Strukturelle Gewalt
Strukturelle Gewalt ist ein den klassischen Gewaltbegriff umfassend erweiterndes Konzept, das 1971 von dem norwegischen Friedensforscher Johan Galtung formuliert wurde.
Begriff
Johan Galtung ergänzte den traditionellen Gewalt-Begriff, der vorsätzlich destruktives Handeln eines Täters oder einer Tätergruppe bezeichnet, um die Dimension einer diffusen, nicht zurechenbaren strukturellen Gewalt: "Strukturelle Gewalt ist die vermeidbare Beeinträchtigung grundlegender menschlicher Bedürfnisse oder, allgemeiner ausgedrückt, des Lebens, die den realen Grad der Bedürfnisbefriedigung unter das herabsetzt, was potentiell möglich ist“. Diesem erweiterten Gewaltbegriff zufolge ist alles, was Individuen daran hindert, ihre Anlagen und Möglichkeiten voll zu entfalten, eine Form von Gewalt. Hierunter fallen nicht nur alle Formen der Diskriminierung, sondern auch die ungleiche Verteilung von Einkommen, Bildungschancen und Lebenserwartungen, sowie das Wohlstandsgefälle zwischen der ersten und der Dritten Welt. Selbst eingeschränkte Lebenschancen auf Grund von Umweltverschmutzung oder die Behinderung emanzipatorischer Bestrebungen werden hierunter subsumiert. In dieser umfassenden Definition kann Gewalt nicht mehr konkreten, personalen Akteuren zugerechnet werden, sondern sie basiert nur mehr auf Strukturen wie Werten, Normen, Institutionen oder Diskursen. Diese Begriffsbestimmung verzichtet auch auf die Voraussetzung, dass, um von Gewalt sprechen zu können, eine Person oder Gruppe subjektiv Gewalt empfinden muss. Strukturelle Gewalt werde von den Opfern oft nicht einmal wahrgenommen, da die eingeschränkten Lebensnormen bereits internalisiert seien.
Vorgeschichte
Der Gedanke, dass den gesellschaftlichen Systemen und Subsystemen Gewalt inhärent sei, geht bis in das 5. vorchristliche Jahrhundert zurück. So schrieb der chinesische Philosoph Me-Ti: "Es gibt viele Arten zu töten. Man kann einem ein Messer in den Bauch stechen, einem das Brot entziehen, einen von einer Krankheit nicht heilen, einen in eine schlechte Wohnung stecken, einen zum Selbstmord treiben, durch Arbeit zu Tode schinden, einen in den Krieg führen usw. Nur weniges daran ist in unserem Staat verboten." Diesen Gedanken hatte Heinrich Zille später in dem Diktum zugespitzt, man könne mit einer Wohnung einen Menschen genauso erschlagen wie mit einer Axt.
Theoretisch ausformuliert wurde diese Vorstellung von Karl Marx. Dieser machte in der Diskussion des Gewaltbegriffs darauf aufmerksam, dass Gewalt auch in den gesellschaftlichen Verhältnissen selbst begründet sein kann, dass sie in manifester oder latenter Form alle politischen und sozialen Beziehungen durchdringt. Der Gewaltbegriff wandelte sich hier von einem Handlungsbegriff zu einem (gesellschaftlichen) Strukturprinzip.
Die Kritische Theorie setzte diese Marx'sche Denktradition fort. Dabei ist vor allem Herbert Marcuse und sein 1964 erschienenes Werk „Der eindimensionale Mensch“ zu nennen. Hier werden die pluralistischen Demokratien der westlichen Welt als repressive, ja „totalitäre“ Gesellschaften beschrieben, die sich auf Indoktrination, Manipulation, Ausbeutung und Krieg gründeten. Kritik bleibe fruchtlos, da sie in das „eindimensionale“ System von Politik, Wirtschaft und Kulturindustrie integriert würde.
Zu einer ähnlichen Sicht kommt auch der französische Wissenssoziologe und Historiker Michel Foucault, dessen gleichfalls Anfang der siebziger Jahre entstandene Macht-Theorie strukturalistisch und apersonal geprägt ist.
Folgen
Der umfassende, nicht trennscharfe und personal nicht zurechenbare Gewaltbegriff wurde zu einem klassischen Topos, um insbesondere gewaltätigen Widerstand theoretisch zu legitimieren. So betonte etwa Marcuse, dass es für unterdrückte Minderheiten ein "Naturrecht auf Widerstand" gebe: Wenn diese Minderheiten Gewalt anwendeten, so begönnen sie keine neue Kette von Gewalttaten, sondern zerbrächen die etablierte. Hierin wird deutlich, dass der Begriff der institutionalisierten Gewalt impliziert, dass eine Überwindung der beschriebenen Zustände im Wege der inneren Reform nicht möglich ist. Wenn die strukturelle Gewalt den kritisierten Gesellschaftsformen wesenshaft inhärent sind, so bedarf es eines revolutionären Prozesses, um sie aufzubrechen.
Dies war beispielsweise auch eine zentrale Legitimationsstrategie der RAF, die revolutionäre Gewalttaten stets mit der vorgängigen "Gewalt des Systems" rechtfertigten.
Siehe auch
Repression, Überwachen und Strafen, Gewaltmonopol, Positiver Frieden
Literatur
- Johan Galtung, Gewalt, Frieden und Friedensforschung, in: Dieter Senghaas (Hg.), Kritische Friedensforschung, Frankfurt 1971
- Walter Benjamin, Zur Kritik der Gewalt und andere Aufsätze, 1965
- Giorgio Agamben: Homo Sacer, Torino, Giulio Einaudi, 1995 (engl.: Homo sacer. Sovereign Power and Bare Life (1998)(dt.: Homo Sacer. Die souveräne Macht und das nackte Leben. Frankfurt Main 2002)
- Giorgio Agamben: (Homo Sacer II)Quel che resta di Auschwitz, Torino, Bollati Boringhieri, 1998 (dt.: Was von Auschwitz bleibt. Das Archiv und der Zeuge. Frankfurt am Main 2003)
- Michel Foucault: Überwachen und Strafen, Frankfurt am Main 1977