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Walter Linse

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Walter Linse in sowjetischer Haft, 1953

Walter Linse (* 23. August 1903 in Chemnitz; † 15. Dezember 1953 in Moskau) war ein deutscher Jurist. Der Rechtsanwalt arbeitete für den West-Berliner Untersuchungsausschuss Freiheitlicher Juristen (UFJ), der Menschenrechtsverletzungen in der DDR dokumentierte. Er wurde vom Ministerium für Staatssicherheit (MfS) im Juli 1952 nach Ost-Berlin entführt und im Moskauer Butyrka-Gefängnis hingerichtet, aber 1996 als politisches Opfer durch den russischen Generalstaatsanwalt rehabilitiert. 2007 wurde in der Öffentlichkeit seine frühere Tätigkeit während der Zeit des Nationalsozialismus als Beauftragter für die Arisierung jüdischer Unternehmen bei der IHK bekannt und zum Anlass einer anhaltenden Kontroverse über sein damaliges Verhalten und seine Persönlichkeit.

Leben

Linse war der Sohn eines Postsekretärs in Chemnitz und besuchte dort zunächst die Realschule und dann die Oberrealschule. Nach dem Abitur (1924) studierte er Rechtswissenschaften in Leipzig. 1927 legte er nach nur sieben Semestern das Erste juristische Staatsexamen ab, anschließend absolvierte er ein Referendariat in Sachsen und 1931 in Dresden das Zweite juristische Staatsexamen. Er war danach als Assessor im sächsischen Staatsdienst und Hilfsrichter in Leipzig tätig, schied jedoch Ende 1933 aus unbekannten Gründen aus dem Staatsdienst aus. In der Folgezeit bereitete er eine juristische Dissertation über den Begriff des „untauglichen Versuchs“ im Strafrecht vor und wurde 1936 an der Universität Leipzig promoviert.

NS-Zeit

1938 trat er als Referent in die Industrie- und Handelskammer in Chemnitz ein,[1] übernahm dort im September 1938 die „Bearbeitung von Entjudungsvorgängen“ und war bis 1940/41 ausschließlich mit der Arisierung der jüdischen Gewerbebetriebe im Bezirk Chemnitz betraut. Ausweislich einer im Bundesarchiv aufgefundenen Mitgliedskarte trat Linse am 1. Oktober 1940 mit der Mitgliedsnummer 8.336.675 in die NSDAP ein. Eine Unterschrift von Linse findet man dort nicht. Außerdem ist sein Vorname falsch geschrieben (Walther). Nach dem Abschluss der Arisierung übernahm er auch Aufgaben im Rahmen des „totalen Kriegseinsatzes“ bei der Koordinierung von jüdischer Zwangsarbeit und war hierbei unter anderem dafür zuständig, Anträge kriegswichtiger Unternehmen auf Freistellung „halbjüdischer“ Mitarbeiter von Einsätzen als Zwangsarbeiter in der Organisation Todt zu bearbeiten. Sein Referat IIIe blieb bis 1945 für alle „Judenangelegenheiten“ in der IHK Chemnitz zuständig.

Sowjetische Besatzungszone

Nachdem Chemnitz am 8. Mai 1945 von sowjetischen Truppen besetzt worden war, blieb Linse weitgehend unangefochten im Amt und ließ noch im Juni 1945 eine Notiz zu den Akten der IHK nehmen, in der er die Arisierung jüdischer Unternehmen zwar als „Unrecht“ bezeichnete, sich aber gegen eine Rückgabe an die ursprünglichen jüdischen Besitzer aussprach, solange die Wiedergutmachung nicht reichs- oder landeseinheitlich geregelt sei.

Er musste sich allerdings wegen zweier Denunziationen 1945 und 1948 rechtfertigen, die seine frühere Mitgliedschaft in der NSDAP zur Anzeige brachten. Linse leugnete diese, indem er angab, unter Druck seines Vorgesetzten sich zur Mitgliedschaft zwar angemeldet, aber nie in die Partei eingetreten zu sein[2]. Im Juni 1945 wurde ihm durch einen Mitbürger namens Eugen Fischer bescheinigt, dass er während des Krieges einer Widerstandsgruppe mit Namen „Ciphero“ angehört habe, die jedoch nur durch zwei derartige Erklärungen Fischers und ansonsten nicht weiter bezeugt ist. Auch in späteren Jahren wurde ihm noch einmal durch einen Brief bescheinigt, dass er "unter Aufopferung seiner Existenz" zur Rettung eines Juden aus dem KZ Buchenwald beigetragen habe. Die durch die Denunziationen ausgelösten polizeilichen Ermittlungen blieben jeweils ohne Ergebnis, Linse zog daraus jedoch die Konsequenz, dass er 1945 ein kurzzeitiges Engagement in der LDP wieder beendete und seinen Wunsch, Wirtschaftsminister zu werden, nicht weiter verfolgte.[3].

Linse stieg zum Hauptgeschäftsführer der IHK auf und führte in dieser Funktion 1946/47 die Entnazifizierung der steuer- und wirtschaftsberatenden Berufe bei der IHK Chemnitz durch, wobei der von ihm geleitete Ausschuss in den entsprechenden Prüfungsverfahren in einigen Fällen auch schwerbelasteten Personen die Genehmigung zur Weiterführung ihres Berufs erteilt haben soll.

Er blieb bis Juni 1949 als Hauptgeschäftsführer der IHK Chemnitz tätig und soll zu dieser Zeit der letzte IHK-Hauptgeschäftsführer in der Sowjetischen Besatzungszone gewesen sein, der noch nicht Mitglied der SED geworden war.

West-Berlin

Im Juni 1949 übersiedelte er dann nach West-Berlin. 1950 nahm er eine Arbeitsstelle beim Untersuchungsausschuss Freiheitlicher Juristen an, beriet Gewerbetreibende aus der DDR in Enteignungsfragen und wurde 1951 Leiter der Wirtschaftsabteilung. 1952 bereitete er einen Internationalen Juristenkongress in West-Berlin vor.

DDR-Haft und Prozess

Das Ministerium für Staatssicherheit kidnappte ihn am 8. Juli 1952, morgens um 7.22 Uhr, wenige Meter von seinem Wohnhaus entfernt in der Gerichtsstraße 12 in Berlin-Lichterfelde. Ein MfS-Mitarbeiter bat ihn um Feuer. Als Linse in seiner Aktentasche suchen wollte, versetzte er ihm Faustschläge. Ein anderer Geheimdienstmann packte ihn von hinten und zog den sich heftig wehrenden Linse in einen als Taxi getarnten Opel. Linse wurde dabei ins Bein geschossen. Ein Lieferwagenfahrer versuchte vergeblich, das Auto zu rammen. Die Kidnapper entkamen mit hoher Geschwindigkeit über die Grenze des amerikanischen Sektors nach Teltow in der DDR.

Bis Dezember 1952 wurde Linse im MfS-Gefängnis in Hohenschönhausen inhaftiert. Das MfS zeichnete hier mit versteckten Mikrofonen seine Selbstgespräche und Gebete auf. Dann wurde er an den sowjetischen Geheimdienst MGB, den späteren KGB, in Berlin-Karlshorst übergeben. Zermürbt von den Verhören, bekannte sich Linse gegenüber den Vernehmern der Spionage und Subversion gegen die DDR für schuldig. Am 23. September 1953 wurde er von einem sowjetischen Militärgericht wegen Spionage, antisowjetischer Propaganda und Bildung einer antisowjetischen Organisation zum Tode verurteilt.

Nach seinem Kassationsbegehren wurde er in die Moskauer Lubjanka verlegt. Dort bestätigte das Militärkollegium des Obersten Gerichtshofs der Sowjetunion am 15. Dezember 1953 das bestehende Gerichtsurteil. Linse wurde am gleichen Tag im Butyrka-Gefängnis in Moskau erschossen. Der Leichnam wurde in einem Krematorium auf dem Gelände des Donskoi-Friedhofs verbrannt und seine Asche in einem Massengrab bestattet.

In West-Berlin fand zwei Tage nach der Entführung eine Protestkundgebung zur Freilassung Linses vor dem Rathaus Schöneberg statt, an der 25.000 Menschen teilnahmen. Ernst Reuter appellierte an das Weltgewissen. Als Reaktion auf die Entführung mit einem Pkw wurden die Straßenübergänge von West-Berlin nach Ost-Berlin und in die sowjetische Zone bis auf wenige kontrollierte Übergänge für den Fahrzeugverkehr mit Barrieren versperrt.

Nachleben

1961 wurde die Gerichtsstraße in Berlin-Lichterfelde in Walter-Linse-Straße umbenannt. Am 8. Mai 1996 wurde Linse durch den Generalstaatsanwalt Russlands als politisches Opfer rehabilitiert.

Am 29. Juni 2007 schrieb der Förderverein der Stasi-Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen einen mit 5000 Euro dotierten „Walter-Linse-Preis“ aus zur Ehrung von Personen, die sich „in herausgehobener Weise um die Auseinandersetzung mit der kommunistischen Diktatur verdient gemacht haben“. Kurz zuvor hatte jedoch die Stiftung Sächsische Gedenkstätten eine Linse-Biographie des Politologen Benno Kirsch veröffentlicht, durch die erstmals Hinweise auf die von Kirsch hierbei weitgehend positiv gezeichnete Rolle Linses während der NS-Zeit öffentlich bekannt wurden. Nachdem der Berliner Landesbeauftragte für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR, Martin Gutzeit, den Vorsitzenden des Fördervereins Jörg Kürschner am 6. Juli 2007 aufgefordert hatte, die Auslobung des Preises bis zu einer Klärung der Belastung Linses auszusetzen, kam der Förderverein dieser Forderung im August zwar nach, Kürschner nahm Linse jedoch engagiert in Schutz und bezichtigte Gutzeit seinerseits des „medialen Totschlags“ an dem Menschenrechtler Linse.

Im Auftrag des Landesbeauftragten legte der Jurist und Historiker Klaus Bästlein im September 2007 ein Gutachten zur Rolle Linses in den Jahren bis 1949 vor, das sich mit der Arbeit Kirschs kritisch auseinandersetzte und auf der Grundlage eigener Prüfung von Archivunterlagen und persönlichen Aufzeichnungen Linses zu dem Ergebnis kam, dass Linse sich zwar über seine Amtstätigkeit hinaus nicht mit antisemitischen Erklärungen hervorgetan habe, aber nicht nur als „Gehilfe“ des NS-Regimes, sondern aus historischer Sicht als ein „NS-Täter“ anzusehen sei, der die „Tatherrschaft“ bei der die wirtschaftlichen Ausplünderung der Juden im Chemnitzer Bezirk gehabt und sich nicht davor gescheut habe, „Juden in massiver Weise unter Druck zu setzen oder bei der Gestapo zu denunzieren“[4]. Nachdem auch der wissenschaftliche Beirat der Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen den Förderverein aufgefordert hatte, wegen des noch ungeklärten Umfangs von Linses Verantwortung für NS-Unrecht auf diesen Namen zu verzichten[5], zog der Förderverein am 6. Dezember 2007 diesen Namen zurück und gab bekannt, dass der Preis stattdessen „Hohenschönhausen-Preis zur Aufarbeitung der kommunistischen Diktatur“ heißen solle.[6]

Literatur

  • Klaus Bästlein: Vom NS-Täter zum Opfer des Stalinismus: Dr. Walter Linse. Ein deutscher Jurist im 20. Jahrhundert (Schriftenreihe des Berliner Landesbeauftragten für Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR, Bd. 27), Berlin 2008, ISBN 978-3-934085-29-9
  • Siegfried Mampel: Entführungsfall Dr. Walter Linse: Menschenraub und Justizmord als Mittel des Staatsterrors. Der Berliner Landesbeauftragte für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes, Berlin 2006, ISBN 3-934085-03-2, (Online, PDF, 2,0 MB)
  • Benno Kirsch: Walter Linse. 1903-1953-1996. Stiftung Sächsische Gedenkstätten zur Erinnerung an die Opfer politischer Gewaltherrschaft, Dresden 2007, ISBN 978-3-934382-19-0

Einzelnachweise

  1. Die Darstellung der Biographie während der NS- und SBZ-Zeit folgt, wo nicht anders ausgewiesen, Klaus Bästlein: Zur Rolle von Dr. Walter Linse unter der NS-Herrschaft und in den Nachkriegsjahren bis 1949: Kurzexpertise erstellt im Auftrag des Berliner Landesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR, Berlin, September 2007
  2. Benno Kirsch, Walter Linse. 1903-1953-1996, Dresden 2007, S. 42f.
  3. Benno Kirsch, Walter Linse. 1903-1953-1996, Dresden 2007, S. 40
  4. Bästlein, Zur Rolle von Dr. Walter Linse (2007), S. 13
  5. Beiratsbeschluss zu Walter-Linse-Preis, 6. November 2007
  6. Verein nennt Ehrung nun „Hohenschönhausen-Preis“, Tagesspiegel, 7. Dezember 2007

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