Wegzugsbesteuerung
Unter dem Begriff Wegzugsbesteuerung versteht man gesetzliche Regelungen, die eine steuerliche Erfassung von im Inland gelegten stillen Reserven sicherstellen sollen.
Grundlegende Problematik
Die meisten Steuergesetze sehen - in Anlehnung an die meisten Bilanzierungsregeln (IFRS, US-GAAP, Handelsgesetzbuch) - vor, dass nur realisierte Gewinne bilanziell bzw. steuerlich erfasst werden. Nicht realisierte Wertsteigerungen (sogenannte stille Reserven) werden damit nicht erfasst.
Gleichzeitig sehen die meisten Doppelbesteuerungsabkommen vor, dass das Besteuerungsrecht für Veräußerungsgewinne dem Wohnsitzstaat zusteht. Damit besteht ohne besondere Regelungen die Gefahr, dass ein Steuerpflichtiger vor Realisierung seiner stillen Reserven (das heißt: vor Verkauf des im Wert gestiegenen Wirtschaftsguts) seinen Wohnsitz in ein anderes Land verlagert.
- Beispiel: Ein deutscher Steuerpflichtiger erwirbt im Jahr 1990 einen 50%-Anteil an einer deutschen GmbH für 1 Mio. Euro. Am 01.01.2005 sei dieser Anteil 11 Mio. Euro wert, da er aber noch nicht verkauft hat, wurde die Wertsteigerung in Höhe von 10 Mio. Euro noch nicht besteuert, es wurden stille Reserven gelegt. Würde er diesen Anteil jetzt verkaufen, müsste er den Veräußerungsgewinn versteuern (wegen des Halbeinkünfteverfahrens nur zur Hälfte).
- Verlagert er jedoch vor Verkauf seinen Wohnsitz in ein anderes Land, so würde - ohne besondere Regelung - diese Wertsteigerung zumindest in Deutschland nicht mehr steuerlich erfasst. Zwar würde es grundsätzlich schon zu einer beschränkten Steuerpflicht durch den Verkaufsvorgang kommen (s. § 49 Abs. 1 Nr. 2 lit. e) EStG), aber regelmäßig wird das Besteuerungrecht Deutschlands durch ein Doppelbesteuerungsabkommen ausgeschlossen.
Wirkungsweise der Wegzugsbesteuerung
Das Ziel der Regelungen zur Wegzugsbesteuerung besteht darin, eine derartige Gestaltung zu verhindern und sicherzustellen, dass die im Inland gelegten stillen Reserven auch im Inland steuerlich erfasst werden. Dazu werden in der Regel bei einem Wohnsitzwechsel in ein anderes Land die stillen Reserven erfasst und besteuert. Es wird also ein fiktiver Veräußerungsvorgang angenommen. In vielen Staaten finden sich dabei recht ähnliche Regelungen.
Deutschland: § 6 AStG
Die deutsche Wegzugsbesteuerung ist in § 6 des Außensteuergesetzes geregelt. Sofern eine natürliche Person, die insgesamt mindestens 10 Jahre in Deutschland der unbeschränkten Steuerpflicht unterlegen hat, ihren Wohnsitz ins Ausland verlegt, werden die stillen Reserven in sämtlichen Anteilen an Kapitalgesellschaften, an denen der Steuerpflichtige in den vergangenen fünf Jahren irgendwann zu mindestens 1% beteiligt war bzw. ist (s. § 17 EStG) besteuert. Da ja kein tatsächlicher Verkauf stattgefunden hat, gilt als Veräußerungspreis der gemeine Wert (in etwa der Marktwert) der Anteile zum Zeitpunkt des Wohnsitzwechsels.
Die Steuer kann auf Antrag unter bestimmten Voraussetzungen in fünf Jahresraten bezahlt werden. Ein kompletter Wegfall der Steuerpflicht nach § 6 Abs. 4 AStG tritt ein, wenn der Wegzug nur vorübergehend war und der Steuerpflichtige innerhalb von fünf, maximal zehn Jahren ohne Verkauf der Anteile wieder nach Deutschland zurückzieht.
Frankreich: Art.167bis CGI
Die französischen Regelungen zur Wegzugsbesteuerung wurden vom EuGH als EG-rechtswidrig eingestuft (siehe unten).
Die französischen Regelungen zur Wegzugsbesteuerung waren der deutschen Regelung recht ähnlich. Sofern ein französischer Steuerpflichtiger (Wohnsitz mindestens sechs der letzten zehn Jahre in Frankreich) seinen Wohnsitz ins Ausland verlegt, sah Art. 167bis CGI eine Besteuerung bestimmter stiller Reserven bei Beteiligungen an Kapitalgesellschaften vor. Im Gegensatz zur deutschen Regelung galt die französische Wegzugsbesteuerung erst bei Beteiligungsquoten von mindestens 25%, bestimmte nahe stehende Personen (Ehegatten und nahe Verwandte) werden dabei zusammengerechnet.
Allerdings sah die französische Regelung unter bestimmten Bedingungen eine Stundung der Steuer vor, bis die stillen Reserven tatsächlich realisiert werden (d.h. bis tatsächlich der Anteil verkauft wird). Sofern sich die Beteiligung fünf Jahre nach dem Wegzug noch im Besitz des weggezogenen Steuerpflichtigen befindet, also noch kein Verkauf stattgefunden hat, wurde die Steuer sogar erlassen. Tendenziell waren die französischen Regelungen also noch milder als die deutschen Vorschriften.
Österreich: § 31 EStG
In Österreich wurde eine Wegzugsbesteuerung 1992 eingeführt. Diese Regelung sah ebenfalls eine Besteuerung des Wertzuwachses von wesentlichen Beteiligungen (mindestens 1%) an Kapitalgesellschaften vor, wenn eine natürliche Person ins Ausland gezogen ist. Im Gegensatz zum deutschen Gesetzgeber hat Österreich seine Regelung in Reaktion auf das EuGH-Urteil zur französischen Wegzugsbesteuerung allerdings bereits 2004 angepasst. Bei einem Wegzug in einen anderen EU- oder EWR-Staat wird auf Antrag die Steuer bis zur endgültigen Realisierung gestundet. Im Zeitpunkt des Wegzugs werden nur die bis dahin gelegten stillen Reserven erfasst, eine Steuer fällt aber erst beim tatsächlichen Verkauf der Beteiligung an.
Das EuGH-Urteil "Lasteyrie du Saillant"
Mit Urteil vom 11.03.2004 (Lasteryrie du Saillant) hat der EuGH entschieden, dass die französischen Regeln zur Wegzugsbesteuerung gemeinschaftsrechtswidrig sind. Da die deutschen Regeln den französischen sehr ähnlich sind, geht man davon aus, dass auch die deutschen Regeln mit EU-Recht unvereinbar sind. Die EU-Kommission hat deshalb auch ein Vertragsverletzungsverfahren gegen Deutschland eingeleitet und Deutschland förmlich aufgefordert, seine Wegzugsbesteuerung aufzuheben oder gemeinschaftsrechtskonform auszugestalten.
Weblinks
Kommission fordert Deutschland zur Aufhebung der Wegzugsbesteuerung auf