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Wirtschaftswachstum

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Unter Wirtschaftswachstum versteht man die relative Änderung der Wirtschaftskraft einer Volkswirtschaft von einer Periode zur nächsten. Als Maßstab dient in Deutschland normalerweise das Bruttoinlandsprodukt (BIP) oder das Bruttonationaleinkommen (früher Bruttosozialprodukt bzw. BSP).


Man kann zwischen realem und nominalem Wirtschaftswachstum unterscheiden. Im nominalen Wirtschaftswachstum wird das Wachstum als monetäre Änderung des BIP beziehungsweise des Bruttonationaleinkommens definiert. Dagegen wird beim realen Wirtschaftswachstum die Preissteigerung herausgerechnet. Gemessen wird nach diesem Konzept die eigentliche reale Leistungssteigerung der Gesamtwirtschaft. Die reale Herangehensweise ist also aussagekräftiger.

Eine weitere Unterscheidungsmöglichkeit ist die nach intensivem und extensivem Wachstum. Von extensivem Wachstum spricht man, wenn eine Zunahme der Wirtschaftskraft bezogen auf die betrachtete Volkswirtschaft zu beobachten ist. Intensives Wachstum liegt nur vor, wenn das Pro-Kopf-Einkommen steigt.

Das Wirtschaftswachstum ist in Deutschland aufgrund seiner angenommenen Wichtigkeit als eine Grundbedingung im Stabilitäts- und Wachstumsgesetz (StWG) rechtlich verankert, auch wenn es schlecht erzwingbar ist.

Probleme in der Empirie

Es gibt Unterschiede in der Berechnung des Wirtschaftswachstums im in verschiedenen Regionen, weshalb die Werte international nicht problemlos miteinander verglichen werden können.

Wachstumsmodelle

Das Wachstumsmodell nach Solow

Ein bis heute maßgebliches Wachstumsmodell wurde 1956 von Robert M. Solow entwickelt. Die zentrale Aussage des Solow-Modells ist, dass für dauerhaftes Wirtschaftswachstum das Wachstum der Arbeitsproduktivität von zentraler Bedeutung ist, das langfristig allein durch das Tempo des technischen Fortschritts bestimmt wird. Wachstumspolitik kann folglich auf lange Sicht nur erfolgreich sein, wenn sie den technischen Fortschritt begünstigt.

Das Solow-Modell wird seit den 80er Jahren kritisiert. So propagiert das Solow-Modell eine Konvergenz von Volkswirtschaften. Dies bedeutet, dass ärmere Volkswirtschaften zu den wohlhabenderen aufschliessen. Diese Konvergenz ist aber nur innerhalb von Volkswirtschaften und in einigen wenigen Regionen beobachtbar (Europa, Nordamerika, Südostasien). Zudem sind die berechneten Konvergenzgeschwindigkeiten zu hoch und das Modell liefert nur brauchbare Ergebnisse für das 20. Jahrhundert, geht man weiter zurück haben die Ergebnisse keine Signifikanz mehr.

Mankiw, Romer und Weil erweiterten 1992 das Standard Solow-Swan Modell. Sie fügten in die Produktionsfunktion den Faktor Humankapital ein. Humankapital definierten sie über die Einschulungsraten. Ihr Modell ergibt eine langsamere Konvergenzgeschwindigkeit als im Solow-Modell. Gänzlich verabschiedet von der Gruppe der exogenen Wachstumsmodelle haben sich die Anhänger der endogenen Wachstumstheorie (Paul Romer, Philipp Aghion, Peter Howitt, et al.). Endogene Wachstumsmodelle basieren auf der Annahme, dass keine abnehmenden Grenzerträge vorliegen. Diese Annahme begründet Paul Romer in seinem Werk von 1986 mit der These, dass technisches Wissen nicht alleine dem Erfinder zur Verfügung steht, sondern durch Spillover-Effekte auch allen anderen Gesellschaftsmitgliedern verfügbar ist. Grossman, Aghion und weitere erweiterten diese Modellgattung dahingehend, dass angetrieben durch eine monopolistische Konkurrenz Firmen Vorteile aus der beständigen Erfindungstätigkeit haben. Technischer Fortschritt wird endogen.

Galor und Weil beschäftigten sich 2000 mit dem Zusammenhang von Bevölkerungswachstum, Bevölkerungsgrösse, technischem Fortschritt und Humankapital. Dabei befruchten sich diese Variablen gegenseitig und ein sehr langfristiges Wachstum mit der Überwindung der Malthusianischen Falle wird zum Teil erklärbar.

Wirtschaftswachstum bei Marx

Nach Marx unterliegt der Kapitalismus einem Wirtschaftswachstumszwang. Ohne ständiges Wirtschaftswachstum kommt es seiner Meinung nach zu Wirtschaftskrisen. Auf der anderen Seite haben kapitalistische Länder schon Jahrzehnte ohne oder mit geringem Wirtschaftswachstum ohne nennenswerte Krisen überstanden (von Währungsreformen einmal abgesehen), und nicht-kapitalistische Systeme oft mit oder ohne Wachstum viel intensivere Krisen durchgemacht. (Allerdings schwindet die Stichhaltigkeit dieser Relativargumentation dadurch, dass es heutzutage so gut wie keine nicht-kapitalistische Wirtschaftssysteme mehr gibt.) Karl Popper hat in seinen Werken viele der Fehler in der Logik von Marx aufgedeckt.

Grenzen des Wachstums

Der Möglichkeit eines ewigen Wachstums widersprach auch der Club of Rome in seiner Analyse der "Grenzen des Wachstums". Dabei wurden die Knappheit von Rohstoffen und natürlichen Ressourcen wie sauberer Luft und sauberem Wasser als Hindernisse für ewiges Wachstum genannt. In verschiedenen durchgerechneten Szenarien sind dramatische Entwicklungen für die Zeit um das Jahr 2030 vorhergesagt worden.

Allerdings sind die Prognosen, die in den 70er Jahren für die Zeit bis zum heutigen Tage vorhergesagt wurden, bislang meist nicht im befürchteten Ausmaß eingetreten. Am deutlichsten wahrnehmbar ist wohl die Klimaerwärmung, die nach gegenwärtigem Stand des Wissens maßgeblich aufgrund des zunehmenden Kohlendioxidgehalts der Atmosphäre durch menschlichen Einfluss mitbestimmt wird. Die marktwirtschaftlich orientierte Informationsgesellschaft zeigt sich aber bislang in der Lage, die Auswirkungen in Grenzen zu halten oder zu kompensieren.

Kritiker des Club of Rome verweisen darauf, dass Wohlstand den Menschen die Möglichkeit gibt, sich

  • höhere Standards und Kontrollen in Bereichen wie Umweltschutz, Naturschutz leisten zu können und
  • besser auf Naturkatastrophen (natürlich verursachte Überschwemmungen, Dürren, Klimaänderungen, Missernten usw.) zu reagieren.

Stetiges und angemessenes Wachstum

"Stetiges und angemessenes Wachstum" ist neben einem außenwirtschaftlichen Gleichgewicht, niedriger Arbeitslosigkeit und niedriger Inflation ein Eckpunkt des "magischen Vierecks". Von diesem erhofft man sich, dass es zu einer gleichmäßigen Auslastung des Produktionspotenzials in der Nähe der Kapazitätsgrenze beiträgt.

Welche Wachstumsrate "angemessen" ist, lässt sich nicht pauschal festsetzen. Für die Bundesrepublik Deutschland z. B. bezeichnen einige ein Wachstum von 2-3% als angemessen. Andere wünschen sich deutlich höhere Wachstumsraten, in der Annahme, dass dadurch z.B. die Arbeitslosigkeit reduziert und die internationale Wettbewerbsfähigkeit erhalten werden könne. Diese Annahmen beruhen auf Okuns-Gesetz. Okun ermittelte einen empirischen Zusammenhang zwischen Wirtschaftswachstum und Arbeitslosigkeit. Über die Philipps-Kurve können diese Werte mit der Inflation verbunden werden.

Wenn man ein "stetiges" Wirtschaftswachstum fordert, so meint man damit, dass Wachstumsschwankungen vermieden werden sollen. Berge in der Konjunkturkurve sollen möglichst abgetragen, Täler dagegen ausgefüllt werden.

Das Wirtschaftswachstum der Bundesrepublik Deutschland ist nicht stetig und lag oft unter zwei bis drei Prozent.

Notwendigkeit und Ursachen von Wirtschaftswachstum

Sowohl die Ursachen als auch Bedeutung von Wirtschaftswachstum sind umstritten und werden kontrovers diskutiert. Im Folgenden sollen die wichtigsten Strömungen dargestellt werden.

Bedingungen für Wirtschaftswachstum

Während die Neoklassische Theorie Wirtschaftswachstum vor allem als Folge hoher Anbieterrenditen sieht und der Neukeynesianismus die Bedeutung der Nachfrage nur auf die kurze Sicht, und die Bedeutung der Angebotsfaktoren auf die lange Sicht sehen, geht der Postkeynesianismus davon aus, dass das gesamtwirtschaftliche Wachstum sich vor allem auf eine angemessene Nachfrage stützt. (Vgl. dazu die beiden Artikel zu Keynesianismus und Neoklassischer Theorie.'

Die neoklassischen und neoliberalen Ansätze scheinen dabei in der praktischen Anwendung einen gewissen Vorsprung im Bereich Wirtschaftswachstum zu haben, während die verschiedenen keynesianischen Ansätze den Vorteil haben, dass man leichter soziale und sonstige politische Ziele umsetzen kann - allerdings wohl nur mittelfristig, da langfristig ein Vorteil in der Handlungsfreiheit für die Länder mit hohem Wachstum zu entstehen scheint, auch nach den keynesianischen Modellen. Es ist aber immer eine gewisse Versuchung für Politiker, zu einer eher nachfrageorientierten Wirtschaftspolitik zu wechseln, teure Projekte zu verwirklichen und dadurch mehr Stimmen zu bekommen oder Macht auszuüben. Dieses Spannungsverhältnis, das in ähnlichen Varianten schon seit den ersten Ansätzen von Wirtschaftspolitik existiert, dürfte aber auch der Grund für einige sehr nützliche Fortschritte sein: breite Schulbildung, hohe Versorgungsstandards, gute medizinische Versorgung, einige sinnvolle Umweltschutzbestimmungen usw.

Demokratie, Markt und Wettbewerb scheinen sehr nützlich dabei zu sein, langfristig allen schadende Extreme in alle Richtungen zu vermeiden und gelten daher vielerseits als wichtige Voraussetzungen für dauerhaftes angemessenes Wirtschaftswachstum.

Bedeutung von Wirtschaftswachstum

Die Bedeutung von Wirtschaftswachstum wird vor allem im Zusammenhang mit der sogenannten Beschäftigungsschwelle diskutiert. Diese gibt an, ab welchem Wirtschaftswachstum neue Stellen entstehen. Ursache für die Beschäftigungsschwelle sind Rationalisierungen, durch die Arbeitskräfte freigesetzt werden. Um diesen Abbau auszugleichen muss (bei gleichbleibendem Arbeitsangebot) die Wirtschaft wachsen. Bei einem Produktivitätsfortschritt von 0 würde auch die Beschäftigungsschwelle auf 0 sinken.

Die Beschäftigungsschwelle liegt in Deutschland bei rund 2% Wirtschaftswachstum. Durch die sogenannten Hartz-Reformen wird von den meisten Ökonomen ein Absinken der Beschäftigungsschwelle erwartet. Grund dafür ist die Annahme, dass durch die Reform auch entstehende unattraktivere Stellen angenommen werden.

Ein zentrale Rolle spielt das Wirtschaftswachstum in der Theorie der Freiwirtschaft. Dabei wird davon ausgegangen, dass dem Kapitalismus ein Zwang zum Wachstum innewohnt (Vgl. Wirtschaftswachstum (Freiwirtschaft)).

Zitate

  • We don't have a desperate need to grow. We have a desperate desire to grow. (Milton Friedman)

Literatur

  • Douglas E. Booth: Hooked on Growth, 2004, ISBN 0742527182
  • Hartmut Bossel (IISD): Indicators for Sustainable Development (Theory, Method, Applications), 1999, ISBN 1895536138
  • G.R.Funkhouser, Robert R. Rothberg: Das Dogma vom Wachstum, 2000, ISBN 3409191151
  • Elhanan Helpman: The Mystery of Economic Growth, 2004, ISBN 067401572X
  • Charles I. Jones: Introduction to Economic Growth, 2002, ISBN 0393977455
  • Niklas Luhmann: Wirtschaft und Gesellschaft, 1988, Seiten: 100, 169f., 200
  • Norbert Reuter: Wachstumseuphorie und Verteilungsrealität, 1998, ISBN 3895181897
  • Rupert Riedl, Manuela Delpos (Hrsg.): Die Ursachen des Wachstums, 1996, ISBN 3218006287
  • Reinhard Steurer: Der Wachstumsdiskurs in Wissenschaft und Politik - Von der Wachstumseuphorie über 'Grenzen des Wachstums' zur Nachhaltigkeit, 2002, ISBN 3897003384
  • Bernhard Verbeek: Die Anthropologie der Umweltzerstörung, 1998, ISBN 3896780999 (Einfluss menschlichen Wachstumstrebens auf die Umwelt)
  • Heinz D. Kurz, Neri Salvadori: Theory of production: a long-period analysis, 1995, ISBN 0-521-44325-3
  • Donella H. Meadows, Dennis L. Meadows, Jorgen Randers: Die neuen Grenzen des Wachstums, 1993, ISBN 3499195100