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Plurizentrische Sprache

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Eine plurizentrische Sprache ist in der synchronen Linguistik eine Sprache mit mehreren nationalen Zentren, in denen jeweils unterschiedliche Standardvarietäten ausgebildet wurden. Das Sprachgebiet plurizentrischer Sprachen ist nicht auf einen einzigen Staat beschränkt. Die Situation besteht also üblicherweise dann, wenn sich das Sprachgebiet einer Sprache über mehrere Staaten erstreckt. Obwohl die Unterschiede der verschiedenen Varietäten deutlich ausgeprägt sind, spricht man nicht von jeweils eigenen Sprachen.

In der diachronen Linguistik ist eine plurizentrische Sprache eine Sprache, die in ihrer Entwicklung von mehreren sprachlichen Zentren in vergleichbarem Ausmaß beeinflusst worden ist.

Beispiele in synchroner Sichtweise

Englisch

Die englische Sprache ist eine plurizentrische Sprache mit deutlichen Unterschieden in Phonologie und Orthographie zwischen den Varietäten Englands, der USA, Australiens und anderer Länder. Das Englische wird üblicherweise als symmetrischer Fall einer plurizentrischen Sprache betrachtet, denn keine dieser Varietäten hat eine klare kulturelle Dominanz. Statistisch gesehen machen jedoch die US-amerikanischen Sprecher 70 % der Muttersprachler aus, gegenüber 16 % Engländern und weniger als 5 Prozent anderen.

Deutsch

Im Gegensatz zum Englischen wird Deutsch oft als asymmetrischer Fall einer plurizentrischen Sprache betrachtet, da das Standarddeutsche aus Deutschland häufig als dominierend empfunden wird. Dies liegt einerseits an der weit größeren Sprecherzahl, aber auch daran, dass die Varietäten Österreichs und der Schweiz in der deutschen Binnensicht vielfach gar nicht als solche wahrgenommen werden.

Obwohl es eine einheitliche Bühnensprache gibt, gilt dies nicht für die im öffentlichen Raum verwendete Sprache: Das Standarddeutsche, das in Massenmedien, Schulen und Politik verwendet wird, ist in Deutschland, Österreich und der Schweiz jeweils ein anderes. Bis zu einem gewissen Grad gilt dies auch für alle Regionen innerhalb Deutschlands, nicht nur für solche, die wie beispielsweise Bayern eine starke eigene kulturelle Identität haben.

Die verschiedenen Varietäten des Standarddeutschen unterscheiden sich in Phonologie, Wortschatz und in wenigen Fällen sogar in Grammatik und Orthographie.

Die verschiedenen Varietäten des Standarddeutschen sind bis zu einem gewissen Grad beeinflusst von den jeweiligen Basis-Dialekten (dennoch handelt es sich keineswegs um Dialekte, sondern um Varietäten der Standardsprache), von verschiedenen kulturellen Traditionen (beispielsweise die Bezeichnungen für viele Lebensmittel) sowie von verschiedenen Termini in Gesetzgebung und Verwaltung, den so genannten Statalismen.

Eine Liste von österreichischen Wörtern für bestimmte Nahrungsmittel ist sogar ins Europarecht aufgenommen worden, wenn sie auch bei weitem nicht komplett ist.

Beispiele in diachroner Sichtweise

Die deutsche Sprache ist ein Beispiel einer plurizentrischen Sprache. Hatte in mittelhochdeutscher Zeit unter den Stauferkaisern der alemannische Südwesten des Sprachgebiets einen dominierenden Spracheinfluss, so ging dieser Einfluss danach unter den Habsburgern auf den bairischen Südosten über. In frühneuhochdeutscher Zeit wurde die ostmitteldeutsche Kanzleisprache der Wettiner maßgebend; auch Martin Luther, der selbst aus niederdeutschem Gebiet stammte, baute auf dieser Sprache auf. Durch den politischen Aufstieg Preußens spielte später - besonders im Bereich der Ausspracheregelung - der Norden um das Zentrum Berlin eine große Rolle.

Insgesamt entstand dadurch eine Sprache, die mit keinem einzigen der deutschen Dialekte wesentlich identisch ist; und auch heute noch kann ein geübtes Ohr praktisch jeden Sprecher einer der deutschen Sprachlandschaften zuordnen.

Sprachen wie Englisch oder Französisch gelten dem gegenüber nicht als plurizentrisch, weil in ihrer Entwicklung ein konstantes Zentrum (mehr oder minder) konstant starken Einfluss ausgeübt hat. Dabei ist zumindest für Englisch nicht nur London als politisch-ökonomisches Zentrum denkbar, sondern auch Mittelengland mit den Universitäten Cambridge und Oxford.

Siehe auch

Literatur