Widerspruchsfreiheit
In der Logik gilt eine Menge von Aussagen als widerspruchsfrei, wenn aus ihr kein Widerspruch logisch abgeleitet werden kann. Da ein ableitbarer Widerspruch die Falschheit und Ungültigkeit der Aussagen beweist, ist die Widerspruchsfreiheit eine wichtige Voraussetzung für die Brauchbarkeit und Korrektheit wissenschaftlicher Theorien, logischer Kalküle oder mathematischer Axiomensysteme. Die Widerspruchsfreiheit kann nur innerhalb eines Kalküls mit gegebenen Schlussregeln definiert werden und gelten.
Die Konsistenz wird meist als gleichbedeutend zur Widerspruchsfreiheit angesehen, kann aber auch allgemeiner definiert werden für Kalküle, die vom üblichen Gebrauch von Widersprüchen abweichen. Die relative Konsistenz bedeutet, dass in einem als konsistent angenommenen Axiomensystem die Erweiterung durch Zusatzaxiome konsistent ist.
Definitionen
Man betrachtet stets einen gegebenen Kalkül mit einem Ableitbarkeitsoperator , bei dem soviel bedeutet wie "aus ist ableitbar".
Die Widerspruchsfreiheit wird dann sowohl für eine Formelmenge als auch für den ganzen Kalkül definiert:
- Eine Formelmenge heißt widerspruchsfrei im Kalkül, wenn für keine Formel gilt.
- Der Kalkül heißt widerspruchsfrei, wenn die leere Formelmenge konsistent im Kalkül ist.
- Eine nicht-widerspruchsfreie Aussagenmenge im Kalkül gilt als widersprüchlich im Kalkül.
- Ein nicht-widerspruchsfreier Kalkül gilt als widersprüchlich.
- Die Aussagemenge heißt widerspruchsfrei relativ zu im Kalkül, falls aus der Widerspruchsfreiheit der Aussagenmenge folgt, dass auch die Vereinigung beider Aussagenmengen widerspruchsfrei im Kalkül ist.
Die Konsistenz ist allgemeiner und einfacher definierbar:
- Eine Formelmenge heißt konsistent im Kalkül, wenn für eine Formel nicht gilt.
- Der Kalkül heißt konsistent, wenn die leere Formelmenge konsistent im Kalkül ist.
- Eine nicht konsistente Aussagenmenge im Kalkül gilt als inkonsistent im Kalkül.
- Ein nicht konsistenter Kalkül gilt als inkonsistent.
- Die Aussagemenge heißt konsistent relativ zu im Kalkül, falls aus der Konsistenz der Aussagenmenge folgt, dass auch die Vereinigung beider Aussagenmengen konsistent im Kalkül ist.
Gilt im Kalkül die Regel ex falso quodlibet, dass aus einem Widerspruch jede beliebige Aussage folgt, dann ist offenbar die Widerspruchfreiheit gleichbedeutend mit der Konsistenz. Dies ist in der klassischen Logik und in der intuitionistischen Logik der Fall.
Inkonsistenzbeweise
Meist ist es einfach, die Widersprüchlichkeit oder Inkonsitenz einer Aussagenmenge zu zeigen, etwa in folgendem Beispiel:
- Folgende Aussagen bilden eine widersprüchliche Aussagenmenge im Syllogistikkalkül, insbesondere ist Aussage (4) nicht widerspruchsfrei relativ zu den Aussagen (1)(2)(3):
- (1) Alle Menschen sind Lebewesen. Formel: MaL
- (2) Alle Vorfahren von Sokrates sind Menschen. Formel: VaM
- (3) Alle Vorfahren von Sokrates sind tot. Formel: VaT
- (4) Keine Toten sind Lebewesen. Formel: TeL
- Beweis (Ableitung): MaL, VaM VaL (barbara). TeL, VaL VeT (cesare). VeT VoT (subaltern). VoT ist kontradiktorisch zu VaT (Widerspruch per Definition des o-Prädikats).
Der berühmteste einfache klassische Inkonsistenzbeweis ist die Ableitung der Russellschen Antinomie in Freges Arithmetik-Kalkül, den Bertrand Russell 1902 entdeckte.[1] Die Inkonsistenz in allgemeiner Form für klassische und nicht-klassische Kalküle liegt der Ableitung in Currys Paradoxon von 1942 zugrunde; dort wird für einen allgemeinen Aussagenkalkül die relative Inkonsistenz einer selbstbezüglichen Aussage gezeigt.
Andere populäre Antinomien und Paradoxone, etwa das Lügner-Paradoxon, beziehen sich nicht auf einen Kalkül, sondern sind Trugschlüsse, die auf intuitiven, undurchsichtigen, unerlaubten Schlussweisen beruhen. Solche Beispiele zeigen, wie wichtig es ist, dass das logische Schließen in Kalkülen geregelt wird.
Inkonsistenzbeweise sind deswegen meist einfach zu führen, weil hierzu nur eine einzige Ableitung eines Widerspruchs nötig ist. Die Kehrseite der Widerspruchsfreiheit und Konsistenz ist daher eher eine triviale Angelegenheit. Anspruchsvoller sind dagegen echte Widerspruchsfreiheitsbeweise, da hier alle möglichen Ableitungen betrachtet werden müssen und ausgeschlossen werden muss, dass sich darunter ein Widerspruch befindet.
Widerspruchsfreiheitsbeweise
Das Bedürfnis nach Widerspruchsfreiheitsbeweisen trat an der Wende zum 19. Jahrhundert auf, als in der Mengenlehre Widersprüche bekannt wurden. Georg Cantor, der Begründer der Mengenlehre, entdeckte sie selbst und teilte die erste Cantorsche Antinomie 1897 David Hilbert brieflich mit.[2] Drei Jahre später stellte Hilbert dann die Frage „Sind die arithmetischen Axiome widerspruchsfrei?“ als zweites seiner berühmten mathematischen Probleme.[3] Russell machte 1903 die Widerspruchsfreiheitsproblematik allgemein bewusst und entwarf zur Lösung 1903-1908 seine Typentheorie, die 1910 in die „Principia mathematica“ einging. Ernst Zermelo schuf 1907 die axiomatische Mengenlehre, die sich in der Mathematik später durchsetzte in Form der erweiterten Zermelo-Fraenkel-Mengenlehre. In ihr konnten bisher keine Widersprüche mehr abgeleitet werden, aber auch kein Widerspruchsfreiheitsbeweis erbracht werden.
In den Jahren 1920-22 entwickelte Hilbert dann sein Programm, die Widerspruchsfreiheit axiomatischer Theorien zu beweisen.[4][5] Es wurde als Hilberts Programm bekannt und konnte für zentrale Gebiete der Logik erfolgreich umgesetzt werden:
- Die Widerspruchsfreiheit der klassischen Aussagenlogik wurde 1918/1926 von Paul Bernays[6] und 1921 von Emil Leon Post[7] bewiesen.
- Die Widerspruchsfreiheit der klassischen Prädikatenlogik erster Stufe wurde 1927 von John von Neumann gezeigt.[8]
Hilberts Programm, das sich auf finite metalogische Beweismittel beschränkte, versagte aber bei der Arithmetik und darauf aufbauenden Axiomensystemen¸ was Kurt Gödel in seinen Unvollständigkeitssätzen von 1931 zeigte.[9] Spätere Mathematiker modifizierten daher Hilberts Programm, indem sie die Beweismittel erweiterten (z.B. um transfinite Methoden), und erzielten damit neue Ergebnisse:
- Die Widerspruchsfreiheit der allgemeinen Mengenlehre (ZFC ohne Unendlichkeitsaxiom) wurde 1930 von Zermelo gezeigt mit Hilfe mengentheoretischer Modelle, ebenso die Widerspruchsfreiheit von ZFC in einer Meta-Mengenlehre mit stark unerreichbaren Kardinalzahlen.[10]
- Die Widerspruchsfreiheit der Arithmetik wurde 1936 von Gerhard Gentzen bewiesen.[11]
- Die Widerspruchsfreiheit der allgemeine Mengenlehre wurde 1937 von Wilhelm Ackermann gezeigt im Rückgriff auf Gentzen.[12]
- Die Widerspruchsfreiheit der klassischen Analysis wurde 1951 von Paul Lorenzen nachgewiesen.[13]
Wegen Gödels Unvollständigkeitssätzen ist die Widerspruchsfreiheit der Mengenlehre ohne wesentlich stärkere Meta-Axiome (wie Zermelo 1930) nicht beweisbar. Deshalb bleibt im üblichen mengentheoretischen Rahmen die Frage nach der Widerspruchsfreiheit von ZF offen und wird in relativen Konsistenzbeweisen stets angenommen. Die wichtigsten Ergebnisse betreffen hier wichtige Zusatzaxiome zu ZF:
- Die Konsistenz des Fundierungsaxioms relativ zu ZF wurde 1929 von John von Neumann gezeigt [14]
- Die Konsistenz des Auswahlaxioms und der verallgemeinerten Kontinuumshypothese relativ zu ZF wurde 1940 von Kurt Gödel bewiesen.[15]
Referenzen
- ↑ Russells Brief an Frege vom 16. Juni 1902. In: Gottlob Frege: Briefwechsel mit D.Hilbert, E. Husserl, B. Russell, ed. G. Gabriel, F. Kambartel, C.Thiel, Hamburg 1980, S. 59f, http://books.google.de/books?id=LH0I5fSzhtkC&pg=PA59#v=onepage&q=&f=false
- ↑ Brief von Cantor an Hilbert vom 26. September 1897, in: Georg Cantor, Briefe, ed. H. Meschkowski und W. Nilson, Berlin, Heidelberg, New York 1999, S. 388
- ↑ David Hilbert: Mathematische Probleme, 1900, in: Archiv für Mathematik und Physik, 3. Reihe, Band I (1901), 44-63, 213-237
- ↑ David Hilbert: Neubegründung der Mathematik, 1922, in: Abhandlungen aus dem Mathematischen Seminar der Hamburger Universität, Band I (1922), 157-177
- ↑ David Hilbert: Die logischen Grundlagen der Mathematik, 1922, in: Mathematische Annalen 88 (1923), 151-165
- ↑ Paul Bernays: Axiomatische Untersuchung des Aussagenkalkuls der „Principia Mathematica“, Habilitationschrift Göttingen 1918, gekürzt abgedruckt in: Mathematische Zeitschrift 25 (1926), 305-320
- ↑ Emil Leon Post: Introduction to a General Theory of Elementary Propositions, in: American Journal of Mathematics 43 (1921), 163-185
- ↑ John von Neumann: Zur Hilbertschen Beweistheorie, in: Mathematische Zeitschrift 26 (1927), 1-46
- ↑ Kurt Gödel: Über formal unentscheidbare Sätze der Principia Mathematica und verwandter Systeme, in: Monatshefte für Mathematik und Physik 38 (1931), 173-198
- ↑ Ernst Zermelo: Grenzzahlen und Mengenbereiche, in: Fundamenta Mathematicae 16 (1930), 29-47
- ↑ Gerhard Genzten: Die Widerspruchsfreiheit der reinen Zahlentheorie, in: Mathematische Annalen, 112 (1936), 493-565
- ↑ Wilhelm Ackermann: Die Widerspruchsfreiheit der allgemeinen Mengenlehre, in: mathematische Annalen 114 (1937), 305-315
- ↑ Paul Lorenzen: Die Widerspruchsfreiheit der klassischen Analysis, in: Mathematische Zeitschrift 54 (1951) 1-24
- ↑ John von Neumann: Über eine Widerspruchsfreiheitsfrage in der axiomatischen Mengenlehre, in: Journal für die reine und angewandte Mathematik (Crelle) 160 (1929), 227-241
- ↑ Kurt Gödel: The Consistency of the Axiom of Choice and of the Generalized Continuum Hypothesis with the Axioms of Set Theory, in: Annals of Mathematical Studies, Volume 3, Princeton University Press, Princeton, NJ, 1940, ed. in: Collected Works II, Oxford 1990, 33-101