Reform der deutschen Rechtschreibung von 1996/Pro und Kontra
Dieser Artikel ist seiner Länge wegen aus dem Artikel Reform der deutschen Rechtschreibung von 1996 ausgelagert; er resümiert die Argumente, die in der öffentlichen Debatte für und gegen die Rechtschreibreform angeführt wurden.
Den Regeln der Wikipedia entsprechend, ist dieser Artikel nicht als Diskussionsforum gedacht. Es sollen vielmehr die wesentlichen Argumente einer über viele Jahre geführten öffentlichen Diskussion in möglichst kompakter und nüchterner Weise übersichtlich dargestellt werden.
Zum Inhalt der Reform, also den einzelnen Neuregelungen der deutschen Rechtschreibung, siehe Reform der deutschen Rechtschreibung von 1996. Zum Zustandekommen der Reform, zur Chronologie der öffentlichen Auseinandersetzung, zum Stand der Umsetzung und zu Plänen einer Reform der Reform, siehe Geschichte der deutschen Rechtschreibung.
Zu Ziel und Zweck der Reform
Vereinfachung des Schreibenlernens
Erklärtes Ziel der Rechtschreibreform war, das Schreiben und das Schreibenlernen zu erleichtern. Einige Regeln der alten Rechtschreibung seien so kompliziert gewesen, dass sie selbst von gut ausgebildeten Schreibern nicht sicher beherrscht würden.
Dagegen wird eingewandt, dass die allermeisten Bürger erheblich mehr lesen als schreiben. Bequeme Lesbarkeit sei also wesentlich wichtiger als erleichterte Schreibbarkeit.
Aufbrechen des Dudenmonopols
Sprachwissenschaftler, auch in der Dudenredaktion selbst, waren unglücklich über die 1955 erfolgte Beauftragung der Dudenredaktion mit der Regelung von Zweifelsfällen der deutschen Rechschreibung (siehe Geschichte der deutschen Rechtschreibung: Reform von 1996).
Der derzeitige Vorsitzende der Zwischenstaatlichen Kommission, Karl Blüml, äußerte 1996: "Das Ziel der Reform waren gar nicht die Neuerungen. Das Ziel war, die Rechtschreibregelung aus der Kompetenz eines deutschen Privatverlags in die staatliche Kompetenz zurückzuholen" [Süddeutsche Zeitung vom 29.1.2004].
Zum Zustandekommen der Reform
Kritiker werfen der Kultusministerkonferenz vor, dass die Zusammensetzung der Kommission der Sache nicht dienlich gewesen sei, indem ihr zahlreiche Fachleute angehörten, die in ihrem Fach für isolierte und ungewöhnliche Meinungen bekannt sind. Anfang 2003 wurde in der Süddeutschen Zeitung darauf hingewiesen, dass einige Mitglieder der Kommission ein wirtschaftliches Interesse an der Rechtschreibreform hatten.
Zudem habe sich die Politik zu eilig dazu hinreißen lassen, weil der Bertelsmann-Verlag bereits dadurch Tatsachen geschaffen hatte, dass er bereits vor der Unterzeichnung des Wiener Abkommens die Auflage fertig gedruckt hatte. Außerdem habe die Politik die Zusage gebrochen, dass die Reform zurückgenommen werde, sobald in einem Bundesland die Rechtschreibreform per Volksentscheid gekippt würde.
Argumente gegen jede Rechtschreibreform
Kulturelle Kontinuität: jede Rechtschreibreform schafft - zusätzlich zum Zahn der Zeit und nicht derselben Weise - Distanz zwischen uns und unserem kulturellem Erbe: alte Bücher werden der mit der Rechtschreibreform aufgewachsenen Generation noch älter erscheinen, als sie es aus stilistischen und inhaltlichen Gründen tun, weil auch die Schreibweise antiquiert erscheinen wird. Neuauflagen in neuer Rechtschreibung lösen dieses Problem, schaffen dabei aber ein neues, größeres, wenn Ausdrucksnuancen verändert werden.
Biographische Kontinuität: eine Rechtschreibreform bedeutet einen Eingriff in die Beziehung eines Lesers zu seiner Sprache. Der Schriftsteller Reiner Kunze spricht von der Aura der Wörter:
- Das Wort besitzt eine Aura, die aus seinem Schriftbild, seinem Klang und den Assoziationen besteht, die es in uns hervorruft, und je wichtiger und gebräuchlicher ein Wort ist, desto intensiver und prägender ist diese Aura. Wer sie zerstört, zerstört etwas in uns, er tastet den Fundus unseres Unbewußten an. Wird man also ständig mit Wörtern konfrontiert, deren Aura zerstört ist, weil sie zerschnitten sind (»weit gehend« statt »weitgehend«), weil sie so, wie sie jetzt geschrieben werden, anders klingen (»Anders Denkende« statt »Andersdenkende«) oder weil man ihnen eine Packung von drei »s« verpaßt und ihnen dann eine Spreizstange eingezogen hat (»Fluss-Senke«), dann ist die Wahrnehmung dieser Zerstörung jedesmal ein Mikrotrauma, eine winzige psychische Läsion, was auf die Dauer entweder zu Sprachdesensibilisierung, Abstumpfung und Resignation oder zu zunehmend unfreundlicheren Gefühlen denen gegenüber führt, die das alles ohne Not verursacht haben.
In ähnlichem Sinne äußerten sich schon Wittgenstein und Grillparzer zu früheren Rechtschreibreformen.
Ästhetische Argumente: Eine alte Schreibweise sei schlicht und einfach schöner gewesen als eine neue. Dieses Argument wurde 1901 gegen den Wegfall des h in Athem und Heimath angeführt; 1996 richtete es sich vor allem gegen die ss-ß-Neuregelung, gegen Dreifachbuchstaben und gegen einzelne Änderungen von e in ä.
Zu einzelnen Regelungen: Laute und Buchstaben
Die Änderungen in der Beziehung zwischen Lauten und Buchstaben haben von allen Teilen der Rechtschreibreform die augenfälligste Auswirkung auf das Schriftbild.
Gegen die neuen Regeln zur Konsonatenverdoppelung (ss statt ß nach kurzen Vokalen, keine Ausnahmeregeln mehr bei Dreifachbuchstaben) wurden im wesentlichen nur Argumente vorgebracht, die gegen jede Rechtschreibreform eingewandt werden können (siehe oben). Handwerklich scheint dieser Teil der Reform gelungen; die neuen Regeln sind schlüssig und einfacher als die alten.
Heftige Proteste gab es gegen die Änderung von e in ä in einzelnen Wörtern. Diese Änderung soll das Stammprinzips verstärken und damit Schreibweisen ableitbar machen. Der Protest richtet sich insbesondere gegen Fälle, in denen eine Volksethymologie legitimiert (oder durch die Reform erst suggeriert) wird (belämmert zu Lamm, schnäuzen zu Schnauze). Befürworter entgegnen, dass es für die Erlernbarkeit irrelevant ist, ob die Schreibweise auf historisch korrekter Ethymologie beruht.
Weiterhin wird gegen die Änderung von e in ä argumentiert, dass in einigen Fällen die Unterscheidbarkeit eines Wortpaars aufgehoben wird: aufwendig von Aufwand gegenüber aufwändig für auf der Wand, greulich von grausam zur Unterscheidung von gräulich von grau.
Zu einzelnen Regelungen: Fremdwörter
Zu einzelnen Regelungen: Groß- und Kleinschreibung
Contra
Nach den neuen Regeln mußte leid tun (Mitleid empfinden) als Leid tun (jemandem ein Leid zufügen) geschrieben werden. Obwohl inzwischen die alte Schreibweise wieder erlaubt ist (neben einem zusätzlichen neuen leidtun, wo mal wieder Schreib- und Sprechweise nicht mehr übereinstimmen), bleibt die doppeldeutige "neue" Schreibweise gültig.
Zu einzelnen Regelungen: Getrennt- und Zusammenschreibung
Contra
Dieser Punkt hat wohl die meiste Kritik auf sich gezogen.
Nach den neuen Regeln werden zahlreiche ehemals zusammengesetzte Wörter auseinander geschrieben. Das kann in vielen Fällen, wo das zusammengesetzte Wort eine leicht andere Bedeutung als die getrennte Schreibweise, zu Verwirrung oder gar Missverständnissen führen: Mancher Schüler wäre froh, wenn Sitzenbleiben (nicht versetzt werden) auch inhaltlich durch sitzen bleiben ersetzt würde. Badengehen (einen Misserfolg haben) ist etwas völlig anderes als baden gehen (schwimmen gehen) und es ist auch zweifelhaft, ob es mit der Menschenwürde vereinbar ist, einen Schwerbeschädigten als schwer beschädigt zu bezeichnen. Es kann nicht einmal mehr die Frage formuliert werden, ob sich die Sprache durch die Rechtschreibreform weiter entwickelt (andauernde Entwicklung) oder weiterentwickelt (Fortschritt).
Richtig interessant wird das, wenn ein Wort durch Auseinanderschreibung nicht nur eine abweichende, sondern entgegengesetzte Bedeutung bekommt, z. B. schöngefärbt contra schön gefärbt. Dieses Problem kann die Rechtschreibreform nicht lösen, sodaß bestimmte Dinge im Endeffekt nicht mehr gesagt werden können.
Außerdem wird die Möglichkeit zur leichten Neubildung von Wörtern, was traditionell eine der typischen und mächtigsten Eigenschaften der deutschen Sprache ist, abgeschafft. Etwas anspruchsvollere Texte, die konsequent die neuen Regeln zur Auseinanderschreibung ausnutzen, sind wegen ihrer spürbar schwereren Verständlichkeit fast unlesbar.
Neben diesen schriftsprachlichen Problemen wird auch hier der direkte Zusammenhang zwischen Schriftsprache und gesprochener Sprache zerstört, da man bei Auseinanderschreibung normalerweise eine kleine Pause zwischen den Wörtern macht.
Re
Ob sitzen blieben nun im Sinne von auf seinen vier Buchstaben verweilen oder nicht versetzt werden gebraucht wird, ist auch aus dem Kontext erkennbar. Schließlich versteht man sitzen bleiben auch, wenn es in der gesprochenen Sprache vorkommt, da man hier ja keine Unterscheidung durch die Schreibung erreicht.
Contra 2
Das beweist indirekt, dass das obige Contra-Argument gültig ist, denn die rechtschreibreformierte Fassung ist nur noch aus einem Kontext verständlich, nicht mehr als Einzelsatz, hat also einen niedrigeren Informationsgehalt als ein Satz in traditioneller Schreibweise. Der Verweis auf die mündliche Sprache hilft da nichts, da es durchaus Unterschiede zwischen mündlicher und schriftlicher Sprache gibt, z. B. Betonung und Länge von Pausen.
Falls 62.155.255.21 dieses Argument akzeptiert, bitte ich ihn/sie, das Gegenargument zusammen mit diesem Absatz auf die Diskussionsseite zu verschieben, möglichst mit einer Kopie des ursprünglichen "Contra". Falls längere Zeit überhaupt nichts passiert, werde ich das wohl machen. Mh 19:09, 15. Feb 2004 (CET)
Zu einzelnen Regelungen: Schreibung mit Bindestrich
Pro
In diesem Punkt ist der Anspruch der Reform, die "Regelung der deutschen Rechtschreibung den heutigen Erfordernissen anzupassen", vergleichsweise leicht nachvollziehbar: die zunehmende Komplexität der heutigen Lebensverhältnisse bringt immer neue, oft mehrgliedrig zusammengesetzte Wörter mit sich. Die Möglichkeit, zusammengesetzte Wörter mit einem Bindestrich in Sinn-Einheiten zu gliedern, kann bei vernünftigem Gebrauch das Lesen erleichtern; sie bereichert die Ausdrucksmöglichkeiten unserer Schriftsprache.
Contra
Auch in diesem Punkt wurde die einheitliche Rechtschreibung zerstört.
Zu einzelnen Regelungen: Zeichensetzung
Zu einzelnen Regelungen: Worttrennung
Weiterführende Informationen
Literatur contra
- Reiner Kunze u.a.: Deutsch – eine Sprache wird beschädigt, Oreos Verlag 2003, ISBN 3923657749
Weblinks contra
- http://www.rechtschreibreform.com/ – Homepage der Inititive "WIR gegen die Rechtschreibreform"
- http://forschungsgruppe.free.fr/laie.htm Theodor Ickler: Rezension zu: Der erfundene Laie. Ein Wortfamilienwörterbuch von Gerhard Augst.
- http://forschungsgruppe.free.fr/sprachfuehrer.htm Hanno Birken-Bertsch und Reinhard Markner: Sprachführer. Über den Sonderweg der deutschen Rechtschreibreformer.