Sozialabbau
Sozialabbau bezeichnet die Verminderung von öffentlichen Sozialleistungen und die Beschneidung von Leistungen der Sozialversicherungen. Im politischen Meinungskampf wird der Begriff manchmal auch gebraucht, um den Abbau von Steuerprivilegien oder Subventionen zu kritisieren.
Geschichte
Ausgehend von den seit dem 19. Jahrhundert im Deutschen Reich geschaffenen Grundlagen wurden die Systeme der sozialen Absicherung in der Bundesrepublik Deutschland bis in die 1970er weiter ausgebaut. Die Finanzierung dieser Absicherung wurde jedoch seit den 1980er Jahren zunehmend problematisch: Die Arbeitslosigkeit stieg, verursachte hohe Kosten und führte gleichzeitig zu sinkenden Einnahmen aus den Sozialversicherungsbeiträgen. Die entstehenden Defizite wurden nach dem Regierungswechsel im Jahre 1982 zunächst durch den Abbau der individuellen Sozialleistungen ausgeglichen.
In den 1990er Jahren verschärften mehrere Ereignisse die Situation: Die Wiedervereinigung, die Einführung des Euro und die wirtschaftliche Globalisierung:
- Nach der Wiedervereinigung wurden die beitragsfinanzierten Sozialsysteme stark belastet, da ihnen versicherungsfremde durch den Beitritt der ehemaligen DDR verursachte Leistungen auferlegt wurden, um eine Erhöhung der Staatsverschuldung bzw. Steuererhöhungen zu vermeiden.
- Durch den europäische Stabilitätspakt wurde das Wachstum der Staatsverschuldung vertraglich begrenzt. Darüber hinaus stiegen durch die Euro-Einführung die Realzinsen für Kredite in Deutschland relativ zum europäischen Ausland.
- Die härtere internationale Konkurrenz durch die von Seiten der Vertreter des Neoliberalismus propagierte Öffnung der Märkte ohne begleitende Einführung internationaler Standards der sozialen Absicherung, wachsende Produktivität und vergleichbare Bildungssysteme in Staaten mit weit geringeren Löhnen, Steuern und Sozialleistungen verschärfen den Druck auf Wirtschaft und Politik, im Inland Sozialleistungen und Arbeitskosten zu senken. Dadurch sollen Arbeitsplätze in Deutschland erhalten und deren Verlagerung ins Ausland gebremst werden. (Seit 1995 haben z.B. die deutschen Metallarbeitgeber nach eigenen Angaben 50.000 neue Arbeitsplätze im Ausland geschaffen [1].)
Die staatliche Umverteilung in Deutschland ist heute auf dem höchsten Stand seit es die Bundesrepublik gibt (→ Staatsquote). Während Experten davon ausgehen, dass Korrekturen des staatlichen Sozialangebots auf den Stand vor 1970 die Wirtschaft belebt, gehen einige Gruppierungen in diesem Zusammenhang von Sozialabbau aus.
Diskussion
Kritiker des Sozialabbaus sind Gewerkschaften, Sozialverbände, Globalisierungskritiker, sowie einige linke Parteien. Sie argumentieren, dass durch Sozialabbau die soziale Sicherheit abnehme und soziale Ungleichheit wachse. Statt Sozialabbau schlagen sie Steuererhöhungen und eine Verbreiterung der Einnahmenbasis der Sozialversicherungen vor, da ihrer Meinung nach die Bevorzugung der Reichen der Grund geringen Wachstums und hoher Arbeitslosigkeit sei. Seltener wird auch eine höhere Staatsverschuldung zur Finanzierung gezielter Wachstumsprogramme gefordert. Außerdem verlangen sie die Einführung internationaler Standards der sozialen Absicherung, um den Druck auf die einzelnen Staaten zur Senkung der Sozialleitungen zu mindern. Einige Wirtschaftswissenschaftler führen die Gründe für den Sozialabbau auf falsche wirtschaftspolitische Entscheidungen zurück.
Befürworter meinen, dass die hohen Kosten für die Sozialversicherungen die Arbeitslosigkeit steigern ("Lohnnebenkosten") und damit letztlich sogar die soziale Ungleichheit wachsen lassen. Weiterhin verweisen sie darauf, dass es nicht gerecht sei, zukünftigen Generationen die doppelte Bürde hoher Staatsverschuldung und der Belastung einer durch Überalterung verursachten angeblichen Schieflage des umlagefinanzierten Rentensystems aufzuzwingen. Sie äußern zunehmend Kritik an der Politik deutscher Gewerkschaften, die behaupten, dass sich Lohnkostensteigerungen unterhalb des Produktivitätswachstums nicht negativ auf die Beschäftigung auswirken. Den Gewerkschaften wird vorgeworfen, sie nähmen keine konstruktive Haltung zu Reformen und Veränderungen ein (DGB-Vorsitzender Sommer am 3. April 2004: "Sozialabbau ist Mist").
Insbesondere wird darauf hingewiesen, dass diejenigen, die in das Sozialsystem einzahlen durch die hohen Sozialabgaben besonders belastet werden. Da etwa die Hälfte des Einkommens zur Finanzierung der Staatstätigkeit aufgebracht werden muss, muss ein Arbeiter inzwischen doppelt soviel arbeiten, um eine seiner Arbeit gerecht werdende Entlohnung zu erhalten.
Besonders kritisiert wird, dass bereits bei geringen Einschränkungen eines über Jahrzehnte immer weiter aufgestockten Sozialsystems rasch von Sozialabbau die Rede ist. Offenbar findet eine Gewöhnung an Leistungen statt.
Im Vergleich zu anderen Staaten, die im Zuge der internationalen Konkurrenzsituation ihr soziales Leistungsangebot angepasst haben, zeigt sich, dass dies rasch zu einer merklichen Verringerung der Arbeitslosigkeit führen könnte.
Aktuelle Entwicklungen
Die regierende SPD, traditionell gewerkschaftsfreundlich, wandte sich in grundlegenden Positionen von der Haltung der Gewerkschaften ab und setzt, wenn auch moderater als von der Opposition und von der Wirtschaft gefordert, Einschränkungen des sozialen Angebots in Deutschland fort (Agenda 2010) und setzten auf mehr Eigenverantwortlichkeit. Die Oppositionsparteien CDU/CSU und vor allem FDP verlangen hingegen wesentlich massivere Maßnahmen, um denjenigen Anreize zu schaffen, die für Arbeitsplätze zu sorgen. Dies geht mit einer Verringerung der Lohnnebenkosten einher, die für die Umverteilungsmaßnahmen von Bedeutung sind. Somit würden auch soziale Leistungen des Staates weiter an den Stand von vor 1970 angepasst, bevor die Massenarbeitslosigkeit in Deutschland begann.
Dagegen protestieren zunehmend Menschen. An einem europäischen Aktionstag gegen Sozialabbau demonstrierten am 3. April 2004 alleine in Deutschland mehr als 500.000 Menschen. Ihr Anliegen ist die Verbindung von Reformen mit sozialer Gerechtigkeit. Sie bezweifeln die Lehre, wonach die Entlastung der Unternehmen in den wirtschaftlichen Aufschwung führt. Dies ist jedoch in der akademischen Lehre die Lehrmeinung. Durch eine verstärkte Aufklärungsarbeit durch Regierung und Opposition hörten die Demonstrationen bald jedoch auf.
Siehe auch: Demografie, Hartz-Konzept, 1-Euro-Job
Weblinks
- http://www.arbeitnehmerkammer.de/sozialpolitik/ - Umfassendes Informations- und Meinungsportal zur Sozialpolitik
- http://www.sozialpolitik-aktuell.de/kontrovers_sozialstaat.shtml - Kontroverse zu Soziale Sicherung, Sozialversicherung & Sozialhilfe
- http://segert.net/sozialabbau/ - Fotoreportage: Unterwegs gegen Sozialabbau. 38 Bilder und Links zu Presseartikeln und Organisatoren
- Rumpelstilzchen-Modell (Paul Nolte)
- Faule Arbeitslose? Bundeszentrale für pol. Bildung
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