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Rudi Dutschke

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Rudi Dutschke, eigentlich Alfred Willi Rudolf Dutschke (* 7. März 1940 in Schönefeld bei Luckenwalde; † 24. Dezember 1979 in Århus, Dänemark), war ein marxistischer Soziologe. Er gilt in Deutschland als bekanntester Studentenführer der Studentenbewegung in den 1960er Jahren (sog. "68er-Bewegung") und war Gründungsmitglied der Grünen Partei Deutschlands. Dutschke war mit Gretchen Klotz verheiratet und hatte drei Kinder (Polly, Hosea-Che und Rudi-Marek). Er starb an den Spätfolgen eines Attentats, bei dem er schwere Hirnverletzungen davongetragen hatte.

Leben

Jugend und Studium

Rudi Dutschke, vierter Sohn eines Brandenburger Postbeamten, verbrachte seine Jugendjahre in der DDR. Er war in der evangelischen Jugend von Luckenwalde aktiv, wo er seine "religiös sozialistische" Grundprägung erhielt. Als Leistungssportler (Zehnkampf) war er seit 1956 Mitglied der FDJ. Er schulte sich autodidaktisch in der Kunst der Rhetorik, zunächst noch mit dem Ziel, Sportreporter zu werden.

Gedenktafel vor dem Luckenwalder Gymnasium

Seit dem Volksaufstand in Ungarn 1956 wurde Dutschke zunehmend politisiert. Er ergriff Partei für einen demokratischen Sozialismus, der sich sowohl von den USA als auch der Sowjetunion distanzierte. Auch der SED stand er zunehmend ablehnend gegenüber. Im Gegensatz zum antifaschistischen Anspruch ihrer Staatsideologie sah er die alten Strukturen und Mentalitäten im Osten ebenso fortdauern wie im Westen. Im folgenden Jahr trat er folgerichtig öffentlich gegen die zunehmende Militarisierung der DDR-Gesellschaft und für Reisefreiheit ein. Zuletzt verweigerte er den Militärdienst in der NVA und rief andere dazu auf. Deshalb verwehrten die DDR-Behörden ihm nach dem Abitur 1958 das gewünschte Sportstudium.

Daraufhin machte Dutschke eine Ausbildung zum Industriekaufmann in einem Luckenwalder VEB. Nach Abschluss der Lehre begann er regelmäßig nach West-Berlin zu pendeln, um dort sein Abitur zu wiederholen. Dies benötigte er, um in der Bundesrepublik studieren zu können. Nebenher schrieb der ehemalige Leistungssportler Sportreportagen, zeitweise für die "BZ" aus dem Axel-Springer-Verlag.

1961, kurz vor dem Mauerbau, siedelte Dutschke nach West-Berlin über. Er entschied sich nun für ein Studium der Soziologie, Ethnologie, Philosophie und Geschichte an der noch jungen Freien Universität. Ihr blieb er bis zu seiner Promotion über den ungarischen Marxisten Georg Lukács (Doktorvater: Hans-Joachim Lieber) im Jahre 1973 verbunden. Anfangs beschäftigte er sich mit dem Existentialismus Sartres und Heideggers, bald aber auch mit marxistischer Theorie. Er begeisterte sich für die Frühschriften von Karl Marx, Bloch und die "Kritische Theorie" der "Frankfurter Schule" (Theodor W. Adorno, Max Horkheimer, Herbert Marcuse). Die West-Berliner Reformuniversität vermittelte ihm ferner eine solide Schulung in der Geschichte der Arbeiterbewegung. Angeregt durch die Begegnung mit der amerikanischen Theologie-Studentin Gretchen Klotz – seiner späteren Frau – las er auch Theologen der Weimarer Zeit wie Karl Barth und Paul Tillich. Aus seinem christlichen wurde nun ein marxistisch fundierter Sozialismus, der aber immer die Entscheidungsfreiheit des Individuums gegenüber den gesellschaftlichen Verhältnissen bewahrte.

Als politisch ambitionierter Student wollte Dutschke die Theorie in der Realität erproben und strebte in die Praxis. So gab er die eigene Zeitschrift "Anschlag" heraus, in der er über Antikapitalismus und die "Dritte Welt" schrieb: Themen, die ihn sein Leben lang begleiten sollten. Das Blatt galt wegen seiner betont "aktionistischen" Ausrichtung im Sozialistischen Deutschen Studentenbund (SDS) damals noch als "anarchistisch". 1962/63 gründete Dutschke eine Berliner "Zelle" der Münchner Gruppe "Subversive Aktion". Er erreichte, dass diese 1964 vom West-Berliner SDS aufgenommen wurde. 1965 wurde er in dessen politischen Beirat gewählt und prägte fortan seine politische Richtung mit.

Die SPD hatte die Mitgliedschaft beim SDS 1961 wegen seiner Kontakte zur FDJ für unvereinbar mit ihren Statuten erklärt. Danach entwickelte die Studentengruppe sich allmählich zu einem organisatorischen und ideologischen Sammelbecken der parteiunabhängigen "Neuen Linken". In Berlin waren damals u.a. Ulrike Meinhof, Bernd Rabehl oder Horst Mahler dort politisch aktiv.

Studentenbewegung

Ab 1966 organisierte Dutschke zahlreiche Demonstrationen gegen Vietnamkrieg, Notstandsgesetze und die Bildung einer "Großen Koalition". So veranstaltete der SDS im Mai des Jahres einen bundesweiten Vietnamkongress, an dem sowohl Professoren der „antiautoritären Neuen Linken“ – etwa Herbert Marcuse, Jürgen Habermas, Oskar Negt – als auch traditionalistische Linke – z.B. Wolfgang Abendroth, Frank Deppe, Kurt Steinhaus – teilnahmen. Zum Abschluss dieses Kongresses fand die bis dahin größte Demonstration gegen den Vietnamkrieg in der Bundesrepublik statt. Die sich bildende Studentenbewegung verband diese Themen mit der Demokratisierung der Hochschulen und verstand sich als "Außerparlamentarische Opposition" (APO).

Bei Hans-Joachim Lieber, damals Rektor der FU, wollte Dutschke promovieren. Doch nach einem Machtkampf an der FU um das politische Mandat des Berliner AStA und eine Verkürzung der Regelstudienzeit verlängerte Lieber Dutschkes Assistentenvertrag nicht weiter. Eine akademische Laufbahn schied für ihn damit zunächst aus.

Zum Staatsbesuch des Schahs von Persien, Reza Pahlevi, im Juni 1967 versuchten Studenten bundesweit über Armut, Folter und Missachtung der Menschenrechte in Persien aufzuklären. Eine Springer-Kampagne behauptete ein geplantes Attentat auf den Staatsgast. Bei der Berliner Demonstration am 2. Juni gegen den Schahbesuch griffen sogenannte "Jubelperser" die protestierenden Studenten mit Holzlatten und Eisenstangen an, ohne dass die Polizei einschritt. Im weiteren Verlauf wurde der Student Benno Ohnesorg von einem Polizisten erschossen. Dies radikalisierte Teile der Studentenbewegung. Danach stellten erstmals einige deutsche Zeitschriften – Der Spiegel, Frankfurter Rundschau, Die Zeit – die Sicht der rebellierenden Studenten dar. Jedoch solidarisierten sich nur wenige Professoren - darunter Dutschkes späterer Freund Helmut Gollwitzer - mit der Studentenbewegung.

Dutschke verlangte mit anderen die Enteignung des Springerkonzerns, den Rücktritt der Verantwortlichen für den Polizeieinsatz und rief bundesweit zu Sitzblockaden bis zur Aufklärung der Todesumstände Ohnesorgs auf. Damit bekam er nun bundesweit Aufmerksamkeit. Jürgen Habermas warf ihm einen "Linksfaschismus" vor - was Habermas später zurücknahm - , und Podiumsdiskussionen und Interviews, u.a. mit Rudolf Augstein, Ralf Dahrendorf und Günter Gaus, machten ihn öffentlich bekannter. Zugleich stiegen Ablehnung und offener Hass. Bei einem „Go-in“ zum Weihnachtsgottesdienst in der Berliner Gedächtniskirche, bei dem Studenten Plakate von vietnamesischen Folteropfern zeigten, versuchte Dutschke über den Vietnamkrieg zu diskutieren. Daraufhin schlug ein Gottesdienstbesucher auf ihn ein und verletzte ihn, so dass er ins Krankenhaus musste.

An dem von Dutschke mitorganisierten «Internationalen Vietnam-Kongress» an der Berliner TU am 17. und 18. Februar 1968 beteiligten sich mehrere tausend Studenten. Die Abschlussdemonstration, die das Berliner Verwaltungsgericht erst kurz vorher erlaubte, wurde die bis dahin größte deutsche Protestveranstaltung gegen den Vietnamkrieg. Dabei rief Dutschke zur massenhaften Desertion amerikanischer Soldaten und zur «Zerschlagung der NATO» auf.

In linken Zeitungen veröffentlichte er außerdem damals wenig beachtete Vorschläge für eine "befreite Räterepublik Berlin" als Vorbild einer künftigen deutschen Wiedervereinigung.

Attentat

Am 11. April 1968 wurde Dutschke beim Gang zur Apotheke für seinen Sohn von dem jungen Hilfsarbeiter Josef Bachmann abgepasst, mit drei Schüssen niedergestreckt und lebensgefährlich verletzt. Er überlebte knapp nach einer mehrstündigen Operation. Heute erinnert eine Gedenktafel am Tatort vor dem Haus Kurfürstendamm 141 an das Attentat.

Bachmanns Motiv konnte nie ganz aufgeklärt werden; man fand bei ihm die "Nationalzeitung" und vermutete daher rechtsextreme Hintergründe. Viele Studenten machten eine monatelange Kampagne der Zeitungen aus dem Axel-Springer-Verlag gegen die Studentenproteste, besonders gegen Dutschke, für das Attentat ursächlich verantwortlich. So hatte etwa die "Bildzeitung" die Bevölkerung Tage zuvor wörtlich zum "Ergreifen" der Rädelsführer des Studentenprotests aufgefordert. Bei den folgenden nationalen und internationalen Protestkundgebungen kam es zu Ausschreitungen, bei denen u.a. Zeitungsgebäude in Brand gesetzt und die Auslieferung von Springer-Zeitungen behindert wurden.

Dutschke hatte schwere Gehirnverletzungen erlitten und musste sich Sprache und Gedächtnis in monatelanger Therapie mühsam wieder aneignen. Zur Genesung weilte er ab 1969 in der Schweiz, in Italien und Großbritannien. In England ließ er sich schließlich nieder, wurde aber während eines Irland-Urlaubes vorübergehend ausgewiesen. 1970 begann er ein Studium an der Universität Cambridge, das er aber nach baldiger erneuter Ausweisung wegen angeblicher "subversiver Tätigkeit" nicht fortsetzen konnte. Daraufhin reiste er nach Dänemark, wo er eine Anstellung als Dozent an der Universität von Aarhus erhielt.

Spätzeit

1973 hielt Dutschke seine erste öffentliche Rede nach dem Attentat auf einer Anti-Vietnam-Demonstration in Bonn. Auch seine wissenschaftliche Karriere kam voran. 1974 veröffentlichte er seine Dissertation über Lukács und ein Jahr später wurde er Mitarbeiter in einem Forschungsprojekt der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) an der FU Berlin. Im Rahmen dieses Projektes reiste er erstmals seit 1961 wieder offiziell in die DDR. Hier nahm er Kontakt mit Dissidenten wie Wolf Biermann und Robert Havemann auf. Auch mit dem SED-Dissidenten Rudolf Bahro bekam er Kontakt; beide analysierten das Sowjetsystem auf verschiedene Weise als nichtsozialistische Gesellschaftsformation.

Ab 1977 war Dutschke freier Mitarbeiter verschiedener linksgerichteter Zeitungen und wurde Gastdozent an der Universität Groningen in den Niederlanden. Er unternahm Vortragsreisen über Menschenrechte und engagierte sich ab 1978 für die Gründung der Partei Die Grünen.

Am Heiligabend des Jahres 1979 starb der ehemalige Studentenführer überraschend. Er ertrank nach einem epileptischem Anfall als Spätfolge des Attentats in der heimischen Badewanne. Am 3. Januar 1980 fand die feierliche Beisetzung auf dem St. Annen Friedhof in Berlin-Dahlem unter großer öffentlicher Anteilnahme statt. Im gleichen Jahr wurde sein Sohn Rudi Marek Dutschke geboren.

Denken

Grundposition

Dutschke verstand sich seit seiner Jugendzeit als antiautoritärer demokratischer Sozialist im Gefolge Kurt Schumachers. In seiner Studienzeit wurde er ein überzeugter revolutionärer Marxist im Gefolge des ungarischen Philosophen Georg Lukacs. Ähnlich wie dieser betonte er die "libertären", oft vergessenen Traditionen der Arbeiterbewegung sowohl gegen den Reformismus wie auch den Stalinismus.

Dutschkes Ziel war die totale Befreiung der Menschen von Krieg, Hunger, Unmenschlichkeit und Manipulation. Mit dieser radikalen Erlösungsutopie knüpfte er an den christlichen Sozialismus seiner Jugend an, auch wenn er nicht mehr an einen persönlichen, transzendenten Gott glaubte. Ausdruck der Verbindung beider Traditionen war die lebenslange Freundschaft zu Helmut Gollwitzer und der Name seines ersten Sohnes: "Hosea-Che" (nach dem biblischen Propheten Hosea und kubanischen Guerilla-Kämpfers Che Guevara).

Ökonomische Analyse

Dutschke versuchte, die Marxsche "Kritik der politischen Ökonomie" auf seine Gegenwart anzuwenden und weiterzuentwickeln. Er sah das Wirtschafts- und Sozialsystem der Bundesrepublik Deutschland als spezifischen Ausdruck eines weltweiten komplexen Kapitalismus, der alle Lebensbereiche durchdringe und die lohnabhängige Bevölkerung unterdrücke. Die soziale Marktwirtschaft beteilige das Proletariat zwar am relativen Wohlstand der fortgeschrittenen Industrieländer, binde es dadurch aber in den Kapitalismus ein und täusche es über die tatsächlichen Machtverhältnisse. Demgemäß kritisierte er repräsentative Demokratie und parlamentarische Entscheidungsprozesse als Ausdruck einer "repressiven Toleranz", die weithin Ausbeutung der Produzenten und Privilegien der Besitzenden verschleiere und schütze. Diese Strukturen sah er als nicht reformierbar, nur durch einen allmählichen revolutionäre Prozess veränderbar an. Dazu berief er sich auch auf die Gesellschaftsanalysen der Kritischen Theorie, vor allem Herbert Marcuse (Der eindimensionale Mensch).

In der Bundesrepublik erwartete Dutschke nach dem Ende des Wirtschaftswunders eine Periode der Stagnation: Die für sie typische Subventionierung unproduktiver Sektoren wie Landwirtschaft und Bergbau werde künftig nicht mehr finanzierbar sein. Dies und der absehbare massive Abbau von Arbeitsplätzen würden in eine Strukturkrise münden, die den Staat zu immer weitergehenderen Eingriffen in die Wirtschaft veranlassen werde. Dies werde in einen „integralen Etatismus“ münden: Der Staat werde die Wirtschaft lenken, aber das Privateigentum formal beibehalten. Er werde diesen Zustand nur mit Gewalt gegen die aufbegehrenden Opfer der Strukturkrise stabilisieren können.

Der technische Fortschritt bringe aber auch Ansatzpunkte für eine grundlegende Gesellschaftsveränderung hervor: Die Automatisierung und Computerisierung lasse die Notwendigkeit zu verdinglichender Lohnarbeit zunehmend wegfallen und setzte damit Arbeitszeit frei, die gegen das System aktiviert werden könne. Für den nötigen Umsturz fehle der Bundesrepublik jedoch ein "revolutionäres Subjekt": Das deutsche Proletariat sei verblendet und lebe im "falschen Bewusstsein". Es könne den abstrakten Gewaltzusammenhang des kapitalistischen Staates nicht mehr unmittelbar wahrnehmen, da alle ökonomischen und sozialen Differenzen zunehmend nivelliert und "eindimensional" geworden seien (Marcuse). Ein "gigantisches System von Manipulation" stelle "eine neue Qualität von Leiden der Massen her, die nicht mehr aus sich heraus fähig sind, sich zu empören. Die Selbstorganisation ihrer Interessen, Bedürfnisse, Wünsche" sei damit "geschichtlich unmöglich geworden."

Verhältnis zum "real existierenden" Staatskommunismus

Dutschke grenzte sein Denken scharf gegen den Leninismus der Sowjetunion und der von ihr beherrschten Staaten ab. Er sah darin eine doktrinäre Entartung des genuinen Marxismus zu einer neuen "bürokratischen" Herrschaftsideologie. Er erwartete und befürwortete auch im Ostblock eine durchgreifende Revolution zu einem selbstbestimmten Sozialismus. Er setzte sich im SDS intensiv mit den DDR-Sympathisanten und "Traditionalisten" und ihrem an Lenins Konzept einer Kaderpartei angelehnten Revolutionsverständnis auseinander.

Eine Zeitlang begrüßte er Mao Zedongs Kulturrevolution in der Volksrepublik China als Versuch einer "Entbürokratisierung" der Staatspartei. Auch mit Pol Pot, dem kambodschanischen Führer der Roten Khmer, erklärte er sich anfangs solidarisch. Durch Ernest Mandel sah er bald jedoch, dass beide keine wirkliche Teilhabe des Volkes an der Macht anstrebten.

Anders als viele seiner Genossen im SDS begrüßte Dutschke den "Prager Frühling" vorbehaltlos als richtigen Versuch einer Befreiung von der staatskommunistischen Ein-Parteien-Diktatur. Sein Spätwerk war eine marxistische Analyse des Sowjetsystems, das dieses als neue Klassenherrschaft aus den besonderen Verhältnissen Russlands erklären und angreifbar machen wollte.

Antiimperialistische Gewalt und antiautoritäre Provokation

Das weltweite Unterdrückungs- und Ausbeutungssystem war für Dutschke nur langfristig zu überwinden. Dabei unterschied er die Bedingungen für eine erfolgreiche Revolution in den reichen Industriestaaten von denen der sogenannten "Dritten Welt". Anders als Marx es erwartet hatte, werde die Revolution nicht in den ökonomisch entwickeltesten Ländern beginnen, sondern von den unterdrückten Völkern der "Peripherie" des Weltmarkts ausgehen.

Im Vietnamkrieg sah er den Beginn einer solchen revolutionären Entwicklung, die auch auf andere Dritte-Welt-Länder übergreifen könne. Er bejahte ausdrücklich die Gewalt des Vietcong, um damit die Kriegsfähigkeit des Imperialismus weltweit zu schwächen:

„Dieser revolutionäre Krieg ist furchtbar, aber furchtbarer würden die Leiden der Völker sein, wenn nicht durch den bewaffneten Kampf der Krieg überhaupt von den Menschen abgeschafft wird“.

Er teilte hier die antiimperialistische Theorie von Frantz Fanon und die entsprechende Praxis Che Guevaras, wonach der Befreiungskampf zuerst die "schwächsten Glieder" in der Kette des Imperialismus zerreißen sollte: „Schaffen wir zwei, drei, viele Vietnam“.

In den USA oder der Bundesrepublik hielt Dutschke solche revolutionäre Gewalt allerdings zunächst nicht für möglich und zielführend. Entscheidend für den langfristigen Erfolg von Umsturzversuchen in der Dritten Welt sei, dass sie eine Veränderung des Bewusstseins bei den unterdrückten Massen in den Zentren des Kapitalismus hervorriefen. Wo dieser Zusammenhang erkannt werde - etwa an den Universitäten der "Metropolen" - , könne die Verblendung des "verbürgerlichten" Proletariats allmählich aufgebrochen werden. Nur eine entschiedene System-Opposition, die das gegebene Regelwerk partiell durchbricht und damit seinen Unterdrückungscharakter durchschaubar macht, könne dies leisten.

Die Studentenbewegung war für Dutschke ein Zeichen für die Entstehung einer solchen Opposition. Der studentische Protest gegen den Vietnamkrieg und ähnliche Konflikte in der Dritten Welt sollte die Bewusstseinsveränderung anstoßen und vermitteln. Im globalen Befreiungskampf sollten die Studenten durch provokante „Verweigerungen“ sich selbst und die deklassierten (d.h. durch die Strukturkrise erwerbslos gewordenen) Arbeiter aufklären und so eine Gegenöffentlichkeit schaffen. Diese Aufklärung solle durch „Agitation in der Aktion“ zur Schaffung eines revolutionären Bewusstseins beitragen. Durch die sinnliche Erfahrung staatlicher Gewalt, die auch illegale Aktionen provozierten, könne das falsche Bewusstsein aufgehoben und die tatsächliche Unfreiheit durchschaut werden. Der Revolutionär revolutioniere sich auf diesem Wege also gleichsam selbst. Die sinnliche Erfahrung von Gewalt sei die "entscheidende Voraussetzung für die Revolutionierung der Massen".

Dutschkes Konzept einer "antiautoritären Provokation" wurde in den Protestformen der APO zum Teil umgesetzt. Man wollte sich vom Staat und etablierten Parteiensystem nicht erlauben lassen, was man den Menschen nicht verbieten könne: das selbstbestimmte Recht auf Inanspruchnahme der Öffentlichkeit zur Politisierung der Bevölkerung, gegen die Zwänge des normierten Konsum- und Arbeitsverhaltens. Dazu missachtete man z.B. Demonstrationsverbote und verließ vorgeschriebene Demonstrationsorte und -routen. Mit Sitzstreiks, "Go-Ins", Tomatenwürfen und Pudding-Attacken auf Staatsbesucher und Herrschaftssymbole usw. wollte man breite Diskussionen über unmenschliche Gewalt wie im Vietnamkrieg oder im Iran erzwingen.

Nach dem Tod Benno Ohnesorgs am 2. Juni 1967 erhielt die Studentenbewegung massenhaften Zulauf. Bis zum Sommer 1968 sah es für viele der damals Beteiligten so aus, als ob eine Revolution auch in Mitteleuropa möglich sei. Auch Dutschke glaubte damals daran:

„Wir haben eine historisch offene Möglichkeit – es hängt primär von unserem Willen ab, wie diese Periode der Geschichte enden wird“.

Diese „voluntaristische“ Überzeugung brachte ihm den Vorwurf eines "Linksfaschismus" ein, den der prominente Vertreter der Kritischen Theorie, Jürgen Habermas, am Abend des 2. Juni 1967 erhob. Dieser kritisierte das Konzept der antiautoritären Provokation als gewaltfördernd, weil Dutschke damit nur „die sublime Gewalt, die notwendig in den Institutionen enthalten ist, manifest werden“ lassen wolle.

Dutschke befürwortete die Anwendung von Gewalt zur Durchsetzung revolutionärer Ziele; sein Schwergewicht lag aber auf weitgehend gewaltfreien demonstrativen Regelverletzungen. Er unterschied Gewalt gegen Sachen oder Personen; letztere lehnte er zwar nicht prinzipiell, aber für die bundesdeutsche Situation ab. Auch Gewalt gegen Sachen propagierte er nicht aktiv, beteiligte sich aber an der Vorbereitung eines Sprengstoffanschlags auf den Sendemast des amerikanischen Soldatensenders AFN oder ein Schiff mit Versorgungsgütern für die US-Armee in Vietnam. Auch diese Sabotageaktion sollte über den Zusammenhang deutscher Repression und amerikanischer Kriegführung aufklären, keinen Guerillakrieg in Gang setzen. Beide Anschläge blieben unausgeführt, teils wegen praktischer Schwierigkeiten, teils weil Verletzung von Personen nicht ausgeschlossen werden konnte.

Auf die Frage: "Würden Sie für Ihre revolutionären Ziele notfalls auch mit der Waffe in der Hand eintreten?" antwortete er 1968 (?):

"Wäre ich in Lateinamerika, würde ich mit der Waffe in der Hand kämpfen. Ich bin nicht in Lateinamerika, ich bin in der Bundesrepublik. Wir kämpfen dafür, dass es nie dazu kommt, dass Waffen in die Hand genommen werden müssen. Aber das liegt nicht bei uns. Wir sind nicht an der Macht. Die Menschen sind sich ihres eigenen Schicksals nicht bewusst ... Wenn 1969 der NATO-Austritt nicht vollzogen wird, wenn wir reinkommen in den Prozess der internationalen Auseinandersetzung - es ist sicher, dass wir dann Waffen benutzen werden, wenn bundesrepublikanische Truppen in Vietnam oder anderswo kämpfen - dass wir dann im eigenen Lande auch kämpfen werden."

Der "lange Marsch", das "Berliner Modell" und die Deutsche Einheit

Wie diese „Kulturrevolution“ und die weiteren Phasen des revolutionären Prozesses genau aussehen sollten, erklärte Dutschke nur vage und unscharf. Das Konzept könne erst „in der ständigen Vermittlung von Reflexion und Aktion, von Theorie und Praxis erarbeitet“ werden. Er bezeichnete den Prozess als ausgesprochen „langen Marsch durch die Institutionen“, in dem die Studenten das neue Bewusstsein in alle gesellschaftliche Bereiche tragen sollten. Demzufolge nahm er nach der Genesung von seiner Kopfverletzung am Aufbau der Grünen als parlamentarischer Antiparteien-Partei teil.

Die Bildung "herrschaftsfreier Räume" war Dutschke wesentlich wichtiger als die direkte Bekämpfung von staatlicher Gewalt. In verschiedenen Zeitschriften (u.a. dem "Kursbuch") entwarf er eine Utopie einer Räterepublik West-Berlin, in der es keine Polizei, keine Justiz und keine Gefängnisse mehr geben sollte. Auch werde man nur fünf Stunden täglich arbeiten müssen. Er hoffte, dass dies auf Ostdeutschland ausstrahlen würde:

„Wenn sich Westberlin zu einem neuen Gemeinwesen entwickeln sollte, würde das die DDR vor eine Entscheidung stellen: entweder Verhärtung oder wirkliche Befreiung der sozialistischen Tendenzen in der DDR. Ich nehme eher das letztere an.“

In diesem Kontext bejahte Dutschke die deutsche Wiedervereinigung. Die Teilung war für ihn ein Anachronismus, da beide deutsche Teilstaaten das Erbe des Faschismus erst noch zu überwinden hätten. Er erklärte, sich für die Berliner Mauer regelrecht zu schämen; sein "Berliner Modell" sollte Vorbild eines basisdemokratischen Gesamtdeutschlands sein.

Dutschke in der aktuellen Diskussion

Dutschke polarisierte die Meinungen bereits zu Lebzeiten; im Zusammenhang der historischen Bewertung der "68er"-Bewegung ist seine Person nach wie vor stark umstritten. Anlass für eine neue Debatte über ihn war sein 25. Todestag. Die Berliner Tageszeitung (taz) schlug vor, die Kreuzberger Kochstraße nach ihm umzubenennen. Die PDS und die Grünen unterstützen diesen Vorschlag, die Bezirksverordnetenversammlung (BVV) von Friedrichshain-Kreuzberg hat noch nicht abschließend darüber entschieden.

Umstritten ist vor allem Dutschkes Verhältnis zur terroristischen Gewalt, wie sie die RAF im Gefolge der Studentenbewegung übte. Wolfgang Kraushaar vom Hamburger Institut für Sozialforschung stellt Dutschke als gewaltbereiten Theoretiker der „Stadtguerilla“ dar (Aufsatz im Reader "Rudi Dutschke, Andreas Baader und die RAF"). Er bezieht sich dazu auf Notizen aus dem Nachlass und das „Organisationsreferat“, das Dutschke mit Hans-Jürgen Krahl verfasst und am 5. September 1967 beim Bundeskongress des SDS in Frankfurt/Main vorgetragen hatte. Darin heißt es u. a.:

„Die 'Propaganda der Schüsse' (Che) in der 'Dritten Welt' muss durch die 'Propaganda der Tat' in den Metropolen vervollständigt werden, welche eine Urbanisierung ruraler Guerilla-Tätigkeit geschichtlich möglich macht. Der städtische Guerillero ist der Organisator schlechthinniger Irregularität als Destruktion des Systems der repressiven Institutionen.“

Ob Dutschke den Begriff "Stadtguerilla" so verstand wie später die RAF, ist fraglich: Er wollte hier zu "Irregularität" anleiten und distanzierte sich - wie auch Kraushaar bemerkt - seit 1973 ausdrücklich von diesem "Individualterror", der eben keinen Beitrag zur Bewusstwerdung der Massen leiste. Nach Ansicht der Frankfurter Rundschau dagegen lasse "der Band ... keinen Zweifel daran, dass Dutschke propagierte, was Baader und die RAF praktizierten." In einer neunteiligen Essayreihe der Tageszeitung wurde diese These von Wissenschaftlern, Publizisten und Protagonisten der Bewegung kontrovers diskutiert.

Dutschke wandte bei seinen eigenen Aktionen keine Gewalt an und distanzierte sich auch von dem revolutionären Hass, den Che Guevara propagierte. Problematisch sind vor allem seine theoretischen Konzepte, die eine Entwicklung zur RAF begünstigt haben könnten. Als revolutionärer Marxist erwartete er keine friedliche Überwindung der angeblich gewaltsam durchgesetzten Ausbeutungsverhältnisse; als Antiimperialist bejahte er den gewaltsamen "Befreiungskampf" der Völker der Dritten Welt; und als führender Kopf der Studentenbewegung trat er Gewaltausbrüchen bei Demonstrationen nicht entschieden entgegen, sondern gab ihnen eine mögliche Rechtfertigung. Diese folgte einem klassischen Denkmuster, indem sie einen "gerechten" Kombattanten stilisiert, der die Gewalt anwendet, um sie zu bekämpfen. Gewalt sei dann nötig und erlaubt, wenn sie von der "falschen Seite" aufgezwungen und von der "richtigen Seite" in bestimmten Situationen als unausweichliche Gegengewalt angewandt werde. Diese Vorstellung eines gerechtfertigten Krieges delegitimiert die Gegenseite und überhöht zugleich die eigene Position in einem politischen Konflikt. Es kann dadurch die Bereitschaft zur Gewaltanwendung verstärken und so zur sich selbst erfüllenden Prophezeiung werden.

Darauf berufen sich in Deutschland bis heute manche Gruppen des noch vorhandenen "antiimperialistischen" oder "autonomen" Spektrums. Dabei wird jedoch Dutschkes Zielrichtung, die Bewusstseinsveränderung der Masse zur Beendung von Krieg, kaum beachtet und angestrebt. Die Frage, ob und wie wirksames "revolutionäres" Handeln in einem parlamentarischen System möglich ist, das weder in destruktiven Terrorismus umschlägt noch Bürgerkrieg hervorbringt, hat er nachhaltig in die politische Debatte eingebracht.

Werke

  • Rudi Dutschke: Jeder hat sein Leben ganz zu leben - Die Tagebücher 1963-1979 (Hrsg. v. Gretchen Dutschke), Kiepenheuer & Witsch, Köln 2003. ISBN 3462032240
  • Rudi Dutschke: Mein langer Marsch. Reden, Schriften und Tagebücher aus zwanzig Jahren (Hrsg. von Gretchen Dutschke-Klotz, Helmut Gollwitzer und Jürgen Miermeister), Rowohlt 1980. ISBN 3499147181
  • Rudi Dutschke: Aufrecht gehen - Eine fragmentarische Autobiographie, Olle und Wolter, Berlin 1981. ISBN 3883954276
  • Rudi Dutschke: Lieber Genosse Bloch... - Briefe Rudi Dutschkes an Karola und Ernst Bloch (Hrsg. v. Karola Bloch und Welf Schröter), Talheimer Verlag 1988. ISBN 3893760016
  • Rudi Dutschke: Versuch, Lenin auf die Füße zu stellen. Über den halbasiatischen und den westeuropäischen Weg zum Sozialismus., Wagenbach, Berlin 1984
  • Uwe Bergmann/Rudi Dutschke/Wolfgang Lefèvre/Bernd Rabehl: Rebellion der Studenten oder die neue Opposition. Eine Analyse, Rowohlt, Reinbek b. Hamburg, 1968.
  • Frank Böckelmann/Herbert Nagel (Hrsg.): Subversive Aktion. Der Sinn der Organisation ist ihr Scheitern, Verlag Neue Kritik, Frankfurt/Main 1976.

Literatur

  • Ulrich Chaussy, Die drei Leben des Rudi Dutschke. Eine Biographie, Pendo, Zürich 1999 (1. Aufl. 1983). ISBN 385842532X
  • Dany Cohn-Bendit und Reinhard Mohr, „1968. Die letzte Revolution, die noch nichts vom Ozonloch wusste“, Wagenbach, Berlin 1988. ISBN 3803121612
  • Jürgen Miermeister: Rudi Dutschke, rororo bildmonographien, Reinbek b. Hamburg, 1986 und Nachauflagen. ISBN 3499503492
  • Bernd Rabehl: Rudi Dutschke - Revolutionär im geteilten Deutschland, Edition Antaios, Dresden 2002. ISBN 3935063067
  • Michaela Karl: Rudi Dutschke - Revolutionär ohne Revolution, Verlag Neue Kritik, Frankfurt/Main 2003. ISBN 380150364X
  • Gretchen Dutschke: Rudi Dutschke. Wir hatten ein barbarisches, schönes Leben. Eine Biographie, Knaur, München 1998. ISBN 3426608146
  • Gerd Langguth: Mythos '68 - Die Gewaltphilosophie von Rudi Dutschke - Ursachen und Folgen der Studentenbewegung; München 2001 (Olzog), ISBN 3-7892-8065-8
  • Wolfgang Kraushaar, Karin Wieland und Jan Philipp Reemtsma: Rudi Dutschke, Andreas Baader und die RAF, Hamburger Edition 2005 ISBN 3936096546