Direkte Demokratie
Dieser Artikel soll neutral bleiben, wird aber kontrovers diskutiert
Der Begriff direkte Demokratie hat zwei Bedeutungen:
Zum einen wird darunter eine Staatsform verstanden, in der die Macht direkt vom Volk ausgeübt wird. Der Gegenbegriff dazu ist die repräsentative Demokratie.
Zum anderen werden darunter politische Entscheidungsverfahren mit starker Beteiligung der Bevölkerung verstanden. Solche Verfahren können durchaus auch Teil eines Systems der repräsentativen Demokratie sein.
Diese Formen greifen jedoch oft ineinander, da Staaten von nationaler, über föderale bis auf lokale Ebene direktdemokratische Elemente beinhalten können.
Im erweiterten Sinne spricht man auch im Zusammenhang mit weiteren Formen der Bürgerbeteiligung wie Informations- und Akteneinsichtsrechten von direkter Demokratie. Wenn jedoch die Art der Beteiligung nicht primär auf das Stimmrecht bezogen wird, sondern die intensive Beteiligung möglichst vieler an möglichst vielem im Vordergrund steht, handelt es sich um eine Form der partizipatorischen Demokratie.
Man kann zwischen aktivierenden und bremsenden Instrumenten der direkten Demokratie unterscheiden. Mit Volksbegehren (in der Schweiz Volksinitiativen genannt) kann die Bevölkerung aktiv Vorschläge in den Gesetzgebungsprozess einbringen. Üblicherweise wird eine bestimmte Anzahl Unterschriften verlangt. Je nach System und Instrument entscheidet schließlich das Parlament oder auch wieder das Volk über den Vorschlag. Bremsend auf den politischen Prozess wirkt das Recht, Unterschriften gegen ein vom Parlament beschlossenes Gesetz zu sammeln. Kommt eine bestimmte Anzahl Unterschriften zusammen, wird das Gesetz dem Volk zur Abstimmung vorgelegt. Einige Staaten kennen diese direkten Formen der Bürgerbeteiligung nicht, lassen aber zu, dass das Parlament oder die Regierung eine Frage dem Volk zur Entscheidung vorlegt (z.B in Großbritannien zur Frage der Annahme des Euro). Schließlich gibt es in manchen Verfassungen die Pflicht, dass Verfassungsänderungen obligatorisch nicht nur das Parlament, sondern auch die Mehrheit des Volkes zustimmt.
Die direkte Demokratie als Urform der Demokratie entstand ursprünglich nicht in Flächenstaaten sondern in kleineren Gemeinwesen, der antiken griechischen polis (Stadtstaaten wie Athen). Hier wurden Entscheidungen in Versammlungen aller Stimmberechtigten, in der Regel die männlichen Vollbürger, eine Minderheit in der Gesamtbevölkerung, getroffen.
Funktionsweise in der Schweiz
- Die Schweiz hat eine über hundertjährige Tradition der direkten Demokratie. Hier ist das aktivierende Element die Volksinitiative, das Referendum ist ein bremsendes Element. In der Schweiz muss das Volk jeder Verfassungsänderung zustimmen. Von allen Ländern bietet die Schweiz ihren Einwohnern die leichtesten und weitestgehenden Möglichkeiten, durch und über Gesetze direkt zu entscheiden bzw. abzustimmen.
- Die politischen Rechte in Bundessachen stehen allen Schweizerinnen und Schweizern zu, die das 18. Altersjahr zurückgelegt haben und die nicht wegen Geisteskrankheit oder Geistesschwäche entmündigt sind.
Funktionsweise in Österreich
In Österreich gibt es zwei Formen des Referendums: die Volksabstimmung und die Volksbefragung. Nicht zu verwechseln mit diesen Formen des Plebiszits ist ein weiteres Element der direkten Demokratie, das Volksbegehren, das eine qualifizierte Form einer Petition an den Nationalrat darstellt.
- Eine Volksabstimmung (und auch eine Volksbefragung) unterscheidet sich in der Durchführung fast nicht von einer Wahl. Ebenso wie bei dieser können Auslandsösterreicher(innen) an einer Volksabstimmung teilnehmen.
- Gegenstand der Volksabstimmung ist ein vom Parlament beschlossenes Gesetz, eine grundlegende Änderung der Verfassung oder die von der Bundesversammlung (Nationalrat und Bundesrat) gestellte Frage nach der Absetzung des Bundespräsidenten. Der Ausgang der Volksabstimmung ist bindend.
- Es gab bislang erst zwei Volksabstimmungen:
- 1. Volksabstimmung vom 5. November 1978 über ein Bundesgesetz zur friedlichen Nutzung der Kernenergie in Österreich (Inbetriebnahme des Kernkraftwerkes Zwentendorf): "Soll der Gesetzesbeschluss des Nationalrates vom 7. Juli 1978 über die friedliche Nutzung der Kernenergie in Österreich (Inbetriebnahme des Kernkraftwerkes Zwentendorf) Gesetzeskraft erlangen?" Ergebnis: 50,5% stimmten mit "Nein". Auffallend war ein starkes West-Ost-Gefälle. Die Ablehnung betrug in Vorarlberg 84,4%, in Wien jedoch nur 40,2%.
- 2. Volksabstimmung vom 12. Juni 1994 über den Beitritt Österreichs zur Europäischen Union: "Soll der Gesetzesbeschluss des Nationalrates vom 5. Mai 1994 über das Bundesverfassungsgesetz über den Beitritt Österreichs zur Europäischen Union Gesetzeskraft erlangen?" Ergebnis: 66,6% stimmten mit "Ja"
Funktionsweise in Deutschland
Direkte Demokratie gibt es in Deutschland nur sehr beschränkt auf der Ebene der Gemeinden und der Bundesländer. Auf Bundesebene werden dem Volk zur Zeit im Grundgesetz keine direktdemokratischen Rechte, mit Ausnahme nach Artikel 29 Grundgesetz bei der Neugliederung der Bundesländer eingeräumt.
Wenn Landesparlamente Entscheidungen treffen, die Teilen des Volkes missfallen, haben diese in bestimmten Fällen die Möglichkeit, einen Volksentscheid durchzusetzen. Hierfür wird die Sammlung einer großen Zahl von Unterschriften gefordert. Wird das verlangte Quorum erreicht, muss der Volksentscheid stattfinden. Diesem Verfahrensschritt geht in einigen Bundesländern noch das Volksbegehren voraus, in welchem eine bestimmte Anzahl von Bürgern durch Eintragung in Unterschriftenlisten eine konkrete politische Forderung an das zuständige parlamentarische Organ richtet. Erst wenn dieses Organ dem Begehren nicht folgt, kann im nächsten Schritt ein Volksentscheid folgen, für den je nach Ausformung der Verfahrensvorschriften die erneute Sammlung einer bestimmten Mindestzahl von Unterschriften erforderlich sein kann. Ergänzend besteht in der Regel auch die Möglichkeit, dass die jeweilige Regierung Fragen von besonderer Bedeutung der Bevölkerung zur Entscheidung vorlegen kann. Die Anwendung der direktdemokratischen Rechte ist allerdings eher die Ausnahme als die Regel. Lediglich in den kleineren Gemeinden Baden-Württembergs und in Bayern kommt es häufiger zu Volksabstimmungen, weil in Bayern die Zahl der geforderten Unterschriften nicht so prohibitiv hoch ist, wie bei den anderen Bundesländern. In Hamburg wurden Volksbegehren und Volksentscheid 2005 von der CDU-Regierung erschwert: Künftig dürfen etwa Stimmen nicht immer in der Öffentlichkeit, sondern nur noch auf Bezirksämtern gesammelt werden.
Auf Kommunalebene gibt es zahlreiche Möglichkeiten, direkten Einfluss auf die Politik zu nehmen. So existieren zahlreiche Anhörungspflichten, bei denen die Bürger z. B. bei Änderungen des Bebauungsplans oder bei Planfeststellungsverfahren für Straßen angehört werden müssen und ihre Einwände befasst werden müssen. Ebenso wird auch der Haushaltsentwurf allen Bürgern zur Ansicht zur Verfügung gestellt und Einsprüche ihrerseits beraten.
Damit ist eine viel feinere Steuerung politischer Entscheidungen durch den Bürger möglich als nur durch Wahlen allein. Die Souveränität im Staat liegt in Demokratien deren Theorie zufolge ohnehin direkt beim Volk. Die Möglichkeit des Volkes, selbst in den politischen Entscheidungsprozess einzugreifen und im Zweifelsfall immer das letzte Wort zu haben, hat bereits eine vorbeugende Kontrollfunktion hinsichtlich der repräsentativen Staatsorgane.
Geschichte in Deutschland
In der Weimarer Republik räumte der Art. 73 der Verfassung der Bevölkerung das Recht ein, dem Parlament mit mindestens 10% der Unterschriften der Wahlberechtigten einen Gesetztesvorschlag zu machen. Stimmte das Parlament diesem Entwurf nicht zu, kam es zum Volksentscheid, dessen Erfolg davon abhing, dass 50 % des Wahlvolkes dem Volksbegehren zustimmten. Alle drei Versuche eines Volksbegehrens scheiterten. Es scheiterte 1926 die "Fürstenenteignung" unterstützt von KPD und später SPD mit 36,4 % an der 50% Hürde. Der Volksentscheid gegen den Young-Plan, der von NSDAP und DNVP unterstützt worden war, scheiterte 1929 mit nur 13,5 % Unterstützung durch die Wahlberechtigten. "Gegen den Panzerkreuzerbau" unterstützt von der KPD scheiterte mit 1,2 Mio. Unterschriften am 10% Quorum. Obwohl keine der extremistischen Initiativen also Erfolg beim Volk hatte, werden die Erfahrungen von Weimar immer wieder als Argument gegen direkte Demokratie in Deutschland verwendet.
Beispiele für andere Staaten mit ausgeprägten Elementen direkter Demokratie
Auch einige US-Bundesstaaten wie z. B. Kalifornien und Oregon haben eine über hundertjährige Tradition der direkten Demokratie. Außerdem verfügen die deutschen Länder in meist geringem Maße über Direkte Demokratie. Lediglich in Bayern gibt es weitgehende direktdemokratische Elemente auf Landes- und Kommunalebene.
Direktdemokratische Elemente kommen auch in anderen Staatsformen vor, haben aber häufig nur appellativen Charakter.
Eine Urform der direkten Demokratie ist die Landsgemeinde einiger Schweizer Kantone oder die Gemeindeversammlung in vielen Schweizer Gemeinden, wo das Parlament jeweils durch eine Versammlung der Bürger ersetzt ist. In gleicher Weise werden in Teilen von den Neuengland-Staaten der USA manche kleine Städte von einem Town meeting geleitet. Formen direkter Demokratie gab es auch bei manchen germanischen Stämmen auf Stammesversammlungen z. B. in Island.
Die erste bekannte direkte Demokratie wurde in der Antike in Athen praktiziert und ist unter der Bezeichnung attische Demokratie bekannt.
Rätedemokratie
Eine weiteres Konzept der direkten Demokratie stellt die Rätedemokratie dar, wie sie teilweise zu Beginn der Russischen Revolution, in der Münchner Räterepublik oder auch unter den Anarchisten im spanischen Bürgerkrieg, und beim Ungarischen Volksaufstand praktiziert wurde (in der Sowjetunion sollte jedoch die kommunistische Partei bald Oberhand über die Räte gewinnen, in München wurde die Räterepublik militärisch von nationalkonservativen Truppen besiegt, in Spanien unterlag sie Regierung und kommunistischer Partei, in Ungarn der Militärmacht der Sowjetunion). Da diese Form der direkten Demokratie eng mit einigen Traditionen des Marxismus und Anarchismus verbunden ist, ist ihre Bezeichnung als Demokratie für manche Kritiker umstritten.
Diskussion um die direkte Demokratie
Dies sind die Argumente, die von Befürwortern, beziehungsweise Gegnern der direkten Demokratie angeführt werden. Dieser Artikel soll keinen Schluss ziehen, sondern nur die Meinung beider Parteien widergeben. Ob die Argumente im Einzelnen sinnvoll sind, muss jeder für sich entscheiden. (Siehe dazu auch Volksentscheid)
Argumente für direkte Demokratie und Gegenargumente
- a)Bei einer Wahl müsse man seine Stimme einer einzigen Partei geben, womit man faktisch für jede einzelne ihrer zukünftigen und zu diesem Zeitpunkt meist noch gar nicht bekannten Entscheidungen stimme. Dies entspräche nicht dem demokratischen Grundprinzip. Es würde dann diesem Prinzip entsprechen, wenn jeder Bürger eine Partei nennen könnte, die in allen wesentlichen Fragen genau seine Auffassung vertritt. Selbst die zum Zeitpunkt der Wahl bekannten politischen Absichten von Parteien könnten einen Wähler ohne direktdemokratische Rechte in große Probleme stürzen, weil er nur ein Gesamtpaket wählen könne. (So z. B. ein Wähler mit liberalen oder christdemokratischem Politikverständnis, der aber z. B. strikt gegen die Nutzung der Kernenergie ist. Solche Beispiele lassen sich für jede Partei bilden.)
b) Die Gegner der direkten Demokratie meinen dazu, dass man auch in der direkten Demokratie Abstimmungen verliert und daher mit manchen Entscheidungen unzufrieden sei. Des Weiteren sei es möglich Parteien zu gründen, falls man mit keiner der Parteien zufrieden genug sei. - Die Wähler seien in der direkten Demokratie nicht für vier oder fünf Jahre von jeder politischen Mitbestimmung ausgeschlossen.
- a) Die Gründe für politische Entscheidungen müssten dem Bürger vermittelt werden, was zu einer höheren Zufriedenheit und einer höheren Beteiligung der Bürger führen würde.
b) Die Gegner meinen, dass die Gründe für politische Entscheidungen auch in der repräsentativen Demokratie aufgezeigt werdem müssten, da eine kopflos entscheidende Regierung abgewählt würde oder sogar per Misstrauensvotum abgelöst werden könnte. - Die Bestechung führender Vertreter oder die Ausnutzung von persönlichen Beziehungen sei bei der direkten Demokratie weniger wirksam, da unplausible Entscheidungen vom Volk einfach aufgehoben werden könnten.
- a) In der direkten Demokratie sei es schwieriger für Lobbyisten und Interessengruppen, manipulierenden Einfluss zu nehmen, sei er legal oder illegal. Bei einem Volksentscheid müsse man die Mehrheit des Volkes für die eigenen Interessen gewinnen, statt einige machthabende Politiker.
b) Die Gegner meinen, dass es in der direkten Demokratie weniger um fundierte Argumentation gehe, sondern eher um die Wortgewandtheit und Ausstrahlung derjenige, die für die eine oder andere Entscheidung eintreten. Als Beispiel wird hier oft das Fernsehduell zwischen Gerhard Schröder und Edmund Stoiber angeführt. - Die gegenseitigen Blockademöglichkeiten von Bundestag und Bundesrat wären wegen der Möglichkeit von Volksentscheiden eingeschränkt. (Siehe auch: Föderalismuskommission)
Argumente gegen die direkten Demokratie und Gegenargumente dazu
(S. dazu auch Volksentscheid) Folgende Argumente werden vor allem in Deutschland gegen die direkte Demokratie vorgetragen:
- a) Die Gewissheit, den Kurs des Parlaments jederzeit durch eine Abstimmung korrigieren zu können, könnte bei den Stimm- und Wahlberechtigten bewirken, dass sie den Kurs nicht unbedingt durch die Wahlen bestimmen, d. h., sie wählen politisch anders als sie abstimmen. Dies könnte das Interesse an der Mitwirkung in einer Partei als Mitglied schwächen, insbesondere am notwendigen demokratischen Prozess der innerparteilichen Nominierungen und der Qualitätssicherung der Nominierungen durch die Parteien.
b) Allerdings sinkt das Interesse an Mitwirkung in den Parteien in Deutschland seit Jahren, obwohl keine direkte Demokratie gewährt wurde. - a) Dagegen spräche, dass direkte Demokratien in der Entscheidungsfindung langsamer und teurer seien als repräsentative Demokratien, da es bei Volksentscheiden gegen Gesetze einen zusätzlichen Schritt in der Gesetzgebung gibt.
b) In den Fällen, in denen Parlamente notwendige Entscheidungen jahre- oder jahrzehntelang aufschieben spielt dieser Nachteil allerdings keine Rolle. In der Schweiz haben die Bürger nach dem Erlass eines neuen Gesetzes 100 Tage Zeit ein Referendum gegen dieses Gesetz durch Sammeln einer ausreichenden Zahl von Unterschriften auszulösen. Diese 100 Tage lang tritt ein Gesetz generell nicht in Kraft. Es kommt also zu einer Verzögerung. - a) Ein weiterer Nachteil sei die Abhängigkeit von den Medien. Erwiesenermaßen könnten die Medien die Bevölkerungsmeinung stark und schnell beeinflussen, wenn sie ein aktuelles Thema in Form einer Kampagne ausführlich bearbeiten. Ein Beispiel dafür sei die Zustimmung zur Todesstrafe, die besonders dann ansteige, wenn gerade über einen Sexualverbrecher berichtet wird.
b) Einschränkender Hinweis: In allen Ländern, in denen die Todesstrafe vollzogen wird, wurde sie von den Parlamenten eingeführt. Befürworter der Direkten Demokratie behaupten, die Bevölkerung der Schweiz zeige, vielleicht gerade weil sie über die Dinge von Atomkraft bis Wehrpflicht entscheiden dürfe (und entschieden habe), ein größeres Interesse an der Politik, was den Verkauf von Qualitätszeitungen fördere. - a) In einer direkten Demokratie läge die Macht deshalb zum großen Teil bei den Medien, die allerdings oft nicht nur das Wohl der Bevölkerung im Auge hätten.
b) Jedoch, so meinen Kritiker dieser Auffassung, hätten auch die gewählten Politiker in den repräsentativen Demokratien oft nicht nur das Wohl der Bevölkerung im Auge, sondern manchmal einseitig Spezialinteressen von mächtigen Lobbyisten. Auch in repräsentativen Demokratien läge ein großer Teil der Macht auch bei den Medien, die auch so mit Kampagnen Druck auf Politiker machen können und statt bei Abstimmungen dann bei Wahlen eine große Rolle spielen. - a) Direkte Demokratie bewirke automatisch eine Abwertung des Parlaments und könne Populismus und Polemiken fördern.
b) Allerdings, meinen Kritiker dieser Auffassung, fehle es auch in repräsentativen Demokratien nicht an Populismus und Polemiken. In der Schweiz sei es polemisierenden Minderheiten oft nicht einmal möglich das Unterschriftenquorum zu erreichen. Wo dies doch einmal gelänge scheiterten sie praktisch ausnahmslos am Wahlvolk. Die Schweizer sähen in Volksabstimmungen auch nicht eine Abwertung des Parlaments, sondern eine Begrenzung seiner Macht. Indem strittige Fragen durch Volksabstimmungen einer Entscheidung zugeführt würden, würde auch viel Polemik aus der Politik genommen und die Wahlkämpfe seien unbelasteter von Reizthemen. Ein Vergleich von Deutschland und Schweiz zeige auch, dass das deutsche Parlament öfter vom deutschen Verfassungsgericht gestoppt werde als das Schweizer Parlament vom Wahlvolk. - a) Sie schwäche die politischen Parteien und stärke Interessengruppen und Spezialinteressen aller Art.
b) Allerdings, so die Gegenmeinung, sei es für Interessengruppen und Spezialinteressen möglicherweise leichter eine handvoll Abgeordnete im entsprechenden Ausschuss zu manipulieren oder zu kaufen oder diesen gleich mit eigenen geförderten Leuten zu besetzen, als die Mehrheit der politisch Interessierten in einer Volksabstimmung zu gewinnen. Einflußversuche gäbe es bei beiden Systemen, in der Schweiz z. B. Anzeigenkampangen von Industrieverbänden zu Volksabstimmungen, in Deutschland z. B. Berufung von Politikern auf lukrative Aufsichtsratsposten, Beraterverträge, Partei- und Personenspenden, Anstellung vor und nach dem Mandat ohne Arbeitsleistung. - a) Die Bürger hätten oft nicht den nötigen Sachverstand und die nötige emotionale Neutralität, um komplexe politische Probleme zu bewältigen.
b) Dagegen wird eingewandt die gewählten Politiker hätten leider auch oft nicht den nötigen Sachverstand und die nötige emotionale Neutralität, um komplexe politische Probleme zu bewältigen. Die Befürworter der direkten Demokratie halten die Argumentation, das Volk sei politisch zu unwissend und unreif für eine direkte Demokratie, mit Verweis auf die positiven Erfahrungen der Schweiz für bloße Polemik. - a) Fragen der Finanzierung staatlicher Tätigkeiten fänden im Volk oft keine Mehrheit, weil sie wie die meisten zusätzlichen Steuerbelastungen zu Lasten der Mehrheit gingen.
b) Dagegen wird eingewandt, Politiker fänden umgekehrt oft nichts dabei alle möglichen organisierten Interessen und Spezialinteressen z. B. durch Subventionen und Steuerschlupflöcher zu Lasten der nicht organisierten Mehrheit der Steuerzahler zu befriedigen. - a) Einige Gegner der Direkten Demokratie räumen ein, viele dieser Nachteile könnten jedoch durch entsprechende Verfahrensregelungen abgemildert oder gar beseitigt werden, etwa indem beispielsweise Steuergesetzgebung von der direktdemokratischen Entscheidung ausgeschlossen blieben.
b) Kritiker dieser Auffassung meinen, so bliebe gewährleistet, dass, das nach ihrer Ansicht sorglose Ausgabeverhalten der gewählten Politiker zugunsten von starken Lobbys, nicht vom Volk korrigiert werden könne. - a) Auch wird vorgeschlagen, dass bestimmte Kernbereiche der Verfassung - im Grundgesetz etwa die Grundsätze der Artikel 1 und 20 - mit einer Ewigkeitsgarantie ausgestattet werden und somit dem populistischen Zugriff auch durch Demagogen und extremistische Organisationen entzogen blieben.
b) Kritisch meinen dazu einige, gerade das Parlament in Deutschland habe in den letzten Jahren immer neue Ausnahmen und Einschränkungen in den Artikeln 1 - 20 Grundgesetz eingeführt (Asylrecht, Lauschangriff, Videoüberwachung etc.). In deren Vorbild Schweiz dagegen müssten Verfassungsänderungen die Mehrheit des Parlaments und des Volkes finden. So dass auch Einschränkungen von Grundrechten eine Mehrheit von Parlament und Volk benötigen. - a) Es entstünden, meinen Kritiker, im Zusammenhang mit Verfahren Direkter Demokratie zwei demokratietheoretische Probleme. Zum einen müsste ein direktdemokratisch zustande gekommenes Gesetz, da es direkt vom Souverän erlassen wurde, eine höhere Legitimation besitzen als ein parlamentarisches, es dürfte bespielsweise nicht durch Parlamentsbeschluss gleich wieder aufgehoben oder verwässert werden. Man könne entsprechende Bestandsgarantien z. B. zeitlich fest befristen oder an die Dauer einer parlamentarischen Legislaturperiode binden.
b) Solche Regeln existieren in der Schweiz. - a) Zum anderen erfordere die Durchführung von Volksbegehren mit der Organisierung der öffentlichen Diskussion und Meinungsbildung, der Sammlung von Unterschriften und der Formulierung und Vertretung des Begrehrensinhaltes gegenüber der Legislative und Exekutive wiederum ein bestimmtes Maß einer Organisation, einer Gruppe von Repräsentanten. (z. B. Volksintiative in der Schweiz oder Referendum). Hier dringe also die indirekte repräsentative Demokratie erneut in den Bereich der direkten Demokratie ein. Erschwerend komme hinzu, das die Vertreter einer entsprechenden Volksinitiative anders als Parlamentarier nicht durch Wahl demokratisch legitimiert sind.
b) Das wird z. B. in der Schweiz so nicht als Problem gesehen, weil die mehr oder weniger organisierten Formulierer eines Vorschlages und die Unterschriftensammler nicht entscheiden, sondern aa.) zunächst die Bürger die Unterschreiben oder eben nicht und dann bb.) die Mehrheit des Volkes in der Abstimmung (in der Schweiz Volksmehr genannt). Die Regierung der Schweiz hat auch die Möglichkeit einen aus ihrer Sicht besseren Alternativvorschlag zu formulieren. Sie wird also nicht gehindert ihren Sachverstand einzubringen. Sie kann aber den Vorschlag mit den Unterschriften nicht ausschließen oder unterdrücken. Entscheidend ist in der Schweiz letztlich das Volksmehr. - a) Direkte Demokratie würde Minderheitenrechte mehr gefährden als eine rein repräsentative Demokratie. So wurde in der Schweiz beispielsweise erst 1990 für alle Schweizerinnen das Wahlrecht garantiert (siehe Frauenwahlrecht).
- a) Bei großen Flächenstaaten mit vielen Bürgern könnte Direkte Demokratie schwer in der Durchführung sein, da dann allen Bürgern das Mitwirken an den zahlreichen Entscheidungen garantiert werden müsste (Schmidt: Demokratietheorien, S.355).
b) Wenn jedoch die Direkte Demokratie auf lokaler Ebene eingesetzt wird, ist sie auch in sehr großen Staaten möglich (z. B. USA: Kalifornien). Auf nationaler Ebene werden besonders in der Schweiz und Italien Referenda erfolgreich eingesetzt (Schmidt: Demokratietheorien, S.359).
Siehe auch
- Demokratie
- Radikaldemokratie
- repräsentative Demokratie
- Basisdemokratie
- Volksentscheid
- Jean-Jacques Rousseau
- Landsgemeinde
- Bürgerbegehren
Literatur
- Hans Herbert von Arnim : Vom schönen Schein der Demokratie. Politik ohne Verantwortung - am Volk vorbei; München 2000
- Hanz Herbert von Arnim (Herausgeber): Direkte Demokratie. Beiträge auf dem 3. Speyerer Demokratieforum vom 27. bis 29. Oktober 1999 an der Deutschen Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer, Berlin 2000 (Schriftenreihe der Hochschule Speyer Bd. 140)
- Lars Feld, Marcel Savioz: Vox Populi, Vox Bovi? Ökonomische Auswirkungen direkter Demokratie, in Gerd Grözinger, Stephan Panther (Herausgeber): Konstitutionelle Politische Ökonomie. Sind unsere gesellschaftlichen Regelsysteme in Form und guter Verfassung?, Marburg 1998, S. 29-80
- Gerd Habermann (Redaktion): Für Effizienzstaat und Direktdemokratie. Ein Plädoyer der selbständigen Unternehmer, Berlin 2001 (Schriftenreihe des Unternehmerinstitutes UNI Nr. 9)
- Hermann Heußner, Otmar Jung (Herausgeber): Mehr direkte Demokratie wagen. Volksbegehren und Volksentscheid: Geschichte - Praxis - Vorschläge, München 1999
- Hermann Heußner: Volksgesetzgebung in den USA und in Deutschland. Ein Vergleich der Normen, Funktionen, Probleme und Erfahrungen, Köln 1994 (Erlanger Juristische Abhandlungen Bd. 43)
- Hermann Heußner: Volksgesetzgebung und Todesstrafe; in "Recht und Politik" Jg.35, (1999), S. 92-100
- IRI Europe 2005: Guidebook Direct Democracy. In Switzerland and beyond, Bern
- Otmar Jung: Grundgesetz und Volksentscheid. Gründe und Reichweite der Entscheidungen des Parlamentarischen Rates gegen Formen direkter Demokratie, Opladen 1994
- Otmar Jung: Aktuelle Probleme der direkten Demokratie in Deutschland, in Zeitschrift für Rechtspolitik, Jahrgang 33 (2000), S. 440-447
- Otmar Jung: Historische Erfahrungen mit direkt-demokratischen Elementen in der deutschen (Verfassungs-)Geschichte; in Ettersburger Gespräche am 10./11. November 2000 in Weimar, Weimar 2001
- Peter Graf Kielmansegg, Klaus-Peter Schöppner, Hans-Georg Wehling: Wieviel Bürgerbeteiligung im Parteienstaat?; in Konrad-Adenauer-Stiftung (Herausgeber), Zukunftsforum Politik der Konrad-Adenauer-Stiftung. Wie geht es weiter mit den Parteien in Deutschland? Hearing Nr. 2, Berlin 2000
- Gebhard Kirchgässner, Lars Feld, Marcel Savioz; Die direkte Demokratie: Modern, erfogreich, entwicklungs- und exportfähig, Basel, Genf, München 1999
- Stefan Kleb: Direkte Demokratie in der Republik Polen; Speyer : Dt. Hochsch. für Verwaltungswiss., 2002. - VII (Speyerer Arbeitsheft : 142)
- Bettina Knaup: Plesbizitäre Verfahren als Ergänzung der repräsentativen Demokratie. Zur neueren Forschungsdebatte um Volksabstimmungen in der Bundesrepublik Deutschland, Bonn 1994 (Beiträge zur Demokratieentwicklung von unten, Band 6)
- Andreas Kost: Bürgerbegehren und Bürgerentscheid. Genese, Programm und Wirkungen am Beispiel Nordrhein-Westfalen, Schwalbach/Ts. 1999 (Studien zu Politik und Wissenschaft)
- Jörg-Detlef Kühne: Volksgesetzgebung in Deutschland - zwischen Doktrinarismen und Legenden, in Zeitschrift für Gesetzgebung, Jahrgang 6 (1991), S. 116-132
- Silvano Möckli: Direkte Demokratie. Ein Vergleich der Einrichtungen und Verfahren in der Schweiz und Kalifornien, unter Berücksichtigung von Frankreich, Italien, Dänemark, Irland, Österreich, Lichtenstein und Australien, Bern, Stuttgart, Wien 1994 (St.Gallener Studien zur Politikwissenschaft, Band 16)
- Peter Neumann, Stefan von Raumer (Herausgeber): Die verfassungsrechtliche Ausgestaltung der Volksgesetzgebung. Dargestellt am Beispiel der Art. 68, 69 der Landesverfassung von Nordrhein-Westfalen, Baden-Baden 1999
- Christian Graf von Pestalozza: Der Popularvorbehalt. Direkte Demokratie in Deutschland, Berlin 1981 (Schriftenreihe der Juristischen Gesellschaft e.V. Berlin, Heft 69)
- Günther Rüther (Herausgeber): Repräsentative oder plesbizitäre Demokratie - eine Alternative? Grundlagen, Vergleiche, Perspektiven, Baden-Baden 1996
- Theo Schiller (Herausgeber): Direkte Demokratie in Theorie und kommunaler Praxis, Frankfurt 1999 (Studien zur Demokratieforschung Band 2)
- Theo Schiller: Direkte Demokratie. Eine Einführung, Frankfurt/New York 2002
- Theo Schiller/Volker Mittendorf (Hrsg.): Direkte Demokratie. Forschung und Perspektiven Wiesbaden 2002
- Manfred G. Schmidt: Demokratietheorien, 3. Auflage, UTB, ISBN 3-8252-1887-2
- Constanze Stelzenmüller: Direkte Demokratie in den Vereinigten Staaten von Amerika; Baden-Baden, Nomos, 1994
- Peter Pernthaler: Das System der semidirekten Demokratie in Österreich; 2004. - S. 745 - 760
In: Gemeinwohl und Verantwortung
- Burkhard Wehner: Die Katastrophen der Demokratie. Über die notwendige Neuordnunng des politischen Verfahrens, Darmstadt 1992
- Christian Welzel: Sachabstimungen in einer Theorie der interaktiven Demokratie, in Rainer Schneider-Wilkes (Herausgeber), Demokratie in Gefahr? Zum Zustand der deutschen Republik; Münster 1997; S. 54-79
- Helmut Wollmann: Kommunalpolitik. Mehr (direkte) Demokratie wagen; in "Aus Politik und Zeitgeschichte", Band 24-25, 1999 vom 11.6.1999; S. 13-22
Weblinks
- Verein: Mehr Demokratie e.V.
- Forschungsstelle Bürgerbeteiligung und Direkte Demokratie
- Initiative and Referendum Institute Europe
- Deutsches Institut für sachunmittelbare Demokratie
- Direktdemokraten
- Informationen zur Direkten Demokratie der Bundeszentrale für Politische Bildung
- www.disinfopedia.org zu direkter Demokratie heute
- Streitgespräch zwischen Jens Kuhlemann und Andreas Dietl: Dem Volk aufs Begehren schauen
- Attac Diskussionsforum "Direkte Demokratie"
- thematisch sortierte Infoseite Direkte Demokratie
- Suchmaschine für direkte Demokratie: Alle Volksabstimmungen auf Staatenebene seit 1791 in allen Ländern