Fahrendes Volk
Der Begriff Fahrendes Volk ist heute im Umgangsdeutsch veraltet und spielt nur bei der Selbstbeschreibung der Fahrenden noch eine Rolle.
Als Fahrende bezeichnet man keine fest umrissene ethnische Gruppe, sondern solche Gruppen, die mehrheitlich einen "fahrenden" Lebensstil pflegen.
Definition im Wandel der Zeit
Früher wurden als "Fahrendes Volk" (auch Fahrende Leute oder Fahrende) zahlreiche, oft sehr unterschiedliche Gruppierungen bezeichnet. Dazu gehörten Wanderhändler und -höker (von Büchern: Kolporteure), "Fahrende Scholaren" (z.B. als Briefschreiber auf Märkten), Wanderprediger, Kirmesleute (wie Schausteller, Zirkusangehörige, Wanderschauspieler, Gaukler, Bärenführer, Possenreißer), Wanderprofessionen (Kesselflicker, Scherenschleifer, Korbflechter, Löffelschnitzer, Quacksalber, Dirnen, Tanzmeister). Auch wandernde Bettler (so genannte Landstreicher) und Diebe (so genannte Beutelschneider auf Kirchfesten und Jahrmärkten) wurden dazu gezählt. Auch Jenische zählen zu den Fahrenden. Ferner aber auch Zigeunerstämme (Sinti, Jerli, Lalleri, Manusch, Lowara, Roma, Kalderasch).
Etliche - nicht alle - von diesen wurden als "Vaganten" (vom lateinischen vagare = "herum streifen") beschrieben und beargwöhnt.
Nicht zum "Fahrenden Volk" gehörten ortsfeste Bettler und Obdachlose ("Berber"); Räuber und berufsmäßige Taschendiebe (die große Messen und Sportveranstaltungen aufsuchen, aber einen festen Wohnsitz, ggf. mit einem Tarnberuf haben); wandernde Gesellen des Handwerks ("auf der Walz"), Hausschneider ("auf Stör"), unzünftige Handwerker ("Bönhasen"); Fernkaufleute; Seeleute.
Rechtliches (historisch)
Die rechtliche, kirchliche und soziale Geltung blieb bis Ende des Mittelalters sehr gering. Gesetzestexte wie Sachsenspiegel und Schwabenspiegel und auch die ältesten Stadtrechte schützten weder das Leben der Fahrenden, geschweige denn deren Unversehrtheit und Eigentum. Sie standen außerhalb der gesellschaftlichen Standesordnung. Gerade auch äußerlich unterschieden sie sich von der heimischen Bevölkerung und den herrschenden Ständen.
Bedeutung
Zu den Fahrenden stießen - besonders in Kriegs- und Notzeiten - immer wieder ruinierte oder entlaufene Angehörige aus anderen sozialen Gruppierungen, zumal aus dem Bauernstand, ferner z.B. Knechte oder Mägde, entlassene ("abgedankte") Landsknechte, entlaufene Mönche und Nonnen. Anderen gelang es, sesshaft zu werden. Die Unterstellung eines so genannten "Wandertriebes" wird von der Psychologie und Soziologie zurück gewiesen.
Um Nachstellungen und Willkür seitens der städtischen Gerichtsbarkeit zu entgehen, bildeten die Fahrenden oft selbst zunftmäßige Vereinigungen, die unter dem Schutz eines vornehmen Herrn standen (der natürlich zu bezahlen war) mit eigenen Rechten (z.B.: Pfeiferrecht). Im späteren Mittelalter wandten sich die Fahrenden, deren Anzahl nach den Kreuzzügen immer größer wurde, mit ihren Diensten und Darbietungen fast ausschließlich nur noch an das Volk. Hier zeigten sie ihre Künste als Musikanten, Kraftmenschen, Feuerfresser, Fechter, Schwertschlucker, Seiltänzer und Puppenspieler. Sie führten Missgeburten und seltene Tiere vor.
Die Reformation sowie die stärker werdenden Landesverwaltungen bedeuteten einen Rückgang des Fahrenden Volkes. Ende des 15. Jahrhunderts verschwindet auch langsam die Bezeichnung. Einige wenige wurden als Hofnarren und Fechtkünstler sesshaft. Allerdings traten nun neuere Typen auf. Jetzt sah man vermehrt Bänkelsänger, Alchimisten, Geisterbeschwörer, landfahrende Hausierer und Komödianten, denen das Schimpfwort Scharlatan angeheftet wurde.
Mit aller Vorsicht lässt sich sogar vertreten, dass die Fahrenden, zusammen mit Räubern, Verbannten u.ä., im 18. Jahrhundert mehr als 10% der Gesamtbevölkerung Deutschlands ausmachten.
Vaganten insbesondere
Der Begriff Vagant schließt Kriminalität (z.B. Diebstahl, Betrug) ein, auch ist die Grenze zum Landraub und zur Bandenbildung mit Schwerkriminalität (Raub, Raubmord, oft verbunden mit Brandstiftung) nicht klar zu ziehen.
So war das amtliche und allgemeine Misstrauen gegen sie groß. Der aufgegriffene Vagant erhielt keinen gültigen Pass im modernen Sinne, sondern eine Art Laufzettel, nach dem er auf dem kürzesten Wege seinen angegebenen Zielort oder seine Heimat aufsuchen musste. Bei mehrfacher Festnahme konnte er auch nicht mehr im erforderlichen Maße, sei es durch Bettel, Diebstahl oder gar Arbeit, für seinen Unterhalt sorgen und riskierte zudem als unverbesserlicher Landstreicher in ein Arbeitshaus gesteckt zu werden oder unter Umständen sogar einem Inquisitionsprozess, falls er sich irgend etwas hatte zuschulden kommen lassen.
Landstreicher insbesondere
Landstreicher ist ein veralteter Begriff für einen Nichtsesshaften. Unter dem Begriff versteht man eine Person, die ohne regelmäßige Arbeit unter ständigem Wechsel des Nachtquartiers umherzieht. Häufig verdienen Landstreicher ihren Lebensunterhalt durch Betteln um Almosen.
Vor einigen Jahrhunderten wurden Landstreicher teils verfolgt, teils mit milden Gaben unterstützt. In Deutschland wurden sie während der Zeit des Dritten Reiches zu den Asozialen gerechnet und in Konzentrationslagern inhaftiert und - zumal wenn es "Zigeuner" waren - ermordet.
Noch vor einigen Jahrzehnten konnten Landstreicher in der Bundesrepublik Deutschland mit einer Geldbuße von bis zu 500 DM oder mit einer Haftstrafe von bis zu sechs Wochen bestraft werden (§ 361 Ziff. 3 StGB).
In Österreich war außerdem die Stellung unter Polizeiaufsicht zulässig (Gesetze vom 10. Mai 1873 und 24. Mai 1885; aufgehoben mit Wirkung vom 1. Jänner 1975).
Bedeutung heute
Heute spricht man eher von nichtsesshaften Personen. Auch ist die oben erwähnte Negativassoziation mit dem Begriff nicht länger verbunden. Unter den Nichtsesshaften sind die größte Gruppe wohl die Roma, allerdings sind Viele dieser Volksgruppe längst sesshaft geworden. Daneben haben sich in Deutschland (v.a. im Alemannischen) das Rotwelsch, in Frankreich und in der Schweiz die Jenischen (jenische Sprache) und in Irland die Tinker entwickelt.
Die landwirtschaftlichen Wanderarbeiter der USA und anderer Länder könnten per definitionem auch dazu zählen, doch nicht einmal die saisonal wandernden landwirtschaftlichen Tagelöhner im Ost- und Mitteleuropa des 19. Jht. wurden dazu gerechnet. Auch Handelsvertreter (z. B. "Pharmareferenten") sind kein "Fahrendes Volk", sondern werden zu den "Reisenden" gezählt. Überhaupt sind zeitgenössische Formen horizontaler sozialer Mobilität nicht mehr darunter zu rechnen, trotz struktureller Ähnlichkeiten und der Ausbildung eigener Subkulturen), wie z.B. Fernfahrer, Ensembles von Wanderbühnen oder gewerbsmäßige Schlepper.
Belletristik
Figuren aus dem Fahrenden Volk erscheinen in zahlreichen Romanen, Erzählungen, Gedichten seit Grimmelshausen; einen guten Querschnitt durch die hoch unterschiedlichen Berufsgruppen im 19. Jahrhundert gibt Karl von Holteis Roman Die Vagabunden (vier Bände, 1852).
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