John Demjanjuk
John Demjanjuk, geboren Iwan Mykolajowytsch Demjanjuk (ukrainisch Іван Миколайович Демьянюк, wiss. Transliteration Ivan Mykolajovyč Dem'janjuk; * 3. April 1920 in Dubowi Macharynzi (Дубові Махаринці) bei Kosjatyn, Ukraine) war während des Zweiten Weltkrieges Wächter in mehreren Konzentrationslagern.
Nach dem Zweiten Weltkrieg emigrierte er aus Deutschland in die USA. Von dort wurde er 1986 nach Israel überstellt, wo er wegen Verbrechen im Vernichtungslager Treblinka zunächst zum Tode verurteilt wurde. 1993 wurde dieses Urteil aufgehoben und John Demjanjuk kehrte in die USA zurück.
Im Mai 2009 wurde Demjanjuk aus den USA nach Deutschland ausgeliefert bzw. überstellt. Er befindet sich seit dem 12. Mai 2009 aufgrund eines Haftbefehls des Amtsgerichts München in Untersuchungshaft. Ihm wird vorgeworfen, sich im Jahre 1943 im deutschen Vernichtungslager Sobibor im damals besetzten Polen in mindestens 29.000 Fällen der Beihilfe zum Mord gemäß § 211, § 27, § 52 StGB strafbar gemacht zu haben; so soll er als Aufseher die Menschen in die Gaskammern getrieben haben.[1]
Leben
Bis Kriegsende
Nach Abschluss einer vierjährigen Schulzeit arbeitete er als Traktorist in einer Kolchose. 1940 wurde er von der Roten Armee eingezogen. Im Mai 1942 geriet er auf der Krim in deutsche Kriegsgefangenschaft.[2][3] Demjanjuk kam in ein Kriegsgefangenenlager bei Chełm, wo er sich als „Hilfswilliger“ meldete.[2][4] Er wurde im SS-Außenlager Trawniki ausgebildet und anschließend von der SS vereidigt.[5] Demjanjuks erste Aufgabe war die Bewachung jüdischer Zwangsarbeiter in der Landwirtschaft.[6][4] Kurz darauf war er im KZ Majdanek tätig, welche genaue Aufgabe er dort hatte, ist nicht geklärt.[4] Am 27. März 1943 wurde er in das Vernichtungslager Sobibor abkommandiert, wo er zur Außensicherung des Vernichtungslagers eingesetzt wurde.[7] Mitte September 1943 wurde er in das bayrische KZ Flossenbürg versetzt.[2][6][8] Ab 1944 diente Demjanjuk noch einige Zeit in der auf deutscher Seite kämpfenden Russischen Befreiungsarmee.[3][6]
Nach dem Krieg
Im Mai 1945 stellte sich Demjanjuk im Lager für Displaced Persons in Landshut vor. Im Juli 1947 war er Lastwagenfahrer für die US Truck Company 1049 in Regensburg und heiratete die Ukrainerin Wera, die er in einem DP-Lager kennengelernt hatte. Über Bad Reichenhall und Feldafing kam er am 14. September 1949 nach Ulm, wo laut Geburtsregister am 7. April 1950 in der als DP-Lager genutzten Sedankaserne seine Tochter Lydia geboren wurde. Im Oktober 1950 versuchte er, über das Resettlement Center in Ludwigsburg in die USA auszuwandern, kehrte aber wegen des Verdachtes, er sei an Tuberkulose erkrankt, nach Ulm zurück. Am 29. Januar 1952 reiste die Familie über Bremerhaven in die USA aus. Dort änderte er seinen Vornamen von Iwan auf John. Im November 1958 erhielt er die US-amerikanische Staatsbürgerschaft. Er lebte mit seiner Frau zunächst in Indiana, später in Seven Hills, Cuyahoga County, Ohio, wo er als Automechaniker arbeitete.
1975 schickte die Sowjetische Regierung an US-Senatoren eine Liste mit 70 Namen angeblicher NS-Kollaborateure, die nach Amerika emigriert waren, einer der Namen war der Demjanjuks[9].
Im Sommer 1976 veröffentlichte eine in New York erscheinende ukrainische Zeitschrift die Aussage Ignat Daniltschenkos, eines verurteilten Sobibor-Wächters, er habe gemeinsam mit Demjanjuk Dienst in Sobibor versehen.[8] 1977 gelangten die US-Behörden an eine Kopie seines Dienstausweises, auf dem seine Einsatzorte verzeichnet sind.[9] Darüber hinaus fanden die Ermittler eine Verlegungsliste, die bestätigt, dass Demjanjuk am 27. März 1943 an die Dienststelle Sobibor abkommandiert wurde. Aufgrund dieser Belege wurde Demjanjuk 1981 die amerikanische Staatsbürgerschaft aberkannt.[8]
Etwa zur gleichen Zeit meldeten sich in Israel Überlebende des Vernichtungslagers Treblinka, die auf Fotos von John Demjanjuk den als „Iwan der Schreckliche“ berüchtigten Wärter zu erkennen glaubten.[8]
Prozess in Israel
Im Oktober 1983 stellte Israel ein Auslieferungsersuchen an die USA, dem 1986 stattgegeben wurde. Am 25. Februar 1987 begann die Verhandlung in Jerusalem.[9] Der Prozess wurde zu einem internationalen Medienereignis.[6] Im Prozess sagte Demjanjuk aus, er sei über Jahre ein einfacher Kriegsgefangener gewesen. Angesichts der Zustände im Lager bei Chelm wurde ihm nicht geglaubt, dass er dort so lange überlebt haben konnte.[2][6] Das Bezirksgericht hielt sich deshalb an die Zeugenaussagen von fünf Überlebenden aus Treblinka und an zwei nicht ganz deutliche Erklärungen von SS-Angehörigen. Es hatte keine Zweifel, dass Demjanjuk der berüchtigte Treblinka-Massenmörder „Iwan der Schreckliche“ sei und verurteilte ihn am 25. April 1988 zum Tode.[9]
Demjanjuk legte gegen das Urteil Berufung ein.[8] Bei Recherchen, die durch die Auflösung der Sowjetunion möglich wurden, fanden die Ermittler Aussagen von 37 in der UdSSR verurteilten Treblinka-Wächtern. Aus diesen ging hervor, dass der Nachname von „Iwan dem Schrecklichen“ im Lager Treblinka nicht Demjanjuk, sondern Martschenko gewesen sein soll.[9] Zudem stellte sich heraus, dass das dem Justizministerium der Vereinigten Staaten unterstellte Office of Special Investigations (OSI) bereits vor dem Ausbürgerungsverfahren Unterlagen zurückgehalten hatte, die darauf hindeuten, dass es sich bei „Iwan dem Schrecklichen“ nicht um John Demjanjuk, sondern um Iwan Martschenko handele.[10][11] Am 29. Juli 1993 sprach der Oberste Gerichtshof Israels Demjanjuk einstimmig frei. Die Richter hatten „begründete Zweifel“, ob John Demjanjuk als „Iwan der Schreckliche“ in Treblinka tätig war.[8] Demjanjuk kam nach siebenjähriger Haft zurück in die USA, obwohl ihn das Gericht für einen Sobibor-Aufseher hielt - deswegen war er aber nicht angeklagt und auch nicht ausgeliefert worden.[9] 1998 bekam er seine US-amerikanische Staatsbürgerschaft zurück.[8]
Prozess in den USA und Ausweisungsanordnung
2001 begann in den USA ein weiterer Prozess gegen Demjanjuk, in dem OSI-Chefermittler Edward Stutman das Gericht überzeugte, dass Demjanjuk während des Zweiten Weltkriegs in verschiedenen Konzentrationslagern als Wächter gedient hatte. Im Juni 2004 entschied ein US-amerikanisches Gericht, Demjanjuk die US-Staatsbürgerschaft erneut abzuerkennen.
Im Dezember 2005 wurde seine Abschiebung in die Ukraine angeordnet, wogegen sich Demjanjuk wehrte.[12][13][14] Letztlich erklärte das Justizministerium, dass die Regierung am Abschiebungsbeschluss festhalte.[15] Am 24. März 2009 gab die Einwanderungsbehörde bekannt, Kontakt mit der deutschen Regierung aufgenommen zu haben, um die für eine Auslieferung nach Deutschland notwendigen Dokumente zu erhalten. Die Staatsanwaltschaft München I wirft dem gebürtigen Ukrainer Beihilfe zum Mord an 29.000 Menschen im Vernichtungslager Sobibor vor.[16]
Eine Abschiebung nach Deutschland suchten Demjanjuks amerikanische Anwälte Anfang April 2009 zu verhindern.[17] Am Ende der juristischen Auseinandersetzung[18][19][20][21][22][23][24][25][26] wurde ein Aufschub der Auslieferung nach Deutschland vom obersten Gericht der USA im Mai 2009 abgelehnt.[27]
Prozess in Deutschland
Die Zentrale Stelle der Landesjustizverwaltungen zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen führte gegen Demjanjuk ein Vorermittlungsverfahren durch, bei dem umfangreiches Material gesichtet wurde. Sie sah es danach als erwiesen an, dass er zwischen März und September 1943 als Aufseher im Vernichtungslager Sobibor an der Ermordung von „mindestens 29.000 Menschen“ mitgewirkt habe, darunter an 1.939 Deutschen.[28] Anhand der Transportlisten wurden die Namen der Opfer ermittelt. Zwar gibt es nach dem Kenntnisstand der Zentralen Stelle keine Aussage, dass Demjanjuk Häftlinge eigenhändig ermordet habe. Sobibor war jedoch ein reines Vernichtungslager. Aufseher seien in allen Bereichen eingesetzt worden, Demjanjuk könne sich nicht darauf berufen, von den Tötungen nichts gewusst zu haben.[29]
Im November 2008 gab die Zentrale Stelle die Akten an die Staatsanwaltschaft in München ab.[30] Der Bundesgerichtshof erklärte am 9. Dezember 2008[31], für das Verfahren sei das Landgericht München II zuständig.
Im Februar 2009 wurde vom Bayerischen Landeskriminalamt die Echtheit des in den USA archivierten SS-Dienstausweises Demjanjuks bestätigt. Die Münchner Staatsanwaltschaft I beantragte daraufhin am 11. März 2009 einen internationalen Haftbefehl gegen Demjanjuk, um eine Auslieferung nach Deutschland zu erreichen.[28]
Am 12. Mai 2009 kam Demjanjuk in einem Lazarettflugzeug aus den USA in München an.[32] Demjanjuk wurde in die Krankenabteilung der Justizvollzugsanstalt München überstellt. Dort wurde ihm der Haftbefehl bekanntgegeben.[33][34] Demjanjuk wurde nach mehreren ärztlichen Untersuchungen für haftfähig erklärt.[35] Er befindet sich seitdem in Untersuchungshaft. Anfang Juli wurde bekannt, dass Demjanuk von Ärzten als verhandlungsfähig eingestuft wurde, die Verhandlungsdauer pro Tag dürfe aber nicht mehr als zweimal 90 Minuten betragen.[36]
Eine Verfassungsbeschwerde Demjanjuks wurde von der zweiten Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgericht nicht zur Entscheidung angenommen. Demjanjuk sah seine Rechte durch die Auslieferung aus den Vereinigten Staaten verletzt, verfehlte jedoch die ausreichende Darlegung, weshalb seine Rechte verletzt worden seien. Demjanjuk rügte die Umgehung des Auslieferungsverfahrensrechts, wofür jedoch laut Bundesverfassungsgericht keine deutsche Zuständigkeit erkennbar sei.[37]
In den Niederlanden formierten sich im April 2009 Angehörige der Opfer zu einer Gruppe, die beim geplanten Prozess in Deutschland als Nebenkläger auftreten will.[38]
Am 13. Juli 2009 wurde von der Staatsanwaltschaft München I Anklage gegen John Demjanjuk wegen Beihilfe zum Mord in mindestens 27.900 Fällen erhoben.[39]
Demjanjuk in Roman und Film
Demjanjuks Prozess in Israel soll die Grundlage für den Film Music Box (1989) des Filmregisseurs und Drehbuchautors Constantin Costa-Gavras gewesen sein.
Der gleiche Prozess diente dem US-amerikanischen Schriftsteller Philip Roth als Material für seinen 1993 erschienenen Roman Operation Shylock. Ein Bekenntnis.[40]
Einzelnachweise
- ↑ vgl. Sebastian Fischer et al.: Krankenwagen bringt Demjanjuk ins Untersuchungsgefängnis. Spiegel-Online, 12. Mai 2009
- ↑ a b c d Der falsche Iwan? in der FAZ vom 11. Mai 2009
- ↑ a b Nach 66 Jahren von der Vergangenheit eingeholt in der Basler Zeitung vom 12. Mai 2009
- ↑ a b c Klaus Hillenbrand: Der Handlanger des Todes in der taz vom 8. April 2009
- ↑ Thomas „Toivi“ Blatt: Sobibór – der vergessene Aufstand. Münster/Hamburg, 2004. Seite 139. Zu Sobibor vgl. auch: Jules Schelvis: Vernichtungslager Sobibór, Münster / Hamburg, 2003
- ↑ a b c d e Mord nach Vorschrift in Der Spiegel 12/2009 vom 16. März 2009, Seite 150
- ↑ Späte Aburteilung eines „Hilfswilligen“? in der FAZ vom 3. Juli 2009
- ↑ a b c d e f g Der Albtraum des Jules Schelvis im Stern von 18. März 2009
- ↑ a b c d e f Mörderische Augen Der Spiegel vom 2. August 1993
- ↑ Die falsche Schuld in Die Zeit Nr. 44 vom 23. Oktober 1992
- ↑ Das Schreckliche an Iwan, Der Spiegel 39/1993 vom 27. September 1993, Seite 180-181
- ↑ US 'Nazi guard' faces deportation - BBC News, 22. Dezember 2006
- ↑ Appeals court rules against Demjanjuk 30. Januar 2008
- ↑ John Demjanjuk's lawyer files appeal of deportation with U.S. Supreme Court, 25. April 2008
- ↑ USA schieben KZ-Aufseher ab, 20 Minutes, 19. Mai 2008
- ↑ Erste Schritte zur Demjanjuk-Ausweisung, Reuters, 25. März 2009
- ↑ Demjanjuk to be deported during weekend. (3. April 2009). United Press International (engl.; abgerufen 8. April 2009)
- ↑ Demjanjuk wehrt sich gegen Abschiebung Süddeutsche 3. April 2009
- ↑ US-Berufungsgericht stoppt Demjanjuks Auslieferung. Spiegel Online, 14. April 2009.
- ↑ Mutmaßlicher KZ-Wächter Demjanjuk darf doch ausgeliefert werden Spiegel Online, 6. April 2009
- ↑ Demjanjuk kann ausgeliefert werden Tagesschau 6. April 2009 ntv
- ↑ Verfahren zur Auslieferung Demjanjuks kann weitergehen bei Spiegel Online, 10. April 2009
- ↑ US-Berufungsgericht stoppt Demjanjuks Auslieferung. Spiegel Online, 15. April 2009.
- ↑ Berufungsgericht stoppt Auslieferung Demjanjuks. Berliner Morgenpost, 15. April 2009.
- ↑ http://www.spiegel.de/panorama/justiz/0,1518,622330,00.html
- ↑ http://www.welt.de/wams_print/article3665710/Demjanjuks-Abschiebung-aus-den-USA-rueckt-naeher.html
- ↑ http://www.spiegel.de/panorama/zeitgeschichte/0,1518,623546,00.html
- ↑ a b Deutsche Staatsanwälte erwirken Haftbefehl gegen Demjanjuk, Spiegel Online, 11. März 2009
- ↑ Michael Martens: Mit Zufall und Akribie in Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 13. Mai 2009, S. 2
- ↑ Mutmaßlichem Massenmörder Demjanjuk droht Anklage in Deutschland Spiegel Online, 10. November 2008
- ↑ Bundesgerichtshof Beschluss vom 9. Dezember 2008 Pressemitteilung
- ↑ e110.de: Demjanjuk in Stadelheim: Zunächst auf Krankenstation. 12. Mai 2009
- ↑ vgl. Fischer, Sebastian Fischer ; Neumann, Conny ; Meyer, Cordula: Demjanjuk in München gelandet bei Spiegel Online, 12. Mai 2009
- ↑ Demjanjuk im Gefängnis Stadelheim
- ↑ http://www.welt.de/politik/article3730289/Aerzte-erklaeren-John-Demjanjuk-fuer-haftfaehig.html
- ↑ vgl. Demjanjuk laut Gutachten verhandlungsfähig bei tagesschau.de, 3. Juli 2009
- ↑ FAZ.net: Abschiebung Demjanjuks rechtens. 8. Juli 2009
- ↑ Demjanjuks Auslieferungsaufschub abgelehnt. RP Online, 10. April 2009.
- ↑ Demjanjuk als Nazi-Gehilfe angeklagt. Spiegel Online, 13. Juli 2009
- ↑ 1993 Operation Shylock. A Confession. Deutsche Übersetzung:Operation Shylock. Ein Bekenntnis, dt. von Jörg Trobitius, Hanser München 1994, ISBN 3-446-17693-4
Weblinks
- Vorlage:PND
- Die Jagd auf den KZ-Wächter, Florian Festl auf FOCUS Online am 19. März 2009
- Zweiter Versuch, Andreas Förster in Berliner Zeitung vom 12. November 2008
- Der Handlanger des Todes, Klaus Hillenbrand in taz vom 8. April 2009
- Letzte Chance zum Aufschub, Ron Steinke in Jungle World 27/2008
- Dossier von Spiegel-Artikeln zu den Prozessen 1987 und 1993
Personendaten | |
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NAME | Demjanjuk, John |
ALTERNATIVNAMEN | Demjanjuk, Ivan; Demjanjuk, Iwan Nikolajewitsch (Geburtsname); Демьянюк, Иван Николаевич (Geburtsname russisch) |
KURZBESCHREIBUNG | KZ-Aufseher |
GEBURTSDATUM | 3. April 1920 |
GEBURTSORT | bei Kosjatyn, Ukraine |