdülhamid II. 100.000 bis zu 200.000 Armenier ermorden. Darauf folgten für die Armenier Vertreibungen und Zwangskonversionen zum Islam. Bereits 1897 berichtete ein englischer Beobachter Die Armenier werden mit allerhöchster Wahrscheinlichkeit ausgerottet werden, soweit sie nicht in andere Länder entkommen können.

Während der jungtürkischen Revolution von 1909 betrieben die Anhänger des alten Regimes die Ermordung von 20.000 bis 30.000 Armeniern in Südostkleinasien mit Zentrum in Adana, die sie der Unterstützung der Revolution bezichtigten.

Der Genozid von 1915–16

Orte des Genozids an den Armeniern (auf aktueller Karte)

Den bis heute am umfangreichsten bekannten Genozid an den Armeniern betrieben allerdings die Jungtürken selbst. 1909 an die Macht gekommen, waren sie erfolglos bei der Reformierung des Reiches. Wie ihre Vorgänger setzten sie bei der Reorganisation des Militärs auf deutsche Unterstützung. Neben dem Oberbefehlshaber Fritz Bronsart von Schellendorff hatten drei der fünf türkischen Armeen deutsche Oberkommandierende.

Zu Beginn des 1. Weltkrieges schloss der jungtürkische Kriegsminister Enver Pascha eine Allianz mit Deutschland und den Mittelmächten. Nach dem Scheitern der türkischen Offensive gegen Russland im Januar 1915, schob die Staatsführung die Schuld auf die christlichen Armenier, die angeblich das christliche Russland unterstützt hätten. Darauf beschloss das jungtürkische „Komitee Einheit und Fortschritt“ die Vernichtung der Armenier und stellte dafür eine Spezialeinheit, Çete genannt, auf. Die armenischen Soldaten der türkischen Armeen wurden entwaffnet, in Arbeitsbataillonen zusammengefasst und schließlich fast alle ermordet.

Am 24./25. April 1915 wurde fast die gesamte Führungsschicht der Armenier in Konstantinopel, insgesamt über 200 Männer, festgenommen, deportiert und ermordet. Bis Juli des Jahres wurden die Armenier an sieben Orten konzentriert, wo sie entweder gleich ermordet oder auf Befehl von Innenminister Abdul Talaat Pascha am 27. Mai 1915 auf Todesmärsche durch die Wüste nach Aleppo geschickt wurden. Dabei gab es den ausdrücklichen Befehl, möglichst wenige lebendig dort ankommen zu lassen. Etwa 100.000 Armenier überlebten die Todesmärsche, weil sie sich zwangsturkisieren ließen, etwa 500.000 gelang die Flucht. Insgesamt starben etwa 800.000 bis 1.000.000 Armenier bei diesen Märschen.

Die Angaben über die Opfer an dem Genozid schwanken stark: Niedrige Schätzungen gehen von 600.000 Toten aus, hohe Schätzungen von bis zu 1.500.000.

Weiterer Verlauf bis Kriegsende

Bis Juni 1916 besetzten russische Truppen Armenien. Armenische Verbände, die mit der russischen Armee 1917 in die Türkei einrückten, nahmen Rache für den Völkermord und ermordeten besonders Kurden. Die Angaben über die Zahl der Toten in dieser Zeit schwanken zwischen einigen Zehntausend und 128.000.

1919 machten Militärgerichte der Sultansregierung den Führern der jungtürkischen Bewegung wegen des verlorenen Krieges den Prozess nach osmanischem Recht – die meisten von ihnen entzogen sich dem Todesurteil durch Flucht nach Europa.

Nach dem Vertrag von Sèvres von 1920 war die Gründung eines unabhängigen armenischen Staates vorgesehen. Dem versuchte die türkische Regierung durch Vollendung des Völkermords an den Armeniern zuvorzukommen und eine Gründung des Staats in Ostanatolien zu verhindern. Deshalb ließ sie noch einmal etwa 50.000 Armenier in Adana und 20.000 Armenier in Marasch ermorden.

Nach dem Zusammenbruch der russischen Regierung im Kaukasusgebiet marschierten dort türkische Truppen ein, um die Armenier auch dort zu vernichten und die Schaffung eines armenischen Staates zu verhindern. Dabei wurden etwa 175.000 Armenier ermordet. Der Massenmord wurde durch das Eingreifen der 11. Armee der Roten Arbeiter- und Bauernarmee gestoppt.

Nach schweren Rückschlägen für die christlichen Bevölkerungsgruppen im türkisch-griechischen Krieg 1922 begannen im Rahmen der sogenannten Kleinasiatischen Katastrophe erneut Massaker an Christen in Smyrna (heute İzmir), bei der etwa 100.000 Christen ermordet wurden, zu denen neben Griechen auch viele Armenier gehörten, darunter die gesamte armenische Gemeinde Smyrnas.

Nachkriegszeit

Der Großwesir Damad Ferid Pascha gestand am 11. Juni 1919 die Verbrechen öffentlich ein. 1920 bezeichnete Kemal Atatürk, der Vater der Türken, den Völkermord an den Armeniern vor dem Parlament als „eine Schandtat der Vergangenheit“. Zu den drei jungtürkischen Führern hatte er ein gespanntes Verhältnis. Diese gelten als Hauptverantwortliche der Deportation, in Folge dessen wollte er sie auch nicht in den Reihen der türkischen Nationalbewegung sehen. Einem amerikanischen Diplomaten gegenüber ging Atatürk von 800.000 Toten aus und befürwortete eine harte Bestrafung der Täter.

Spätere türkische Regierungen leugneten dagegen den Völkermord an den Armeniern und stellten die Ermordungen als Folgen von Kriegshandlungen dar, ohne sich davon zu distanzieren. Während andere westeuropäische Staaten auf eine Verurteilung des Völkermordes drängten, unterstützte die deutsche Regierung lange Zeit die Position der türkischen Führung. Eine Dokumentation des deutschen Orientalisten Johannes Lepsius zum Völkermord an den Armeniern wurde im August 1916 von der Reichsregierung verboten.

Am 15. März 1921 erschoss der armenische Student Soromon Tehlerjan im Berliner Exil den ehemaligen Innenminister Talaat Pascha, einen der Hauptverantwortlichen für den Genozid. Aufgrund der Darlegung der Geschehnisse in Armenien wurde der Täter aber vor Gericht freigesprochen. Wie sich später herausstellte, war Tehlerjan Mitglied eines armenischen Geheimbundes namens Nemesis, der Beteiligte an dem Völkermord ermordete. Er hatte zuvor bereits in İstanbul einen türkischen Politiker erschossen.

Vermutlich von dem Antisemiten Max Erwin von Scheubner-Richter, der auf Seiten der türkischen Armee gekämpft hatte, erfuhr Adolf Hitler Details über den Völkermord. Am 22. August 1939 sagte Hitler vor hohen Militärs und Kommandeuren der SS-Todesschwadronen: Wer redet heute noch von der Vernichtung der Armenier? Damit versuchte er das Unrechtsbewusstsein der Täter zu beruhigen und ihnen die Angst vor Bestrafung zu nehmen.

Einschätzung

Auch nach dem Völkermord und der Vertreibung der Armenier ging in der Türkei die Zerstörung armenischer Kulturgüter weiter. Noch 1998 wurde die Kirche Surb Arakelots in Kars in eine Moschee umgewandelt.

Völkermord-Mahnmal (erbaut 1965-1967) in Eriwan, Armenien

In den 1970er und 1980er Jahren brachten eine Vielzahl von Terroranschlägen der armenischen Asala-Armee auf türkische Einrichtungen weltweit die Situation der Armenier und auch die Geschichte des Völkermordes in Erinnerung. Dabei ermordeten sie 46 Menschen und verletzten 81 Menschen schwer.

Bis heute versucht die türkische Regierung, eine Bewertung der Vorgänge als Völkermord zu verhindern. Deshalb gab es heftige diplomatische Auseinandersetzungen, so z. B. 2001 den Versuch, eine entsprechende Resolution der Französischen Nationalversammlung zu verhindern, die die Leugnung des Völkermords unter Strafe stellt. Gleichwohl haben inzwischen viele Parlamente entsprechende Verlautbarungen abgegeben (u. a. Russland, Belgien, die Niederlande, Italien, die Slowakei, Griechenland, Zypern, Schweden und 2004 auch Kanada) sowie internationale Organisationen wie der Europarat.

Brandenburg setzte 2002 als erstes Bundesland den Völkermord an den Armeniern auf den Lehrplan im Fach Geschichte. Nach Interventionen des türkischen Generalkonsuls wurde die entsprechende Stelle in den Richtlinien Anfang 2005 gestrichen, jedoch Ende Januar nach Protesten in der Öffentlichkeit in geänderter Form wieder aufgenommen. (FAZ 24.01.2005, dpa-Meldung, Hamburger Abendblatt 27.01.2005)

Der Deutsche Bundestag debattierte in seiner Sitzung vom 24. April 2005 erstmals eine von CDU/CSU vorgelegte Entschließung, die die Türkei aufforderte, sich zu ihrer historischen Verantwortung für die Massaker an armenischen Christen im Osmanischen Reich zu bekennen. Redner verwiesen dabei auf die deutsche Mitverantwortung für die Gewalttaten durch das Wegschauen der deutschen Regierung, die durch ihre Gesandten über die Geschehnisse genau im Bilde war. Den Begriff des Völkermords vermied die Entschließung. Mit Rücksicht auf den Besuch von Kanzler Schröder in der Türkei wurde ihre Verabschiedung auf die Zeit nach der Reise verschoben.

In der zionistischen Bewegung war die Sicht auf den Völkermord von Anfang an sehr unterschiedlich: Während in Palästina unter Osmanischer Herrschaft geborene Juden sich „loyal“ verhielten und unterwürfig schwiegen, betrachteten russische Juden die Ereignisse kritischer:

Wir, die Zionisten, empfinden aufrechtes Mitgefühl mit dem Schicksal des armenischen Volkes“.

Als im April 2000 Israels Erziehungsminister Yossi Sarid den armenischen Genozid in den Unterricht einzubringen versuchte, kam es zu einer Staatskrise mit der Türkei, da in einer Broschüre des israelischen Außenministeriums folgende Formulierung verwendet wurde:

Nach dem ersten Weltkrieg, mit der Aufnahme von Flüchtlingen vom Massaker in Anatolien, vor allem dem Massenmord von 1915, wuchs die armenische Gemeinde

Nach türkischer Intervention wurde diese geändert in:

Nach dem ersten Weltkrieg wuchs die armenische Gemeinde.

Um nicht dem türkischen Druck ausgesetzt zu sein, erkennt Israel das Leid der Armenier an, vermeidet jedoch eine Festlegung auf die historischen Umstände und die Schuldigen für das Geschehen. Jede Erwähnung von Völkermord und Genozid in Verbindung mit Türkei und Türken unterbleibt mit Rücksicht auf türkische Empfindlichkeiten. Die empörte armenische Reaktion darauf wird in einer offiziellen Stellungnahme beantwortet mit der Verlagerung in eine Historikerdebatte:

Die Erforschung der Ereignisse bei diesem delikaten Thema muss durch eine öffentliche Diskussion und durch Historiker geschehen, natürlich nur aufgrund von Dokumenten und Tatsachen.

Siehe auch

Filme

Musik

Literatur

  • Johannes Lepsius: Bericht über die Lage des armenischen Volkes in der Türkei. Tempel-Verlag, Potsdam 1916
  • Johannes Lepsius: Der Todesgang des Armenischen Volkes: Bericht über das Schicksal des Armenischen Volkes in der Türkei während des Weltkrieges. Tempel-Verlag, Potsdam 1927
  • Johannes Lepsius (Hrsg.): Deutschland und Armenien 1914 – 1918: Sammlung diplomatischer Aktenstücke. Tempel-Verlag, Potsdam 1919 (Nachdruck 1986: ISBN 3-924444-22-6)
  • Therese Lehmann-Haupt: Erlebnisse eines zwölfjährigen Knaben während der armenischen Deportationen: Aufgezeichnet nach dem mündlichen Bericht des Knaben. Donat und Temmen, Bremen 1985, ISBN 3-924444-05-6
  • Tessa Hofmann: Verfolgung, Vertreibung und Vernichtung der Christen im Osmanischen Reich 1912 – 1922. Münster, London, Berlin: LIT Verlag, 2004, ISBN 3-8258-7823-6
  • Wolfgang Gust: Der Völkermord an den Armeniern: Die Tragödie des ältesten Christenvolks der Welt. Hanser Verlag, 1993, ISBN 3446173730. Online-Version
  • Justin McCarthy: Death and Exile - The Ethnic Cleansing of Ottoman Muslims 1821-1922. Princeton 1995, 5. Auflage 2004, ISBN 0878500944.
  • Franz Werfel: Die vierzig Tage des Musa Dagh. Roman-Fischer(Tb), 1933
  • Rolf Hosfeld: Operation Nemesis: Die Türkei, Deutschland und der Völkermord an den Armeniern. Köln 2005, ISBN 3462034685
  • Edgar Hilsenrath: Das Märchen vom letzten Gedanken. Dittrich, Köln 2005, ISBN 3937717048 (Erstausgabe: 1989)