Gemeinschaft und Gesellschaft
„Gemeinschaft und Gesellschaft“ von Ferdinand Tönnies erschien 1887 und ist das erste deutsche erklärtermaßen soziologische Werk. Während diese Erstauflage nahezu echolos blieb, wurde die 2. Auflage von 1912 ein bedeutender Erfolg, da die nach 'Gemeinschaften' suchende Jugendbewegung sich auswirkte und das Werk sprichwörtlich machte, während seine Rezeption nach 1933 stark abriss (Tönnies lebte noch und hatte sich vehement gegen Hitler gewandt) und erst nach 1980 wieder eine Leserschaft gewann.
Tönnies unterscheidet scharf zwischen zwei Normaltypen kollektiver Gruppierungen kraft gegenseitiger „Bejahung“ der sozialen Akteure: zwischen „Gemeinschaft“ und „Gesellschaft“. Beider Unterscheidung basiert auf seiner Annahme, dass es für einen Akteur nur zwei Grundformen willentlicher Bejahung anderer Akteure geben kann. Diese „Bejahung“ ist für Tönnies das Grundproblem und das Thema der „Soziologie“. (Gerade sie ist erklärungsbedürftig, denn die gegenseitige „Verneinung“ – hierin ist er stark von Thomas Hobbes’ „Krieg aller gegen alle“, dem bellum omnium contra omnes, abhängig – kann immer voraus gesetzt werden.) Dieser Wille kann analytisch in zwei Formen erscheinen:
Entweder fühlt sich der Akteur als Teil eines größeren sozialen Ganzen, er versteht sich also – scharf ausformuliert – als dienendes Mittel zu diesem als übergeordnetem Zweck, dann fühlt er sich dem Kollektiv als einer „Gemeinschaft“ zugehörig, und diese (von Kindheit an wie selbstverständliche) Form des Willens heißt bei Tönnies "Wesenwille". Beispiele derartiger Gemeinschaften wären eine Familie, eine Schiffsmannschaft oder ein Freundesbund.
Oder der Akteur bedient sich anderer Akteure, sie sind ihm Mittel zu seinen eigenen individuellen Zwecken, dann partizipiert er an einem Kollektiv als an einer „Gesellschaft“, und diese nur über eine Phase der Individualisierung erreichbare Form des Willens heißt bei ihm "Kürwille". Beispiele wären die Aktiengesellschaft, der neuzeitliche Staat oder die „Gelehrtenrepublik“.
Die „Gemeinschaft“ genügt sich selbst (kann aber durchaus Wachstum anstreben); die „Gesellschaft“ ist ein Instrument (der Akteur kann es weg legen).
Da „Gemeinschaft“ und „Gesellschaft“ in der Welt der Begriffe axiomatisiert und entfaltet werden, die (nach Tönnies’ zusätzlicher Annahme) von der Welt der sozialen Wirklichkeit – zu Erklärungszwecken – strikt zu unterscheiden ist, sind sie begrifflich unvereinbar (im Feld der „Reinen Soziologie“), während man sie in der Wirklichkeit nicht anders als gemischt antrifft (im Feld der „Angewandten Soziologie“).