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Volksgruppen in der Türkei

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Im Osmanischen Reich wurde die Bevölkerung nicht nach ethnischen Gesichtspunkten differenziert, sondern nach religiösen Aspekten. Eine Bevölkerungsgruppe bekam nur dann eine Eigenständigkeit als Millet zuerkannt, wenn neben religiösen auch große kulturelle Unterschiede vorhanden waren. Türke bedeutete daher nicht das Staatsvolk im Osmanischen Reich. Dieses definierte sich als Osmanlı. Europaeische Minderheiten wurden Levantiner genannt. Türke wurde als abfällige Bemerkung für die turkmenische, muslimische Bevölkerung in Anatolien benutzt.

Erfahrungen gegen Ende des Osmanischen Reiches

Die Türkei betrieb bis vor kurzem gegenüber Minderheiten eine Assimilierungspolitik, die jeden türkischen Staatsbürger kulturell und ethnisch als Türken ansah. Ursache für diese Haltung waren die Erfahrungen der türkischen Eliten in der Endphase des Osmanischen Reiches die mit ansehen mussten, wie das Erwachen des Nationalbewusstseins und der Unabhängigkeitsbestrebungen der Völker auf dem Balkan und in anderen Teilen des Osmanischen Reiches zur Schwächung des Reiches führte. Diese Eliten wurden ihrerseits von der Idee der Nation und Nationalitäten geprägt und besannen sich stärker auf das Türkische im Osmanischen Reich. Höhepunkt dieser Entwicklung war die Jungtürken-Bewegung, Turanismus und die Forderungen nach einem „ethnisch homogenen Nationalstaat“.

Ideologie der Minderheitenpolitik

Die Erfahrungen mit der "Schwäche" eines heterogenen Staatsvolkes schlugen sich in der Ideologie des Kemalismus nieder. Atatürk, der Begründer der modernen Türkei, prägte mit seinen Ideen den jungen Staat bis in die jüngste Vergangenheit. Der Kemalismus wurde somit die Staatsideologie der Eliten.

Hauptmerkmale des Kemalismus in der frühen Phase waren:

Um Probleme mit Unabhängigkeitsbestrebungen auf dem Staatsgebiet der türkischen Republik zu verhindern, wurde in der Verfassung der Türkei im Jahre 1923 die türkische Nation als Heimat der ethnischen Türken definiert. Mit der ethnischen Bezeichnung Türke sollten sich alle 47 religiösen und ethnischen Gruppen, die in der neuen türkischen Republik lebten, identifizieren.

Die Sprachreform und die Schaffung einer nationalen Geschichte waren die Hauptmaßnahmen, die die türkische nationale Identität stärken und die Gesellschaft der Türkei homogenisieren sollten. Zur Erreichung der beiden Ziele wurden das Amt für die türkische Geschichte (Türk Tarih Kurumu) und das Amt für die türkische Sprache (Türk Dil Kurumu) geschaffen. Die Türkisierung der Gesellschaft reduzierte die Heterogenität der Bevölkerung erheblich, nichtsdestotrotz kam es aber auch vor allem in den kurdischen Regionen in den 20er- und 30er-Jahren des 20. Jahrhunderts zu Aufständen (die aber auch andere Ursachen hatten). Die Homogenisierung wurde aber nicht nur auf das Nationalbewusstsein beschränkt sondern auch auf den islamischen Glauben ausgedehnt. Daher gibt es neben der ethnischen Komponente auch eine religiöse Komponente der restriktiven Politik, die sich aus der kemalistischen Ideologie ergibt.

Die religiöse Komponente hängt im Kern eng mit der ethnischen Komponente zusammen. Trotz Laizismus war der Islam für die Etablierung eines einheitlichen nationalen Bewusstseins von großer Bedeutung, weil der Islam den größten gemeinsamen Nenner zwischen den vielen Ethnien bildete. Daher wurden seit der Republikgründung die Glaubensfragen und der religiöse Kultus dem Diyanet İşleri Başkanlığı unterstellt. Über dieses Organ wurde die religiöse Homogenisierung betrieben. Der sunnitische Islam wurde zu einer De-facto-Staatsreligion erhoben. Die hohe Zahl der türkischen Bürger, die sich zum alevitischen Islam bekennen, wurde daher vernachlässigt.

Die Problematik und Komplexität um die Diskussion des Minderheitenschutzes in der Türkei zeigt sich erst durch die gleichzeitige Betrachtung der ethnischen und religiösen Komponente. Während der Schutz der ethnischen Minderheiten eine klare Angelegenheit ist, wird die Sachlage durch die Miteinbeziehung der religiösen Aspekte verkompliziert. Im Ersteren geht es hauptsächlich um die sozialen und kulturellen Rechte der größten Minderheit, der Kurden. Die Vernachlässigung der religiösen Minderheit der Aleviten trifft größtenteils ethnisch gesehen die Türken. Paradoxerweise ist die ethnische Majorität der Türken teilweise auch der religiösen Minderheit zugehörig. Und andersherum sind Teile der kurdischen Minderheit Bestandteil der religiösen Mehrheit. Daher richtet sich die repressive Politik der Türkisierung (bzw. Homogenisierung) nicht nur gegen die Kurden sondern auch auf die Türken alevitischen Glaubens. Daher ist der kurdische Konflikt, der in den 80er-Jahren aufflammte und bis 1999 andauerte nicht „primär“ als ein Kampf zwischen ethnischen Türken und Kurden zu sehen sondern vielmehr als einen ideologischen Kampf zwischen den Verfechtern der Homogenisierungspolitik (zumeist die Staatselite) gegen über den Forderungen für mehr religiöse und ethnische Heterogenität und Freiheit.

Aktuelle Situation

Die Repressalien gegenüber den ethnischen und religiösen Minderheiten lassen sich daher auf die geschichtlichen Erfahrungen im Osmanischen Reich und die daraus resultierende Staatsideologie des Kemalismus zurückführen. Diese Sichtweise prägt immer noch das Handeln und Denken großer Teile der kemalistisch geprägten Eliten in Politik, Verwaltung und Militär.

Vor allem die kurdische Minderheit sollte, u.a. auch durch Anwendung von Zwangsmaßnahmen (z.B. Verbot der kurdischen Sprache, Umsiedlungen), „türkisiert“ werden. Kulturelle und ethnische Unterschiede wurden lange Zeit geleugnet. Die Kurden wurden als „Bergtürken“ bezeichnet und damit wurde auch im offiziellen Sprachgebrauch das Kurdische verdrängt. Die Assimilierung der kurdischen Oberschicht, die Großgrundbesitzer und ehemaligen Stammesoberhäupter (Aghas), fiel dabei besonders leicht.

Im Zuge der Reformen und weiterer Demokratisierung der türkischen Gesellschaft seit 2001 schwächt sich diese Haltung ab. Ein Bericht eines Regierungsausschusses über Minderheiten in der Türkei, der im November 2004 vorgelegt wurde, löste eine kontroverse Diskussion zwischen konservativen und liberalen Kräften aus. Der Bericht schlägt vor, die Verfassung in den Passagen zu ändern, in der von der Einheit des Staatsvolkes, der Kultur und des Staates ausgegangen wird. Stattdessen soll die unterschiedliche ethnische und kulturelle Zusammensetzung der türkischen Gesellschaft anerkannt und ihre Bewahrung gefördert werden. Damit wird dem Einheitsstaat-Gedanken eine multikulturelle, freie und pluralistische Gesellschaft entgegengesetzt. Die Konservativen befürchten, dass durch die Anerkennung der Vielfältigkeit dem Separatismus Vorschub geleistet wird und es zu einer Teilung und Schwächung der Türkei kommt.


Siehe auch