Amoklauf an einer Schule
Für Amokläufe an Bildungseinrichtungen, also an Schulen und Universitäten, hat sich in vielen wissenschaftlichen Publikationen im Gegensatz zum allgemeinen deutschen Sprachgebrauch der Begriff School Shooting [1] durchgesetzt, wenngleich nicht alle Taten mit Schusswaffen oder jede Schießerei auf Amoktaten zurückzuführen sind. Mit diesem Begriff werden Tötungen und Tötungsversuche von Jugendlichen bezeichnet, die in einem direkten Bezug zu einer schulischen Einrichtung begangen werden. Dieser Bezug kann sich in der Wahl der Opfer insbesondere auch nach ihrer Funktion in der entsprechenden Bildungseinrichtung äußern. „Amokläufe bzw. Massenmorde an Schulen“ und „schwere zielgerichtete Gewalttaten an Schulen“ werden häufig synonym verwendet. In Medien ist häufig auch von „Schulmassakern“ die Rede.
Solche Taten gab es vereinzelt schon früher, so beim Schulmassaker von Bath 1927 oder beim Attentat von Volkhoven 1964. In neuerer Zeit treten derartige Taten häufiger auf, und die Täter entstammen dem Kreis der aktuellen oder kurz zuvor entlassenen Schüler selbst, wie etwa beim Schulmassaker von Littleton 1999, dem Amoklauf von Erfurt 2002[2], dem Amoklauf von Emsdetten 2006, dem Amoklauf an der Virginia Tech 2007, dem Amoklauf in Winnenden und dem Amoklauf in Ansbach 2009.
Merkmale
Bei der Mehrzahl der School Shootings handelt es sich um geplante und vorbereitete Taten, die einem bestimmtem Schema folgen (Vossekuil et al., 2002). Der Entschluss zur Tat reift hierbei über einen längeren Zeitraum heran und wird vermutlich durch ein unspezifisches Ereignis ausgelöst, die dem Täter die zielgerichtete tödliche Gewalt schließlich als einzige Problemlösung erscheinen lässt (vgl. auch Gallwitz, 2001). Als Auslöser werden in der Literatur regelmäßig Kränkungen und Verluste genannt, die vom Täter als schwerwiegend wahrgenommen werden (Hoffmann, 2002). Begleitend werden tatauslösende Sog- oder Modellwirkungen besonders medienwirksamer Taten genannt. Robertz (2004) wies auf eine periodische Häufung von Schulamoktaten im Zusammenhang mit Jahrestagen spektakulärer Amoktaten hin (2007a).
Amokläufe an Bildungseinrichtungen werden meist durch Einzeltäter begangen. Robertz (2004) nennt einen Anteil von 97 Prozent und einen Altersdurchschnitt der Täter von 15,6 Jahren. In der Forschungsliteratur werden nur wenige Positivmerkmale der Täter benannt. Adler (2000) stellte drei psychologisch-psychiatrische Typologien vor, indem er zwischen (wahnhaft-)schizophrenen, (schamhaft-)depressiven und (narzisstisch-)persönlichkeitsgestörten Tätern unterscheidet. Letztere betrachtet er als gefährlichste Gruppierung, deren Taten am opferreichsten sind. Aufbauend auf US-amerikanischen empirischen Studien widerspricht Hoffmann (2007) typischen Thesen über Schulamoktäter. Nach diesen empirischen Befunden haben die Täter kein einheitliches demographisches Profil, weisen selten schwere psychische Störungen auf, stammen selten aus sogenannten „kaputten Elternhäusern“ (broken homes), sind nicht ausschließlich sozial isolierte Einzelgänger und begehen ihre Taten geplant.
Innerhalb der Gruppe jugendlicher Schulamoktaten wurden meist entweder Lehrer oder Schüler angegriffen, abhängig von der zurückliegenden Kränkung. Robertz (2004) stellte fest, dass jeweils ungefähr in einem Drittel der Fälle ausschließlich das Lehrpersonal, ausschließlich Mitschüler oder sowohl Schulpersonal wie auch Schüler verletzt wurden. Vossekuil et al. (2002) gibt einen Lehreranteil von 54 % an. Nur in wenigen Fällen gibt es sog. Todeslisten. [3]
Die meisten Fälle zeigen einen unmittelbar nach der Tat anschließenden Suizid(-versuch) auf. Daher wird in der Forschung auch von „Homizid-Suizid“ gesprochen. Angenommen wird, dass dieser ein geplantes Tatelement darstellt. Darüber hinaus wird aber ebenso vermutet, dass Täter sich suizidieren, um eine Rückkehr in die „Hauptrealität“ nach der Tat zu vermeiden.[4]
Das Erstellen von Todeslisten [5] und genauen Ablaufplänen im Vorfeld der Tat [6], sowie das Verfassen und Veröffentlichen von Abschiedsbriefen oder -videos deuten im Vorfeld des Amoklaufs auf die Planung der Tat hin. Sogenannte Leakings (Durchsickern) wie zum Beispiel das Aussprechen von Warnungen oder Umsetzung gewalthaltiger Phantasien in Worten, Bildern oder Geschichten sind weitere mögliche Merkmale im Vorfeld dieser Taten. [7]
siehe auch: Forschung zu Amoktaten
Präventionsmaßnahmen
Unterschieden wird zwischen grundlegenden Präventionsmaßnahmen (Prophylaxe), die entweder an der Förderung von Schutzfaktoren oder an der Verhinderung bzw. Verminderung von Risikofaktoren ansetzen, und der einzelfallbezogenen Krisenintervention. Nach Bannenberg (2007) kann keine spezifische Amok-Prävention erfolgen, sondern lediglich allgemeine Maßnahmen wie der Suizid- oder Gewaltprävention.
Folgenden Präventionsmaßnahmen zielen auf die Stärkung von Schutzfaktoren ab (vgl. Aronson, 2001):
- Schulpsychologische und sozialarbeiterische Konzepte
- Stärkung des Selbstbewusstseins
- Vermittlung von Selbstwirksamkeitserleben und Erfolgserfahrungen
- Abbau von Ängsten (Schulangst)
Als Präventionsmaßnahmen zur Verminderung von Risikofaktoren gelten etwa:
- Zugangskontrolle zu Waffen
- Verbot und Kontrolle von Gewaltdarstellungen
- Verhinderung oder Verminderung von Modellwirkungen durch opferbezogene, sachliche und keinesfalls idealisierende Darstellung von Amoktaten insbesondere durch Medien, um Nachahmungstaten zu bekämpfen.
Politische Maßnahmen
Die Zunahme von Amoktaten wird von einigen mit einer steigenden Gewaltbereitschaft und sinkenden Hemmschwelle aufgrund von Trainings- und Desensibilisierungseffekten durch gewalthaltige Computerspiele oder Filme erklärt, die insbesondere sozial nicht fest verwurzelte und labile Schüler massiv beeinflussen könnten. Die sogenannte „Killerspiele-These“ wurde bisher wissenschaftlich nicht erwiesen.[8] – unklar bleibt jedoch der Kausalzusammenhang.[9]
Das Jugendschutzgesetz enthält spezielle Passagen, die sich auf Mediennutzung beziehen.[10] Im Zusammenhang mit gewalthaltigen Medien erscheint der Teilaspekt der Nachahmung, das Aufgreifen und Ausleben der Idee durch junge Menschen als relevant für das Verständnis von Schulschießereien. Darauf deuten Nachahmungen der Täter von „Heldenfiguren“ [11] aus bekannten Filmen oder Computerspielen hin. Die Gefahr von Nachahmungstaten und Trittbrettfahrern steige zudem durch die Häufung der Fälle und der Medienpräsenz.
In den Vereinigten Staaten werden an Bildungseinrichtungen vermehrt Waffenkontrollen durchgeführt.[12][13] In Deutschland gab es mehrere Änderungen im Waffenrecht. [14]
Einzelnachweise
- ↑ Frank Robertz, Ruben Wickenhäuser: Der Riss in der Tafel- Amoklauf und schwere Gewalttaten in der Schule: Amoklauf und schwere Gewalt in der Schule Springer, 2007 S.10
- ↑ Bericht der Kommission Gutenberg-Gymnasium zu den Vorgängen beim Erfurter Schulmassaker am 26. April 2002 in der Thüringer Allgemeine
- ↑ Amoktaten – Forschungsüberblick unter besonderer Beachtung jugendlicher Täter im schulischen Kontext 2007, LKA NRW
- ↑ Landeskriminalamt NRW (2007). Amoktaten – Forschungsüberblick unter besonderer Beachtung jugendlicher Täter im schulischen Kontext, Kriminalistisch-Kriminologische Forschungsstelle Analysen, 3/
- ↑ „Die Todesliste von Usedom“, dpa / stern, 28. Oktober 2005
- ↑ „Amoklauf von Emsdetten. Das Tagebuch von Sebastian B.“, stern, 22. November 2006
- ↑ „Blacksburg-Massaker. Amokläufer versuchen, andere Täter zu überbieten“, Spiegel Online, 20. April 2007
- ↑ „Studien: Computerspiele können aggressiv machen“, Heise online, 1. Dezember 2006
- ↑ Übersichtsstudie „Medien und Gewalt“ des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
- ↑ „Medienwissenschaftler: Kein neues Gesetz für Gewaltspiele nötig“, Heise online, 14. Februar 2007
- ↑ „Video-Vermächtnis mit Waffe, Mantel, Kampfstiefeln“, Spiegel online, 20. November 2006
- ↑ „Schule gegen Gewalt“, Rheinische Post, 23. November 2006
- ↑ „Amerikas Waffen, Amerikas Tragödie“, Spiegel online, 18. April 2007
- ↑ Union und Polizisten lehnen schärferes Waffenrecht ab, Spiegel Online vom 11. März 2009
Siehe auch
- Gewalt an Schulen
- Mobbing in der Schule
- DYRIAS
- Darstellung von Gewalt in Medien
- Jugendmedienschutz
- Nichtanzeige geplanter Straftaten
- Störung des öffentlichen Friedens durch Androhung von Straftaten
Literatur
- Richard Albrecht: Nur ein „Amokläufer“? − Sozialpsychologische Zeitdiagnose nach „Erfurt“; in: Recht und Politik, 38 (2002) 3, 143−152.
- Freerk Huisken: z.B. Erfurt: was das bürgerliche Bildungs- und Einbildungswesen so alles anrichtet, VSA-Verlag, Hamburg 2002, ISBN 3-87975-878-6
- Frank Robertz, Ruben Wickenhäuser: Der Riss in der Tafel. Amoklauf und schwere Gewalt in der Schule. Springer, Heidelberg 2007
- Elsa Pollmann: „Tatort Schule. Wenn Jugendliche Amok laufen“. Tectum Verlag, Marburg 2008
- Bryan Vossekuil: Final Report And Findings Of The Safe School Initiative: Implications For The Prevention Of School Attacks In The U.s., Verlag Diane Pub Co, 2004, ISBN 978-0-75673-980-5
- Robert A. Fein, Bryan Vossekuil, William S. Pollack, Randy Borum, William Modzeleski, Marisa Reddy: Handreichung zur Einschätzung bedrohlicher Situationen in Schulen, United States Secret Service - United States Department of Education, Washington, D.C., Mai 2002 (PDF-Datei; 333 kB)
- Kühling, Anne: "School Shooting - Ursachen und Hintergründe zu extremen Gewalttaten an deutschen Schulen", VVSWF, 2009
Film
- Amokläufer im Visier. Dokumentation, Deutschland, 2007, 43 Min., Regie: Marita Neher, Produktion: ZDF, Erstsendung: 7. März 2008, Inhaltsangabe von arte und Informationen über die Ausstrahlung vom 11.03.2009 auf Phoenix
- Elephant, Spielfilm, USA, 2003, Regie: Gus Van Sant
- Bowling for Columbine, Dokumentation, USA, 2002, Drehbuch und Regie: Michael Moore
Weblinks
- School Shootings (1997-2007)
- „Anerkennung für Amokläufer? Prinzipien zur verantwortungsvollen Berichterstattung bei schweren Gewalttaten“, Telepolis, 9. Dezember 2006
- Amokprävention „Sprungtuch“ des DRK Kreisverband Kehl
- Amoktaten - Forschungsüberblick unter besonderer Beachtung jugendlicher Täter im schulischen Kontext, LKA NRW, 2007 (PDF-Datei; 225 kB)
- Causes of school shootings. Reviewing the social interaction of pupils.
- Herbert Scheithauer, Dietmar Heubrock: Gewalt an deutschen Schulen, Präventives Eingreifen als Lebensretter
- Kühling, Anne: "School Shooting - Ursachen und Hintergründe zu extremen Gewalttaten an deutschen Schulen"