Dolopathos
Der Dolopathos ist ein ursprünglich in mittellateinischer Sprache verfasster Roman aus dem späten 12. Jahrhundert.
Autor und Entstehung
Der ursprüngliche Verfasser ist ein ansonsten unbekannter Zisterziensermönch aus der Abtei von Haute-Seille, der sich (nach dem Namen seines Klosters) Johannes de Alta Silva benennt. In der Praefatiuncula (Vorwort) widmet er sein Werk dem Bischof Bertrand von Metz, dessen dortiges Episkopat von 1179 bis 1212 währte. Johannes selbst betitelt sein Werk opusculum de rege et septem sapientibus (‚Büchlein vom König und den sieben Weisen‘).
Schon bald nach seinem Erscheinen wurde es von Herbert, einem eleganten Dichter am Hofe Philipps II. (gest. 1223), umgearbeitet, und unter dem Titel Li romans de Dolopathos in altfranzösische Reime (insgesamt 12901 Achtsilbler) gesetzt.
Das Werk stellt eine eigentümliche Bearbeitung der Historia septem sapientum dar, und geht somit auf einschlägige orientalische Quellen, bzw. deren griechische oder lateinische Übersetzung, zurück. Allerdings weist der Dolopathos gegenüber diesen Quellen beträchtliche Unterschiede auf, sowohl was die Rahmenhandlung, als auch was einige der Binnenerzählungen betrifft, die sonst aus keiner anderen Version der Historia septem sapientum bekannt sind. Johannes selbst berichtet im kurzen Nachwort, dass er diese Geschichten non ut vista sed ut audita“[1] aufgeschrieben habe, also nicht wie er sie (andernorts) gelesen, sondern so, wie er sie gehört habe. Hieraus wurde gelegentlich geschlossen, dass diese Erzählungen auf mündliche Überlieferungen, etwa durch heimkehrende Kreuzfahrer, zurückgegangen sein könnten. Die Berufung auf Hörensagen ist jedoch ein in der mittelaterlichen Literatur durchaus gängiges Motiv, wenn es darum geht, eine literarische Fiktion zu verschleiern.
Inhalt
Die Rahmenerzählung spielt im antiken Sizilien zur Zeit der Regentschaft des Kaisers Augustus. Titelheld ist der (anachronistisch) als „König“ von Sizilien bezeichnete Dolopathos, eigentlicher Held aber dessen Sohn und Erbe, der Prinz Lucinius. Dieser wird von seinem Vater, der selbst nur den einfachen und kriegerischen Geist eines Soldaten besitzt, um seiner höheren Bildung wegen in die Obhut des weisesten Mannes seiner Zeit gegeben - das ist, einem mittelalterlichen Topos zufolge: der Dichter-Philosoph Vergil. Nach einer Zeit eremitischer Unterweisung kehrt Lucinius an den Hof zurück, wo der junge Mann sogleich zum bevorzugten Objekt erotischer Begierden avanciert, sich jedoch in asketischer Standhaftigkeit bewährt. Nachdem er jedoch seine Stiefmutter, die ihm ebenfalls nachstellt, zurückweist, sinnt diese auf Rache, und bezichtigt ihn (wie im biblischen Motiv von Joseph und Potiphars Weib) der versuchten Vergewaltigung. Lucinius wird vor ein Gericht gestellt, das von seinem Vater und dessen Hofadel gebildet wird. Als eine letzte Prüfung seiner Selbstbeherrschung wurde Lucinius jedoch von seinem Lehrer Vergil für die Dauer einer Woche ein Schweigegelübde auferlegt, so dass er sich nicht selbst verteidigen kann, was als Eingeständnis seiner Schuld gewertet werden müsste. An jedem Tag dieser Woche erscheint jedoch nun einer der sieben weisen Männer, um an seiner Statt zu sprechen, und eine lehhreiche Geschichte zu erzählen, woraufhin die Exekution der Todesstrafe jeweils auf den nächsten Tag verschoben wird.
Nachdem Lucinius schließlich die Prüfung seines Schweigegelübdes siegreich bestanden hat, kommt die Wahrheit ans Licht, woraufhin die Stiefmutter - und mit ihr alle Damen des Hofes! - dem ihm selbst zugedachten Tod auf dem Scheiterhaufen überantwortet werden. In dieser ‚bereinigten‘ Hofgesellschaft regieren Dolopathos, Lucinius und Vergil dann über ein glückliches Sizilien, bis schließlich der Vater stirbt, ebenso wie der alte Lehrer. Zu der Zeit aber kommt ein christlicher Prediger in diese Weltgegend, der Lucinius in den grundsätzlichen Lehren des neuen Glaubens unterweist. Am Ende verzichtet Lucinius auf den Thron, und folgt seinem neuen Meister auf einer Pilgerfahrt in das Heilige Land.
Erzählstruktur und literarische Wirkung
Trotz der erhöhten Bedeutung, die Johannes de Alta Silva der Rahmenerzählung gegenüber früheren Varianten der Historia septem sapientum durch das Motiv der Bekehrung des Lucinius gegeben hat, beruht der eigentliche Schwerpunkt dieses ‚Romans‘ auf der geschickten Vernüpfung der einzelnen Binnenerzählungen sowohl zueinander wie zu der Haupthandlung. In dieser Funktion, gewissermaßen als eine abendländische Variante der Tausendundeinen Nacht, wurde das Werk auch vornehmlich rezipiert.
Giovanni Boccaccio hat in seinem Decamerone nicht nur drei Binnenerzählungen aus dem Dolopathos unmittelbar adoptiert, sondern fand darin auch jene literaturhistorisch so folgenreiche, lose und zugleich konsistente, Verknüpfung einzelner Geschichten innerhalb einer umfassenden Rahmenhandlung modellhaft vorgeprägt. Insofern kann der Dolopathos als der historische Prototyp für die hohe Kunste der italienischen Renaissance-Novellistik gelten.
Quellen
- Johannes de Alta Silva, Dolopathos, ed. A Hilka, Heidelberg 1913
- Herbert, Li romans de Dolopathos, ed. A. de Montaiglon,Paris 1853
Einzelnachweise
- ↑ A. Hilka (ed.), Johannis de Alta Silva Dolopathos sive De rege et septem sapientibus, Heidelberg 1913, p. 107