Walter Benjamin

Walter Bendix Schönflies Benjamin (* 15. Juli 1892 in Berlin; † 26. September 1940 in Port Bou durch Suizid auf der Flucht) war ein deutscher Schriftsteller, Philosoph und Literaturkritiker, Schwager von Hilde Benjamin und Cousin von Günther Anders. Er verband als Philosoph die Ideen der jüdischen Mystik mit dem historischen Materialismus und übersetzte Werke von Marcel Proust und Charles Baudelaire.
Walter Benjamin entstammte einer wohlhabenden jüdischen Bürgerfamilie. Die Zeit seiner Kindheit, die er in Berlin verlebt hat, beschrieb er in "Berliner Kindheit um Neunzehnhundert". In seinen frühen Jahren engagierte er sich stark für die Jugendbewegung, die Benjamin dann jedoch durch das traumatische Erlebnis des Ersten Weltkrieges zerstört sah. Sein Engagement für die Jugendbewegung teilte Benjamin mit dem Dichter Christoph Friedrich Heinle, seinem engsten Freund in den Jahren 1913/14, der sich nach Ausbruch des Kriegs das Leben nahm. 1915 lernte er Gershom Scholem kennen, mit dem er Zeit seines Lebens eng befreundet blieb. 1917 siedelte er nach Bern über, wo er zwei Jahre später mit der Arbeit "Der Begriff der Kunstkritik in der deutschen Romantik" promovierte. Benjamin kehrte dann nach Berlin zurück, wo er beabsichtigte, eine Zeitschrift mit dem Titel "Angelus Novus" herauszugeben. Nach dem Scheitern dieses Projekts versuchte er 1923/24, in Frankfurt (Main) an der dortigen Universität seine philosophische oder germanistische Habilitation vorzubereiten. Er lernte hier Theodor W. Adorno und Siegfried Kracauer kennen. Seine Habilitationsschrift "Ursprung des deutschen Trauerspiels" erwies sich jedoch als zu unorthodox für den akademischen Betrieb - um sich eine offizielle Ablehnung zu ersparen, zog Benjamin sein Habilitationsgesuch 1925 zurück.
1926 und 1927 hielt Benjamin sich jeweils einen großen Teil des Jahres in Paris auf, wo er, teilweise gemeinsam mit Franz Hessel an der Übersetzung der Werke von Marcel Proust arbeitete und als Publizist tätig war. Sein im Jahr 1924 beginnendes Engagement für den Kommunismus führte ihn im Winter 1926/27 nach Moskau. Trotz einer gewissen Idealisierung der Sowjetunion wurde Benjamin jedoch nie Mitglied der KPD, sondern bewahrte sich seine Freiheit in einem (wie er selbst es nannte) "linken Außenseitertum".
Zu Beginn der 1930er Jahre verfolgte Benjamin in Berlin zusammen mit Bertolt Brecht publizistische Pläne und arbeitete für den Rundfunk. 1932 schrieb er an einem Buch über seine Kindheit und Jugend, das jedoch erst 1970 unter dem Titel "Berliner Chronik" veröffentlicht wurde.
Nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten 1933 ging Benjamin ins Exil nach Paris. Max Horkheimer bot ihm an, für das Institut für Sozialforschung zu arbeiten, vor allem als Mitarbeiter der "Zeitschrift für Sozialforschung" - dies war fortan seine Haupteinnahmequelle. In den Pariser Exil-Jahren arbeitete Benjamin weiter an seinem fragmentarischen "Passagen-Werk", außerdem verfasste er den Aufsatz "Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit" und mehrere Studien zu Baudelaire. Bei Kriegsausbruch wurde er für drei Monate mit anderen deutschen Flüchtlingen in einem Sammellager interniert. Nach der Rückkehr im November 1939 arbeitete er an seinem letzten Text, den Thesen "Über den Begriff der Geschichte".
Am Tag vor dem Einmarsch der Deutschen in Paris verließ Benjamin die Stadt und begab sich nach Lourdes; von hier zunächst weiter nach Marseille, bevor er im September 1940 vergeblich versuchte, nach Spanien zu flüchten. Im Grenzort Port Bou, wo er mit der Auslieferung an die Deutschen bedroht wurde, nahm er sich am 26. September durch Morphium das Leben. Sein nicht mehr vorhandenes Grab wird heute durch eine begehbare Landschaftsskulptur des israelischen Künstlers Dani Karavan ersetzt.
Wirken
Epochal erscheint vor allem seine Beschäftigung mit dem "Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit" (1935). Der Titel dieser Arbeit von 1935 ist sogar zu einer Art geflügeltem Wort geworden. Die unbegrenzte Vervielfältigung von Musik, Malerei, ja aller bildenden Künste führt nach Benjamin zum Verlust ihrer Aura. Damit ist auch der veränderte Rezeptionszusammenhang gemeint: Mußten sich die Kunstliebhaber früher in ein Konzert oder in eine Galerie begeben, um ihrer Leidenschaft nachzugehen, so kam es durch die technischen Reproduktionen, seien es Schallplatten oder Kunstdrucke, zu einer "Entwertung des Originals". Wertet Benjamin diese Entwicklung vor allem positiv, so greift Adorno die These auf und kehrt dialektisch vor allem die Regression und den Fetischcharakter der Massenkunst heraus.
Den "Neuen Medien" in der Zeit vor dem 2. Weltkrieg näherte sich Benjamin nicht nur theoretisch, sondern er hat in zahlreichen Rundfunksendungen seine Spuren hinterlassen. Voller Experimentierfreude gestaltete er Sendungen für den "Kinderfunk", die "Bücherstunde" sowie Erzählungen und Hörspiele.
Nachdem Adorno und Scholem nach dem Zweiten Weltkrieg Benjamins Schriften neu, zum größeren Teil erstmalig ediert hatten, vor allem seit 1970 bis 1989 eine umfangreiche, praktisch vollständige Ausgabe seiner "Gesammelten Schriften" erschienen war, verkehrte sich Benjamins Wirkung in das Gegenteil der Erfolglosigkeit, die sein Schaffen zu Lebzeiten erfahren hatte. Seine Dissertation im Jahr 1920 war von der Fachöffentlichkeit kaum wahrgenommen, seine Habilitationsschrift von der Frankfurter Universität sogar abgelehnt worden. Nach seinem Tod wurde Benjamin zum Anreger verschiedener geistes- und sozialwissenschaftlicher Fächer, die seinen gesellschaftskritischen Impetus wiederaufnahmen.
In neuester Zeit wurde Benjamins Sprachphilosophie als indirekt dem Poststrukturalismus vorgreifend erkannt.
Gedenktafel
Am Berliner Wohnhaus Benjamins in den Jahren von 1930 bis 1933 (Prinzregentenstrasse 66, Berlin-Wilmersdorf) befindet sich eine Gedenktafel. Text: [1]
Werke
Buchausgaben zu Lebzeiten:
- Begriff der Kunstkritik in der deutschen Romantik. Bern: Vlg. A. Francke 1920.
- Charles Baudelaire, Tableaux Parisiens. Deutsche Übertragung mit einem Vorwort über die Aufgabe des Übersetzers. Heidelberg: Vlg. von Richard Weißbach 1923.
- Einbahnstraße, Berlin: Rowohlt, 1928
- Ursprung des deutschen Trauerspiels. Berlin: Rowohlt 1928
- Deutsche Menschen. Eine Folge von Briefen. Auswahl und Einleitungen von Detlef Holz [Pseudonym]. Luzern: Vita Nova Vlg. 1936.
Sammelausgaben:
- Schriften. Hrsg. von Th. W. Adorno und Gretel Adorno unter Mitwirkung von Friedrich Podszus. 2 Bde. Frankfurt a.M.: Suhrkamp Vlg. 1955.
- Gesammelte Schriften. Unter Mitwirkung von Theodor W. Adorno und Gershom Scholem hrsg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser. Bde. I-VII, Suppl. I-III (in 17 Bdn. geb.). 1. Aufl., Frankfurt a.M.: Suhrkamp Vlg. 1972-1999; Revidierte Taschenbuch-Ausgabe: Bde. I-VII (in 14 Bdn. geb.), Ffm. 1991.
- Écrits français. Présentés et introduits par Jean-Maurice Monnoyer. Paris: Gallimard 1991.
- Briefe. Hrsg. und mit Anmerkungen vers. von Gershom Scholem und Theodor W. Adorno. 2 Bde. Frankfurt a.M.: Suhrkamp Vlg. 1955.
- Gesammelte Briefe. Hrsg. vom Theodor W. Adorno Archiv. 6 Bde., hrsg. von Christoph Gödde und Henri Lonitz. Frankfurt a.M. 1995-2000.
Wichtige Einzelveröffentlichungen:
- Zur Kritik der Gewalt, in: Archiv für Sozialwissenschaften und Sozialpolitik 1921.
- Goethes Wahlverwandtschaften, in: Neue Deutsche Beiträge 1924/1925.
- Der Sürrealismus, in: Die literarische Welt 1929.
- Zum Bilde Prousts, in: ebd., 1929.
- Karl Kraus, in: Frankfurter Zeitung 1931.
- Franz Kafka. Zur zehnten Wiederkehr seines Todestages, in: Jüdische Rundschau 1934 [Auszüge].
- Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, in: Zeitschrift für Sozialforschung 1936 [franz. Übers.].
- Der Erzähler. Betrachtungen zum Werk Nikolai Lesskows, in: Orient und Occident 1936.
- Eduard Fuchs, der Sammler und der Historiker, in: Zeitschrift für Sozialforschung 1937.
- Über einige Motive bei Baudelaire, in: ebd., 1939.
- Über den Begriff der Geschichte, in: Die Neue Rundschau 1950.
- Das Passagen-Werk, hrsg. von Rolf Tiedemann, 2 Bde., Frankfurt a.M.: Suhrkamp Vlg. 1983 [Taschenbuchausgabe].
- Berliner Kindheit um neunzehnhundert. Mit einem Nachwort von Theodor W. Adorno und einem editorischen Postskriptum von Rolf Tiedemann, Fassung letzter Hand und Fragmente aus früheren Fassungen. Frankfurt a.M. 1987.
- Berliner Kindheit um neunzehnhundert. Gießener Fassung, hrsg. und mit einem Nachwort von Rolf Tiedemann. Frankfurt a.M. 2000.
Literatur
- Rolf Tiedemann, "Studien zur Philosophie Walter Benjamins. Mit einer Vorrede von Theodor W. Adorno, Frankfurt a.M.: Europäische Verlagsanstalt 1965 (2. Aufl., Suhrkamp 1973)
- "Über Walter Benjamin. Mit Beiträgen von Theodor W. Adorno, Ernst Bloch, Max Rychner u.a., Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1968
- Theodor W. Adorno, "Über Walter Benjamin. Aufsätze, Artikel, Briefe", Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1970, ISBN 3-518-01260-6
- Gershom Scholem, "Walter Benjamin - die Geschichte einer Freundschaft", Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1975, ISBN 3-518-01467-6
- jour fixe initiative berlin (Hg.): Fluchtlinien des Exils, ISBN 3-89771-431-0
- Gershom Scholem, "Walter Benjamin und sein Engel. Vierzehn Aufsätze und kleine Beiträge", Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1983, ISBN 3-518-57634-8
- Peter Bulthaup (Hrsg.), "Materialien zu Benjamins Thesen 'Über den Begriff der Geschichte', Beiträge und Interpretationen, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1975, ISBN 3-518-07721-X
- Marleen Stoessel, "Das vergessene Menschliche. Zu Sprache und Erfahrung bei Walter Benjamin", München und Wien: Hanser 1983
- Rolf Tiedemann, "Dialektik im Stillstand. Versuche zum Spätwerk Walter Benjamins", Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1983 ISBN 3-518-28045-7
- Hannah Arendt: Walter Benjamin / Bertolt Brecht. Zwei Essays., Piper-Verlag, München, 1986, ISBN 3-492100120
- Rolf Tiedemann, "Die Abrechnung. Walter Benjamin und sein Verleger", O.O., o.J. [Hamburg 1989], ISBN 3-927623-91-1
- Pierre Missac, "Walter Benjamins Passage", übers. von Ulrike Bischoff, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1991, ISBN 3-518-58089-2
- Rainer Rochlitz, "Le désenchantement de l'art. La philosophie de Walter Benjamin", Paris: Gallimard 1992, ISBN 2-07-072777-7
- Hermann Schweppenhäuser, "Ein Physiognom der Dinge. Aspekte des Benjaminschen Denkens", Lüneburg: zu Klampen 1992, ISBN 3-924245-24-X
- Wolfgang Schlüter, "Walter Benjamin. Der Sammler & das geschlossene Kästchen", Darmstadt: Jürgen Häusser 1993, ISBN 3-927902-85-3
- Winfried Menninghaus, "Walter Benjamins Theorie der Sprachmagie", Frankfurt am Main: Suhrkamp 1995
- Hermann Schweppenhäuser, "Zum Geschichtsbegriff Walter Benjamins", in: Geschichte denken. Mit Beiträgen von H.M. Baumgartner u.a., Münster: Lit 1999, S. 95 ff. ISBN 3-8258-4176-6
- Giulio Schiavoni, "Walter Benjamin. Il figlio della felicità. Un percorso biografico e concettuale", Torino: Einaudi 2001, ISBN 88-06-15729-9
- Rolf Tiedemann, "Mystik und Aufklärung. Studien zur Philosophie Walter Benjamins", München: edition text + kritik 2002, ISBN 3-88377-708-0
- Detlev Schöttker: Konstruktiver Fragmentarismus. Form und Rezeption der Schriften Walter Benjamins. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1999
- Sven Kramer: Walter Benjamin zur Einführung, Hamburg: Junius, 2003, ISBN 3885063735
- Jacques Derrida: Gewalt und Gerechtigkeit. Derrida-Benjamin, hrsg. v. Anselm Haverkamp, Frankfurt/M: Suhrkamp 1993.
- Rudolf Maresch: GespensterVerkehr. Derrida liest Benjamins "Zur Kritik der Gewalt". PDF: [2]
Siehe auch
- Aura
- Kritische Theorie, Ästhetische Theorie
- Liste verbotener Autoren während des Dritten Reichs
- Exilliteratur
Weblinks
- http://www.walter-benjamin.org/ Internationale Walter Benjamin Gesellschaft
- http://www.ub.fu-berlin.de/internetquellen/fachinformation/germanistik/autoren/multi_ab/benjamin.html - Linksammlung
- http://theol.uibk.ac.at/rgkw/leseraum/opfer/283.html - Wolfgang Palaver: Kapitalismus als Religion
- http://markner.free.fr/wbrezept.htm - Reinhard Markner: Benjamin nach der Moderne
Personendaten | |
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NAME | Benjamin, Walter |
ALTERNATIVNAMEN | Walter Bendix Schönflies Benjamin (voller Name) |
KURZBESCHREIBUNG | deutscher Schriftsteller, Kunst- und Literaturkritiker und Philosoph |
GEBURTSDATUM | 15. Juli 1892 |
GEBURTSORT | Berlin |
STERBEDATUM | 26. September 1940 |
STERBEORT | Port Bou |