Zum Inhalt springen

Brieftaubenfotografie

aus Wikipedia, der freien Enzyklopädie
Dies ist eine alte Version dieser Seite, zuletzt bearbeitet am 13. Juli 2009 um 19:54 Uhr durch Hans Adler (Diskussion | Beiträge) (mehr). Sie kann sich erheblich von der aktuellen Version unterscheiden.
Brieftaube mit Fotoapparat, vermutlich Erster Weltkrieg.

Die Brieftaubenfotografie ist eine Anfang des 20. Jahrhunderts von dem Kronberger Apotheker Julius Neubronner erfundene Methode der Luftbildfotografie. Brieftauben wurden mit einem Geschirr versehen, welches das Gewicht einer leichten Miniaturkamera mit zeitgesteuertem Auslöser auf den Rücken verlagerte. Neubronners Experimente endeten nach dem Ersten Weltkrieg, da die Armee das Interesse an der Erfindung verlor, wurden jedoch später von der deutschen und französischen Armee, der CIA und dem Uhrmacher Christian Adrian Michel aus Walde im Aargau wieder aufgenommen.

Julius Neubronner

Julius Neubronner (1914)

Julius Neubronner (1852–1932), Hofapotheker in Kronberg im Taunus nahe Frankfurt am Main, ließ sich um 1906 Rezepte vom nahe gelegenen Lungensanatorium in Falkenstein durch Brieftauben schicken, und er lieferte auch dringende Medikamente bis zu einem Gewicht von 75 Gramm mit der selben Methode.[1][2] Als einer seiner "Giftadler", wie die Tauben im Sanatorium genannt wurden, beim Transport eines Rezeptes im Nebel die Orientierung verlor und erst mit 4 Wochen Verspätung eintraf, kam der leidenschaftliche Amateurfotograf auf den zunächst scherzhaften Einfall, seine Tauben mit automatischen Fotoapparaten auszustatten, die ihren Weg aufzeichnen. Dieser Gedanke bewog ihn, den Brieftaubensport mit der Amateurfotografie zu einem neuen "Doppelsport" zu vereinigen.[3]

Neubronner begann mit der Entwicklung einer leichten Miniaturkamera, die mit Hilfe eines Geschirrs aus Gummilitze und Leder und eines Kürass aus Aluminium auf der Brust der Taube gehalten wurde.[4] Die Tauben mussten vorsichtig an ihre Last gewöhnt werden.[1] Zur Aufnahme eines Luftbildes brachte Neubronner eine Taube zu einem Ort bis zu etwa 100 Kilometer von ihrem Schlag, versah sie mit einer Kamera und entließ sie. Der Vogel, darauf bedacht, von seiner Last befreit zu werden, flog typischerweise den direkten Weg, in einer Höhe von 50 bis 100 Metern und mit einer Geschwindigkeit von nicht mehr als 15 Kilometern pro Stunde.[1][3] Ein pneumatischer Mechanismus in der Kamera regelte die Zeitverzögerung vor der Aufnahme.[4]

Neubronner zufolge gabe es rund ein Dutzend verschiedene Modelle seiner Kamera.[5] 1907 hatte er hinreichenden Erfolg für eine Patentanmeldung.[6] Seine Erfindung "Verfahren und Vorrichtung zum Photographieren von Geländeabschnitten aus der Vogelperspektive" wurde vom Kaiserlichen Patentamt zunächst als unausführbar abgelehnt, nach Nachreichung von Aufnahmeresultaten jedoch im Dezember 1908 angenommen.[5] (Die Ablehnung basierte auf einer verbreiteten falschen Vorstellung über die Tragekapazität von Haustauben.[7]) 1909 wurde die Technik durch Neubronners Teilnahme an der Internationalen Photographischen Ausstellung in Dresden[8] und der ersten Internationalen Luftschiffahrtausstellung, damals noch in Frankfurt am Main, weiter bekannt. Zuschauer in Dresden konnten das Einfliegen der Tauben beobachten, und die mitgebrachten Luftaufnahmen wurden an Ort und Stelle in Postkarten umgesetzt.[4][9] Zweimal wurden Neubronners Fotografien auch auf der Internationalen Luftschiffer-Ausstellung in Paris mit der goldenen Medaille ausgezeichnet.[5] Damals hatten seine Kameras, die knapp unter 75 Gramm wogen, ein Format von ca 8 cm mal 4.5 cm und konnten eine Serie von 8 Aufnahmen machen.[1][10] Ein Foto von Schlosshotel Kronberg wurde berühmt, da es zufällig die Flügelspitzen der Taube zeigte. über dieses Bild kam es in den späten Zwanziger Jahren zu einem Urheberrechtsstreit.[4] (Das Schlosshotel, ursprünglich gebaut für Neubronners erlauchte Kundin Kaiserin Friedrich, war in dieser Zeit kurz nach ihrem Tod 1901 noch als Schloss Friedrichshof bekannt.)

Oben: Schlosshotel Kronberg, unten: Frankfurt
Frankfurt
Brieftauben mit Fotoapparaten

Um 1910 entwickelte Neubronner die Doppel-Sport-Panoramakamera, die Panoramaaufnahmen im Format 3 cm × 8 cm machte.[6] Wie die anderen Modelle ging sie jedoch nicht in Serienproduktion. Das letzte Modell (vor 1920) wog knapp unter 40 Gramm und machte 12 Aufnahmen.[5]

1920 konstatierte Neubronner, dass zehn Jahre harte Arbeit und beträchtliche Ausgaben nur durch die Aufnahme ins Konversationslexikon[11] belohnt worden war, sowie durch das Bewusstsein, dass eine Hilfstechnologie, der unten beschriebene mobile Taubenschlag, im Weltkrieg seinem Land genützt hatte.[5] Neubronners Doppel-Sport-Kamera ist in der Ausstellung Foto + Film: Von Daguerre bis DVD im Deutschen Museum in München zu sehen.[12]

Erster Weltkrieg

Von Anfang an war Neubronners Erfindung zumindest teilweise durch die Aussichten auf militärische Verwertbarkeit motiviert. Zu der Zeit war die fotografische Luftaufklärung möglich, aber umständlich, da sie auf Ballons, Drachen oder Raketen angewiesen war.[5] Der erfolgreiche Flug der Brüder Wright im Jahr 1903 eröffnete neue Möglichkeiten, die im Ersten Weltkrieg perfektioniert werden sollten. Aber auch dann noch versprach die Brieftaubenfotografie, trotz aller praktischen Schwierigkeiten, zusätzliche, detailliertere Aufnahmen aus geringerer Höhe zu liefern.[5]

Neubronners mobiler Taubenschlag mit Dunkelkammer, wie auf den Ausstellungen 1909 vorgestellt.

Das preußische Kriegsministerium zeigte grundsätzlich Interesse an der Erfindung, aber die anfängliche Skepsis ließ sich nur durch eine Reihe von erfolgreichen Vorführungen abbauen. Es zeigte sich, dass die Tauben relativ unempfindlich auf Detonationen reagierten, aber eine bedeutende Schwierigkeit unter Kriegsbedingungen war die Tatsache, dass es relativ lange dauert, Brieftauben an einen auch nur wenige Meter versetzten Taubenschlag zu gewöhnen.[5] Das Problem, die Umlernzeit von Brieftauben nach der Versetzung des Schlages zu minimieren, war von der italienischen Armee um 1880 mit einigem Erfolg angegangen worden,[13] und der französische Artilleriekapitän Reynaud löste es schließlich, indem er Brieftauben in einemherumziehenden Taubenschlag aufzog.[14] Es ist nicht klar, ob Neubronner diese Arbeiten bekannt waren. Er wusste jedoch, dass es eine Lösung geben musste, denn er hatte von einem Schausteller gehört, der mit seinem Taubenschlag im Wagen herumzog. Schon auf den Ausstellungen 1909 in Dresden und Frankfurt stellte Neubronner einen kleinen Wagen vor, der eine Dunkelkammer mit einem Taubenschlag in auffälligen Farben kombinierte. In monatelanger anstrengender Arbeit richtete er junge Tauben ab, in den Schlag zurückzukehren, auch wenn er versetzt wurde.[5]

1912, löste Neubronner die ihm 1909 gestellte Aufgabe, die Wasserwerke von Tegel nur mit Hilfe seines fahrbahren Taubenschlages von oben zu fotografieren. Nach fast 10 Jahren Verhandlungen wollte der Staat im August 1914 die Erfindung im Zuge eines Manövers in Straßburg selbst testen und dann übernehmen. Die Pläne wurden jedoch durch den Kriegsausbruch vereitelt. Neubronner musste seinen Tauben und seine gesamte Ausrüstung der Armee zur Verfügung stellen, die sie im Felde mit befriedigenden Resultaten testete.[5]

Der Luftaufklärung durch Brieftaubenfotografie war letztlich kein Erfolg vergönnt. Statt dessen erfuhren unter den neuen Bedingungen des Stellungskrieges die Brieftauben in ihrer hergebrachten Rolle als Boten eine Renaissance. Neubronners mobiler Taubenschlag fand seinen Weg zur Schlacht von Verdun, wo er sich so sehr bewährte, dass ähnliche Einrichtungen in größerem Ausmaß bei der Somme-Schlacht genutzt wurden.[5] Nach dem Krieg schrieb das Kriegsministerium an Neubronner, dass die Brieftaubenfotografie keinerlei militärischen Nutzen mehr hätte und weitere Experimente nicht gerechtfertigt seien.[4]

Das Internationale Spionagemuseum in Washington, D.C. hat der Brieftaubenfotografie und den Brieftauben im Ersten Weltkrieg einen kleinen Raum gewidmet.[15]

Zweiter Weltkrieg

Julius Neubronner starb 1932. Trotz der direkt nach dem Ersten Weltkrieg erfolgten Ablehnung der Erfindung scheint das deutsche Militär in den dreißiger Jahren in München Brieftauben für Fotografie trainiert zu haben, mit Taubenkameras, die 200 Aufnahmen machen konnten.[16] Aber die Deutschen waren jetzt nicht mehr die einzigen, die diese Technik beherrschten.[17] Das französische Militär erklärte, Filmkameras für Tauben zu besitzen, sowie eine Methode entwickelt zu haben, um die Tauben mittels trainierter Hunde hinter die feindlichen Linien bringen und dort starten zu lassen.[18] Obwohl jedoch Brieftauben und mobile Taubenschläge auch im Zweiten Weltkrieg auf beiden Seiten ausgiebig genutzt wurden, ist nicht ersichtlich ob und in welchem Ausmaß Brieftauben dann tatsächlich in der Luftaufklärung eingesetzt wurden.

Dank der Ermittlungen des Schweizerischen Fotoapparatemuseums in Vevey ist sehr viel mehr über die etwa gleichzeitig entwickelten Taubenkameras des Schweizer Uhrmachers Christian Adrian Michel in Walde im Aargau bekannt. Er passte Neubronners Doppel-Sport-Kamera an 16-mm-Film an und verbesserte sie weiter, durch eine Mechanik, welche die anfängliche Verzögerung und die Verzögerung zwischen den Aufnahmen kontrollierte und den Film transportierte, und dabei innerhalb der Gewichtsgrenzen von 75 Gramm blieb. Michels Kamera wurde 1937 patentiert, aber sein Plan, sie der Schweizer Armee anzubieten, scheiterte, als er keinen Produzenten für die Serienproduktion fand. Insgesamt gab es nicht mehr als etwa 100 Kameras dieses Typs.[6] Nach Ausbruch des Zweiten Weltkriegs patentierte Michel eine Hülse zum Transport kleiner Gegenstände wie Filmrollen durch Brieftauben. Bemerkenswerter Weise enthält sein dem Museum in Vevey überlassener Nachlass auch ein Foto eines Hundes mit fünf kleinen Körben, die vermutlich für die Beförderung von Brieftauben gedacht waren.[6]

Das Schweizer Fotoapparatemuseum besitzt circa 1000 Aufnahmen, die während der Entwicklung von Michels Kamera für Testzwecke gemacht wurden.[6] Im Katalog der Ausstellung Des pigeons photographes? im Jahr 2007 werden sie eingeteilt in Testbilder auf dem Boden oder von einem Fenster, Menschenperspektive vom Boden oder von erhöhten Punkten, Luftaufnahmen aus dem Flugzeug, Luftaufnahmen aus relativ großer Höhe die vermutlich von aus dem Flugzeug entlassenen Brieftauben stammen, und eine kleine Anzahl von typischen Brieftauben-Luftaufnahmen.[6][19]

Nach dem Zweiten Weltkrieg

Im virtuellen Rundgang des (anders nicht öffentlich zugänglichen) CIA-Museums wird eine vom CIA betriebene batteriebetriebene Taubenkamera gezeigt. Details ihres Einsatzes unterliegen noch der Geheimhaltung.[20] Zeitungsberichten zu Folge wurde diese Kamera in den siebziger Jahren eingesetzt,[21] die Tauben wurden aus dem Flugzeug heraus frei gelassen, und die Technik war nicht erfolgreich.[22]

1978 druckte das französischsprachige Schweizer Magazin L'illustré eine Luftaufnahme der Gotthelfstraße in Basel, die von einer Taube von Febo de Vries-Baumann mit einer Hydraulik-Kamera gemacht wurde.[6]

In den achtziger Jahren stellte Rolf Oberländer eine kleine Anzahl hochwertiger Kopien der Doppel-Sport-Kamera her.[6] Eine davon wurde 1999 vom Schweizer Fotoapparatemuseum erworben;[6] manche wurden auch als Originale verkauft.[23]

2002/2003 experimentierte der Aktionskünstler und Taubenliebhaber Amos Latteier mit Brieftaubenfotografie. Er benutzte APS- und digitale Kameras und verarbeitete seine Forschungen, Erlebnisse und Resultate zu "PowerPointillistischen" Vorlesungs-Events in Portland, Oregon.[24]


Belege und Anmerkungen

  1. a b c d Les Nouveautés Photographiques 1910.
  2. Schobert 1996.
  3. a b Feldhaus 1910.
  4. a b c d e Brons 2006a.
  5. a b c d e f g h i j k Neubronner 1920.
  6. a b c d e f g h i Musée suisse de l'appareil photographique 2007.
  7. Gradenwitz 1908.
  8. Le Matin 1909.
  9. Professional Aerial Photographers Association.
  10. Revue Photographique de l'Ouest 1911.
  11. Siehe den Untereintrag in Meyer (1912): "[Brieftaubenphotographie.] Julius Neubronner, Cronberg, hat Brieftauben dazu herangezogen, Winzige photographische Apparate in die Lüfte zu tragen, die dann automatisch funktionieren. Auf der Internationalen Luftschiffahrtsausstellung in Frankfurt 1909 brachte er Apparate, Aufnahmeresultate sowie die Art, wie die Brieftauben zu diesem Dienste herangezogen werden, zur Anschauung, löste auch eine ihm gestellte Versuchsaufgabe und gewann damit einen Preis […]. Seine Arbeiten, die allgemeines Interesse erregten, sind in der 'Denkschrift der Ersten Luftschiffahrtsausstellung' veröffentlicht. Leider steigen Brieftauben selten höher als 100 m, was den praktischen Wert der Methode sehr beeinträchtigt."
  12. Deutsches Museum München 2007.
  13. Revue militaire de l'étranger 1886.
  14. 1898.
  15. Lui 2006.
  16. Popular Mechanics 1931, Popular Mechanics 1932, The Canberra Times 1932, Popular Mechanix 1936.
  17. Lagneau 2008.
  18. Lectures pour tous 1932.
  19. Berger 2008.
  20. CIA-Website 2007.
  21. Bridis.
  22. Eisler 2008.
  23. [1]
  24. Latteier 2003, Bowie 2003, Gallivan 2003.

Benutzte Literatur

Monographien

  • Hildebrandt, Alfred (1907), Die Luftschiffahrt nach ihrer geschichtlichen und gegenwärtigen Entwicklung, München.
  • Neubronner, Julius (1920), 55 Jahre Liebhaberphotograph: Erinnerungen mitgeteilt bei Gelegenheit des fünfzehnjährigen Bestehens der Fabrik für Trockenklebematerial, Frankfurt am Main: Gebrüder Knauer.
  • Musée suisse de l'appareil photographique (2007), Des pigeons photographes ?, Vevey.

Artikel und Buchkapitel

Patente

  • DE204721, Verfahren und Vorrichtung zum Photographieren von Geländeabschnitten aus der Vogelperspektive, Julius Neubronner, eingereicht 20. Juni 1907.
  • CH192864, Photographieapparat mit schwenkbarem, mit selbsttätiger Auslösung versehenem Objektiv, insbesondere für Brieftauben, Christian Adrian Michel, eingereicht 3. Februar 1936.

Weitere Literatur

  • Gradenwitz, Alfred (14. November 1908), Les pigeons photographes, L'illustration 3429, S. 322.
  • Neubronner, Julius (1909), Die Brieftaubenphotographie und ihre Bedeutung für die Kriegskunst, als Doppelsport, für die Wissenschaft und im Dienste der Presse. Nebst einem Anhang: 'Die Kritik des Auslandes'.
  • Neubronner, Julius (1910), Die Photographie mit Brieftauben, in Wachsmuth, Richard (1910), Denkschrift der Ersten Internationalen Luftschiffahrts-Ausstellung (Ila) zu Frankfurt a.M. 1909.
  • Oelze, Friedrich Wilhelm (1910), Brieftaubensport und Brieftaubenphotographie.
  • Sciences et Voyages 2, 1919/1920.
  • La pigeon-photographie (1992), Cyclope – L'amateur d'appareils 11, S. 59.
  • Brons, Franziska (2006b), Bilder im Fluge: Julius Neubronners Brieftaubenfotografie, Fotogeschichte 26, S. 17–36.