Zum Inhalt springen

Radikaler Konstruktivismus

aus Wikipedia, der freien Enzyklopädie
Dies ist eine alte Version dieser Seite, zuletzt bearbeitet am 9. Juni 2005 um 13:34 Uhr durch Rolf Todesco (Diskussion | Beiträge). Sie kann sich erheblich von der aktuellen Version unterscheiden.

Der Radikale Konstruktivismus wurde von Ernst von Glasersfeld entwickelt. Er hat dabei die Arbeiten von Jean Piaget (Die Konstruktion der Realität beim Kind) radikal interpretiert. Die Denkweise von J. Piaget ist epistemologisch (erkenntnistheoretisch). Die radikale Interpretation macht explizit, dass für den Aufbau von Wissen keine Realität erkannt werden muss. Wissen ist viabel, solange es mir dient. Dabei ist bedeutungslos, ob und wie des Wissen einer oder der Realität entspricht.

Es gibt vulgäre populäre Auffassungen zum Radikalen Konstruktivismus, in welchen über die Wirklichkeit der Wirklichkeit "philosophiert" wird. Im Radikalen Konstruktivismus kommt die Wirklichkeit gar nicht vor.

Es gibt ziemlich viele Varianten von Konstruktivismus, unter anderem den Erlanger Konstruktivismus, die - wie auch J. Piaget selbst - einfach nicht so radikal auf die Realität verzichten wollen. (Zur Abgrenzung siehe Konstruktivismus (Philosophie))

Der Radikale Konstruktivismus wurde in Deutschland vor allem durch Veröffentlichungen von Paul Watzlawick populär. Die wichtigsten Vertreter des Radikalen Konstruktivismus sind Ernst von Glasersfeld, Heinz von Foerster, Humberto Maturana, Francisco Varela.

Ein zentrales Postulat des radikalen Konstruktivismus sagt, dass all unser Wissen über die konstruiert ist und dass eine objektive Erkenntnis nicht möglich sei. Danach ist der Mensch ein operationell geschlossenes System (wie es in der Kybernetik beschrieben wird), und jede Erkenntnis ist eine Konstruktion, die aus der Autopoiesis des Wahrnehmenden heraus geschieht.

Im Radikalen Konstruktivismus wird nicht etwa geleugnet, dass es eine Welt "dort draußen" gibt. Vielmehr wird betont, dass uns diese Welt nur via Beobachtung zugänglich ist, d.h. immer schon eine interpretierte Welt ist, über die wir uns nur kommunikativ verständigen/einigen können; es gibt also keine objektive Wirklichkeit, die dem menschlichen Erkenntnisvermögen zugänglich wäre.

Eine ethische Dimension des konstruktivistischen Weltbilds resultiert aus der Bedeutung der Verantwortung, die sich für jeden Einzelnen ergibt, wenn er zu der Einsicht gelangt, dass die Welt, wie er sie beobachtet, Resultat seiner Beobachtungsweise ist.

Alles was hier über den Radikalen Konstruktivismus steht, ist also ein Konstruktion eines Menschen. Der Radikale Konstruktivismus existiert nicht objektiv. Jeder Mensch kann ihn konstruieren und für seine Konstruktion die Verantwortung übernehmen.


Abgrenzung

Der Konstruktivismus befindet sich somit im Gegensatz zum Induktivismus und zum Falsifikationismus, geht jedoch nicht so weit wie der Solipsismus.

Zwar entspricht der Prozess der Entwicklung neuer und besserer Theorien jenem, der im Rahmen des Falsifikationismus angenommen wird. Allerdings wird verneint, dass diese Theorien die Realität auch besser (oder überhaupt) beschreiben können. Als Kriterium für den Bestand von Theorien legt der Konstruktivismus vielmehr an, dass diese lediglich viabler (von via: der Weg, also eigentlich: gangbarer) oder passender sind als andere bzw. die gesehenen Probleme besser lösen. Aus dieser Viabiliät kann keine Schlussfolgerung über eine reale Welt abgeleitet werden, denn zahllose andere Schemata könnten genauso gut funktioniert haben.

Dem Instrumentalismus, der in großen Teilen davon ausgeht, Theorien entwickelten sich evolutionär und unpassende Modelle der Realität würden somit zwangsläufig von passenderen, näher an der Realität stehenden Vorstellungen von der Welt ersetzt, stellt der Konstruktivismus entgegen, dass die einzige Motivation, eine bestehende Theorie oder Weltvorstellung zu ändern, nur die Kollision mit der "wahren" Realität sein kann. Anpassung verlange jedoch lediglich, dass Reibungen und Kollisionen vermieden werden. Von einer Annäherung an eine objektive Realität kann also nicht gesprochen werden.

Der Relativismus sieht wissenschaftliche Paradigmen sogar als Sache des Glaubens an, die jeweils nur innerhalb einer bestimmten Wissenschafts-Kultur als wahr oder falsch gelten können.


andere Konstruktivismen

Eine gegenüber diesem grundsätzlich erkenntnistheoretischen Standpunkt eingeschränkte Position vertritt der Sozialkonstruktivismus. Als konstruiert wird hier nur die Welt des Sozialen angenommen. Die objektive Welt der Natur bleibt weiterhin objektiv zu erkennen.

Der radikale Konstruktivismus ist nicht mit dem Erlanger Konstruktivismus zu verwechseln. Letzterer ist eine aus der mathematischen Logik heraus entstandene Wissenschaftstheorie. Weitere Spielarten des Radikalen Konstruktivismus sind:

Geschichte

Ernst von Glasersfeld lehrte Psychologie und dabei behandelte er insbesondere das Werk von J. Piaget, das er als Konstruktivismus auffasste, weil J. Piaget von Konstruktionen der Realität spricht. Er nannte seine Leseweise "Radikalen Konstruktivismus", weil er auf die Erkenntnis von Realität ganz verzichtete.

Heinz von Foerster, mit welchen E. von Glasersfeld befreundet war, entwickelte seine Systemtheorie 2. Ordnung, die aus kybernetischen Gründen auf eine Erkenntnis der Realität verzichtete. Beide Autoren beziehen sich auf die operationelle Geschlossenheit von kybernetischen Systemen, die explizit von W. Asby und von W. Powers beschrieben wurde.

1970 veröffentlicht der chilenische Physiologie-Professor Humberto R. Maturana den Forschungsbericht Biology of Cognition, in dem er eine durch biologische Studien fundierte Kybernetik kybernetische Theorie der Wahrnehmung vorstellt. H. Maturan hat danach bei Heinz von Foerster gearbeitet, wodurch seine Theorie, die Autopoisis, mit der Systemtheorie 2. Ordnung und mit dem Radikalen Konstruktivismus vermischt wurde. H. Maturana hat aber immer von Autopoise gesprochen, nie vom Konstruktivismus.

Vertreter in Deutschland sind unter anderen der Neurobiologe Gerhard Roth und der Literaturwissenschaftler Siegfried_J._Schmidt S.J. Schidt.


Kritik

Von Kritikern wird häufig angeführt, dass der radikale Konstruktivismus sich selbst widersprechen würde. Zum einen lehne er eine objektive Erkenntnis im Sinne des Positivismus ab, zum anderen würden aber genau solche Erkenntnisse zum Beweis der Theorie angeführt. Weiterhin wird kritisiert, dass nach dem radikalen Konstruktivismus keine wissenschaftliche Erkenntnis mehr möglich sei, da der Mensch die Wirklichkeit nicht direkt wahrnehmen könne.

Viel häufiger ist der Begriff radikaler Konstruktivismus Gegenstand der Kritik. Unter anderem führte dies bereits zu einer Umbenennung "benachbarter" Theorien, wie dies etwa Peter Janich beim methodischen Kulturalismus Ende der 1990er vollführte. Kritiker werfen den Vertretern des radikalen Konstruktivismus vor, sie würden nur alte Erkenntnisse nehmen und diese in einem modernen Gewand neu verpacken. Insbesondere in der Philosophie seien die gedanklichen Figuren des radikalen Konstruktivismus schon seit langem in der Diskussion.

Siehe auch

Eine Kritik am Vulgärkonstruktivismus