Spracherwerb
Spracherwerb ist ein Forschungsgegenstand der Linguistik und der Entwicklungspsychologie. Zwei Gebiete werden erforscht:
- Der Prozess, mit dem Kleinkinder eine erste Sprache ("Muttersprache") oder mehrere Erstsprachen parallel erwerben: Erstspracherwerb
- Der Prozess, mit dem ältere Kinder und Erwachsene eine Fremdsprache - außerhalb des Landes, in dem sie gesprochen wird, in der Schule - erlernen:
- Der Prozess, in dem ungesteuert eine Zweit- oder Drittsprache in natürlichen Umgebungen, im Land, in dem sie heimisch sind, erworben wird (z.B. von Migranten): Zweitspracherwerb
Spracherwerb bei Kindern
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurden materialreiche Datensammlungen und Beschreibungen von Kindersprache gemacht (wichtiger Klassiker: Clara und William Stern 1928). Gegenwärtig existieren verschiedene Theorien zum Spracherwerb bei Kindern:
Nativismus
wichtigster Vertreter: Noam Chomsky
Der Nativismus geht davon aus, dass Sprache sich aus angeborenen, universellen sprachlichen Kategorien entwickelt, d.h. jeder Mensch bringt eine genetische Ausstattung zum Spracherwerb mit. Diese so genannte Universalgrammatik beinhaltet Prinzipien, die dann beim Erwerb einer Einzelsprache durch das kleine Kind parametrisch festgelegt werden (z.B. ob in der zu erwerbenden Sprache ein pronominals Subjekt realisiert werden muss (Deutsch) oder nicht (Italienisch). Einen "Sprachinstinkt" nimmt Steven Pinker an. Bislang ist nur ein für die Artikulation zuständiges Sprachgen ("FoxP2") gefunden worden.
Behaviorismus
wichtigster Vertreter: Burrhus Frederic Skinner
Skinner bestreitet angeborene Denk- und Verhaltensschemata; nach ihm ist nur der universale Lernmechanismus vererbt. So funktioniert Spracherwerb durch operante Konditionierung. Kinder lernen Sprache durch die Imitation Erwachsener, welche die Nachahmung belohnen und somit verstärken. Spracherwerb ist folglich erlernte Reaktion auf äußere Reize /Faktoren (Stimulus-Response, durch Lob verstärkt).
Dem behavioristischen Ansatz wurde durch Chomsky (Nativist) im Wesentlichen der Todesstoß versetzt, indem er fragte: Wie kommt es, dass Kinder Sätze bilden können, die sie noch nie gehört haben?
Kognitivismus und Konstruktivismus
wichtigster Vertreter des Kognitivismus: Jean Piaget
Im Rahmen des Kognitivismus wird versucht, die Entwicklung der Intelligenz als stufenweise Weltkonstruktion zu beschreiben. Spracherwerb wird verstanden als eine besondere Art des geistigen Lernens auf der Grundlage der Symbolfunktion. Piaget ist der Meinung, dass Sprache ein Moment der Gesamtentwicklung beim Kind ist (wie Denken, Handeln, Urteilen, etc.), das sich nicht isoliert für sich betrachten lasse, sondern immer in Auseinandersetzung mit der Welt und mit dem Weltbild des Kindes gesehen werden müsse. Dabei gehe das Denken der Sprache voraus. Die Kognition kann im symbolischen Gefüge der Sprache Ausdruck finden. Lew Wygotski hat den Sprach- und Begriffserwerb gesellschaftlich verankert und gezeigt, wie aus der "egozentrischen Sprache " (Piaget) des kleinen Kindes die Denksprache wird. Der modernen Hirnforschung entspricht die Vorstellung der Konstruktion eines Netzwerks gut.
Interaktionismus und Pragmatik
Wichtige Vertreter sind Jerome Bruner, Catherine Snow und Michael Tomasello, der von der Primatenforschung kommt.
Spracherwerb wird in dieser Theorie auf die Interaktion zwischen Eltern und Kind begründet. Bezugspersonen entwickeln ein Supportsystem, mit dem sie den Spracherwerb in relevanten Situationen stützen (z.B. beim Versteckspiel den Zugang zu Dingen und sie bezeichnenden Ausdrücken).
Im Konstruktivismus baut sich die Sprachkompetenz auf der Basis von Datenextraktion auf. Michael Tomasello sieht die Sprachgenese im Kontext kultureller Entwicklung. Wesentlicher Aspekt ist dabei, dass menschliche Partner ein Handlungssystem und ihre Intentionen teilen können "Shared Intentions" sind eine Grundlage für das spezifisch menschliche Sprachverhalten.
Mehrsprachiger Spracherwerb bei Kindern
wichtigste Vertreterin: Els Oksaar
Ein besonderer Zweig der Spracherwerbsforschung gilt den Kindern, die mit mehreren Muttersprachen gleichzeitig aufwachsen. Das kann durch verschiedensprachige Elternteile und/oder durch Unterschied zwischen der Sprache zuhause und in Schule/Kindergarten entstehen. In den Industrieländern werden die meisten Kinder einsprachig erzogen; da hier auch der Schwerpunkt der Forschung liegt, wurde die Mehrsprachigkeit bei Kindern lange vernachlässigt. Global haben aber bis zu 70% aller Menschen zwei Muttersprachen.
Els Oksaar hat gezeigt, dass die Erziehung in zwei oder noch mehr Muttersprachen nicht, wie volkstümlich oft angenommen, die sprachliche Entwicklung des Kindes behindert ("dann kann es keine richtig"), sondern dass alle bis zum Alter von sechs Jahren erlernten Sprachen zu einer Muttersprache werden, unabhängig davon, wieviel "Konkurrenzsprachen" das Gehirn gleichzeitig lernen muss.
Literatur
- J.S. Bruner: Wie das Kind sprechen lernt. Bern 1987, Huber
- W. und J. Butzkamm: Wie Kinder sprechen lernen. Tübingen 1999, Francke
- N. Chomsky: Probleme sprachlichen Wissens. Weinheim 1988/1996, Beltz
- P. Fletcher/B. MacWhinney (Hrsg.): The Handbook of Child Language. Oxford 1995, Blackwell
- G. Klann-Delius: Spracherwerb. Stuttgart 1999, Metzler
- J. Piaget: Sprechen und Denken des Kindes. Düsseldorf 1923/1972, Schwann
- S. Pinker: Der Sprachinstinkt. München 1996, Kindler
- B.F. Skinner: Verbal Behavior. New York 1957, Appleton
- C./W. Stern: Die Kindersprache. Leipzig 1928, Barth
- M. Tomasello: Die kulturelle Entwicklung des menschlichen Denken. Frankfurt 2003, Suhrkamp
- M. Tomasello: Constructing a language. Cambridge 2003, Harvard University Press
- L.S. Wygotski: Denken und Sprechen, Frankfurt 1969, S. Fischer